Tag 1 (18.07.18): Von Raitschin zur Juchhöh
Start der Grenzgängertour 2018: gemeinsam mit Dors
Tag 1 (18.07.18): Von Raitschin zur Juchhöh
Km: 19 – 55
Nachts schlecht geschlafen, um drei Uhr aufgewacht und bis um 5 Uhr Schmerzen im linken Fuß gehabt. Da stellen sich mir Fragen, ob ich es schaffe und was ich mir hier antue.
Gutes Frühstück im Gasthaus Raitschin: Ei, frisches Obst, Cappuccino etc.
Gegen halb neun voll bepackt losgekommen, Fahrt nach Schwesendorf (Heimat von U., die wir am Vorabend kennengelernt haben).
Nach kurzer Fahrt gelangen wir zum Dreiländereck (tschechisch: Trojmezi) mit tschechischen Tafeln und Hoheitswappen, deutschem Fähnlein, das jemand in der Mitte kreisrund ausgeschnitten und an einen Baum geklemmt hat. Grenzsteine von 1844, mit einem nachgemalten D darauf. Geschichtsfälschung. Die tschechische Seite ist sehr gut mit Informationstafeln und Ähnlichem ausgestattet.
Wir entscheiden uns für die harte Tour: auf einem kleinen Steg über den Grenzbach und die Fahrräder über zwei Haine hinweg- bzw. durchgeschoben. Dort stoßen wir auf die DDR-KFZ-Sperre mit Betonteilen.
Dann unsere erste Fahrt auf dem ehemaligen Kolonnenweg, alles sehr holprig, es macht sich bezahlt, dass wir Trekkingräder mit breiten Reifen haben. Dazu habe ich auch noch eine gute Federgabel vorn und unter ein Federparallelogramm unter dem Sattel.
Nach ca. einer Stunde Ende Gelände: das Gras ist so hoch, dass es sich in der Kettenschaltung meines Fahrrads festsetzt und an ein Weiterfahren nicht mehr zu denken ist. Mit vereinten Kräften befreien wir die Zahnritzel von den Gräsern. Dann über das gerade abgeerntete Feld kilometerweit holpernd weiter Richtung Posseck, einem ehemaligen Grenzort.
An einer Gasstation treffen wir auf zwei Monteure, die sich in der Mittagspause ein bisschen sonnen. Sie berichten von ihren Erfahrungen aus dem November 1989. Sie fuhren mit dem Trabbi nach Hof, dort war alles verstopft. Sie haben sich die Nasen platt gedrückt an den Schaufenstern. Heute gäbe es keine großen Unterschiede mehr zwischen Bayern und Sachsen, Fachkräfte werden überall gesucht, im Vogtland gibt es anscheinend nur 6 Prozent Arbeitslosigkeit.
Nach vorherigen Erfahrungen mit dem Kolonnenweg folgen wir ab Posseck meist den Landstraßen der Grenztour 3. Es geht durch kleine Orte, wir treffen auf freundliche Leute, die Antwort geben, wenn man nach dem Weg fragt.
Aber so langsam wird es anstrengend. Schöne Pause auf einer Bank am Waldrand mit Blick auf eine schöne Kirche (St. Clara, Heinersgrün). Danach wird es richtig schön proppenheiß, aber der Akku bringt den E-Motor in Schwung und wir kommen gut die Hügel hoch.
Über Münchenreuth nach Mödlareuth, dem ehemals zweigeteilten Ort, der Vorbild für die ZDF-Serie „Tannbach“ war: Gespräch mit einem ehemaligen Grenzsoldaten, der 1964 ein paar Monate Dienst bei den DDR-Grenztruppen abgeleistet hat. Alles sei relativ easy gewesen. Es habe sogar Kontakte zwischen West und Ost gegeben. Eine West-Frau, die Bierflaschen trug, wurde von DDR-Grenzern angesprochen, sie solle doch mal paar Bier rüber bringen. Die Flaschen seien doch leer, antwortete sie. „Dann bring uns nachher auf dem Rückweg doch ein paar volle mit.“ Gesagt, getan. Kein Problem.
Später ergibt sich eine Diskussion mit einer Frau auf dem Museumsgelände. Die Entwicklung und die Ereignisse nach der Wende beschämen sie. Zuerst fand sie Arbeit in Backnang, weil die eigene Lederfabrik in Hirschberg stillgelegt worden war. Nach zwei Jahren im Westen war allerdings in Backnang auch Schluss. Viele Leute wussten, wie es im Westen aussah, aber sie hätten sich blenden lassen. Damals hätten sie geschimpft und heute wieder. „Anderseits: die Politiker hören ja nicht auf uns!“ Sie hat große Zweifel, wenn sie betrachtet, wie der NSU-Prozess verläuft.
In der Gaststätte Grenzgänger auf der thüringischen Seite genießen wir schönen Kuchen und Radler. Dors ist froh, dass er seinen, sorry!, den Akku seines Fahrrades aufladen kann.
Beim Besuch des Museums auf der bayrischen Seite sehen wir eine Filmdoku und viele alte Fahrzeuge, die beiderseits der Grenze zum Einsatz kamen. Eine Freianlage mit Mauer und Grenztürmen sowie dem Sperrzaun haben wir vorher auf der DDR-Seite besichtigt.
Gegen Ende des Nachmittags geht es weiter zum Gasthaus Juchhöh: Dort finden wir freundlichen Empfang durch die Wirtsleute. Beim Unterstellen der Fahrräder gibt es einen ersten Austausch: Er habe kein Mitleid mit den Leuten, die an der Grenze umgekommen sind. Alle zweihundert Meter hätten ja entsprechende Warnschilder gestanden!
Wir erhalten zwei einfache Zimmer und zum Abendbrot je zwei Stramme Maxe, obwohl eigentlich die Küche geschlossen ist.
Unser Gasthaus war faktisch das Freizeitzentrum für die NVA-Reservisten, die in der Nachbarschaft in einer öden Kaserne untergebracht waren. Der Wirt war auch eine Zeit lang im Einsatz dort und konnte offenbar den nachfolgenden Jahrgängen in seiner Kneipe in den dienstfreien Stunden attraktive Zerstreuung bieten. Die holprig gereimten Gruß-Devotionalien ganzer Kompanien an den Wänden bezeugen dies.
Im Zimmer erst mal Wäsche gewaschen. Einfach, aber sauber. Schwertransporter und große Laster schwirren im Affentempo am Haus und meinem Fenster vorbei. Starke Geräuschbelästigung. Schlimmer als auf einem Autobahnparkplatz. Egal, um kurz vor zehn geht es in das Bett. Total kaputt.