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GRENZGÄNGER TOUR 2018

Eine lebensgeschichtliche Reise von Ost nach West und zurück

Anreise (17.07.18): Von Hof nach Raitschin

Km: 1- 19

  • Fahrt mit PKW (Dors) von Karlsruhe nach Hof
  • Zwischenstopp bei der Autobahnkirche Himmelkron, Christophorus: sehr moderner Bau. Einige Kerzen für eine sichere Reise angezündet. Beeindruckender moderner Kirchenbau.
  • Einkehr im Hotel Opel: Leberknödelsuppe und Pfirsichmaracuja-Torte, schmeckte alles nicht besonders.
  • Hof, Bahnhofstraße: Auto abgestellt, Fahrräder gerüstet und gepackt
  • Freundlicher, älterer Herr fragt nach, wohin wir wollen, und erklärt uns den Weg zum Restaurant Eisteich
  • Unterwegs erneut Hilfe durch fahrradfahrendes Rentnerpaar
  • Fotos vor der Gaststätte Eisteich, Gründungsversammlung des Grünen Bandes (Dezember 1989)
  • Fahrt mit den E-Bikes entlang der Saale und über Landstraße nach Regnitzlosau, Ortsteil Raitschin in den Gasthof Raitschin. Ein Glück, dass wir E-Bikes haben. Dors: „Das hätte ich noch mit einem guten Rad gepackt, auch ohne eine ‚Elektroschlampe‘ zu sein.“
  • Gasthof Raitschin: sehr nette und informative Unterhaltung mit U., einer stattlichen Dame, die sich mit ihrem Mann und einem weiteren Gast zu uns an den großen Tisch gesetzt hat, geboren in Schwesendorf, wenige Kilometer von Raitschin entfernt.
  • U., 72, war Goldmalerin in der Porzellan-Industrie bei Hutschenreuther in Selb. Sie hat sich als erste Frau in den sechziger Jahren in einem traditionellen Männerberuf  behauptet. Sie spricht über ihre Hochachtung vor dem Hand- und Kunsthandwerk in Tschechien. Sie war aktiv in der Gewerkschaft als Betriebsrätin und später in der AWO-Altenbetreuung, ein sehr sozialer und kommunikativer Mensch. Ihr Mann, 78, blieb recht still. Zusammen mit dem weiteren Gast entwickelt sich eine Diskussion zwischen Generationen, gefördert durch Williams-Christ-Birnen-Schnaps.
  • U. und ihr Mann wohnen wenige Kilometer vom Dreiländereck, wo sie als Kind in einer teichähnlichen Ausbuchtung der Saale schwimmen gelernt hat.
  • Sie spricht viel über ihre Familiengeschichte ohne Vater.
  • U. bescheinigt den Sachsen und Bayern heute ein gutes Verhältnis. Heiraten zwischen Ost und West seien völlig normal und Zugezogene würden gut integriert.

Start der Grenzgängertour 2018: gemeinsam mit Dors

Mödlareuth (little Berlin): auf der Ostseite

Tag 1 (18.07.18): Von Raitschin zur Juchhöh

Km: 19 – 55

Nachts schlecht geschlafen, um drei Uhr aufgewacht und bis um 5 Uhr Schmerzen im linken Fuß gehabt. Da stellen sich mir Fragen, ob ich es schaffe und was ich mir hier antue.

Gutes Frühstück im Gasthaus Raitschin: Ei, frisches Obst, Cappuccino etc.

Gegen halb neun voll bepackt losgekommen, Fahrt nach Schwesendorf (Heimat von U., die wir am Vorabend kennengelernt haben).

Nach kurzer Fahrt gelangen wir zum Dreiländereck mit tschechischen Tafeln und Hoheitswappen, deutschem Fähnlein, das jemand in der Mitte kreisrund ausgeschnitten und  an einen Baum geklemmt hat. Grenzsteine von 1844, mit einem nachgemalten D darauf. Geschichtsfälschung. Die tschechische Seite ist sehr gut mit Informationstafeln und Ähnlichem ausgestattet.

Wir entscheiden uns für die harte Tour: auf einem kleinen Steg über den Grenzbach und die Fahrräder über zwei Haine hinweg- bzw. durchgeschoben. Dort stoßen wir auf die DDR-KFZ-Sperre mit Betonteilen.

Dann unsere erste Fahrt auf dem ehemaligen Kolonnenweg, alles sehr holprig, es macht sich bezahlt, dass wir Trekkingräder mit breiten Reifen haben. Dazu habe ich auch noch eine gute Federgabel vorn und unter ein Federparallelogramm unter dem Sattel.

Nach ca. einer Stunde Ende Gelände: das Gras ist so hoch, dass es sich in der Kettenschaltung meines Fahrrads festsetzt und an ein Weiterfahren nicht mehr zu denken ist. Mit vereinten Kräften befreien wir die Zahnritzel von den Gräsern. Dann über das gerade abgeerntete Feld kilometerweit holpernd weiter Richtung Posseck, einem ehemaligen Grenzort.

An einer Gasstation treffen wir auf zwei Monteure, die sich in der Mittagspause ein bisschen sonnen. Sie berichten von ihren Erfahrungen aus dem November 1989, sie fuhren mit dem Trabbi nach Hof, dort war alles verstopft. Sie haben sich die Nasen platt gedrückt an den Schaufenstern. Heute gebe es keine großen Unterschiede zwischen Bayern und Sachsen, Fachkräfte werden überall gesucht, im Vogtland gebe es auch nur 6 Prozent Arbeitslosigkeit.

Nach vorherigen Erfahrungen mit dem Kolonnenweg folgen wir ab Posseck meist den Landstraßen der Grenztour 3. Es geht durch kleine Orte, treffen auf freundliche Leute, die Antwort geben, wenn man nach dem Weg fragt.

Aber so langsam wird es anstrengend. Schöne Pause auf einer Bank am Waldrand mit Blick auf eine schöne Kirche (St. Clara, Heinersgrün). Danach wird es richtig schön proppenheiß, aber der Akku bringt den E-Motor in Schwung und wir kommen gut die Hügel hoch.

Über Münchenreuth nach Mödlareuth, dem ehemals zweigeteilten Ort, der Vorbild für die ZDF-Serie „Tannbach“ war: Gespräch mit einem ehemaligen Grenzsoldaten, der 1964 ein paar Monate Dienst bei den DDR-Grenztruppen abgeleistet hat. Alles relativ easy. Es gab sogar Kontakte zwischen West und Ost. Eine West-Frau, die Bierflaschen trägt,  wurde von DDR-Grenzern angesprochen, sie solle doch mal paar Bier rüber bringen. Die Flaschen seien doch leer. „Dann bring uns nachher auf dem Rückweg doch ein paar volle mit.“ Gesagt, getan. Kein Problem.

Wir erhalten einen ersten Hinweis auf den Wirt des Gasthauses Juchhöh, unserem Tagesziel, der zur damaligen Zeit ebenfalls bei den Grenztruppen war.

Später ergibt sich eine Diskussion mit einer Frau auf dem Museumsgelände. Die Entwicklung und die Ereignisse nach der Wende beschämen sie. Zuerst fand sie Arbeit in Backnang, weil die eigene Lederfabrik in Hirschberg stillgelegt worden war. Nach zwei Jahren im Westen war allerdings in Backnang auch Schluss. Viele Leute wussten, wie es im Westen aussah, aber sie hätten sich blenden lassen. Damals hätten sie geschimpft und heute wieder. „Anderseits: die Politiker hören ja nicht auf uns!“ Sie hat große Zweifel, wenn sie betrachtet, wie der NSU-Prozess verläuft.

In der Gaststätte Grenzgänger auf der thüringischen Seite genießen wir schönen Kuchen und Radler. Dors ist froh, dass er seinen, sorry!, den Akku seines Fahrrades aufladen kann.

Beim Besuch des Museums auf der bayrischen Seite sehen wir eine Filmdoku und viele alte Fahrzeuge, die beiderseits der Grenze zum Einsatz kamen. Eine Freianlage mit Mauer und Grenztürmen sowie dem Sperrzaun haben wir vorher auf der DDR-Seite besichtigt.

Gegen Ende des Nachmittags geht es weiter zum Gasthaus Juchhöh: Dort finden wir freundlichen Empfang durch Wirtspaar. Beim Unterstellen der Fahrräder gibt es einen ersten Austausch: er habe kein Mitleid mit den Leuten, die an der Grenze umgekommen sind. Alle zweihundert Meter hätten ja entsprechende Warnschilder gestanden!

Wir erhalten zwei einfache Zimmer und zum Abendbrot je zwei Stramme Maxe, obwohl eigentlich die Küche geschlossen ist.

Unser Gasthaus war faktisch das Freizeitzentrum für die NVA-Reservisten, die in der Nachbarschaft in einer öden Kaserne untergebracht waren. Der Wirt war auch eine Zeit lang im Einsatz dort und konnte offenbar den nachfolgenden Jahrgängen in seiner Kneipe in den dienstfreien Stunden attraktive Zerstreuung bieten. Die holprig gereimten Grußdevotionalien ganzer Kompanien an den Wänden bezeugen dies.

Im Zimmer erst mal Wäsche gewaschen. Einfach, aber sauber. Schwertransporter und große Laster schwirren im Affentempo am Haus und meinem Fenster vorbei. Starke Geräuschbelästigung. Schlimmer als auf einem Autobahnparkplatz.

Tag 2 (19.07.18):  Von Juchhöh bis Nordhalben

Km: 55 – 92

Die Nacht im Gasthaus Juchhöh habe ich besser geschlafen als die erste Nacht in Raitschin, trotz Schwerlasttransportern, die auf der Straße vorbeigebrettert sind.

Sehr gutes Frühstück von Opa H. und Oma. Fotoalbum eines ehemaligen Offiziers der DDR-Grenztruppen mit Fotos der Bauarbeiten des Autobahnübergangs 1985-1987. Hochtief hat mitgebaut. Die Grenzsoldaten waren gute Kunden und Gäste in der Gaststätte. Schön modernisierter Anbau mit Biergarten.

Start um 8.30 Uhr nach Hirschberg. Serpentinen mit vielen Kanalschächten. Genau wie zwischen Kassel und Landwerhagen. Erinnerung an meine BW-Zeit in Kassel. Habe damals keine Sicherheitsstufe bei der BW wegen der DDR-Verwandtschaft bekommen.

Hirschberg: ehemalige Lederwarenstadt. Fast das ganze Fabrikareal wurde nach 1990 platt gemacht. Nazikunst aus 1937 in Form von drei überlebensgroßen Arbeiterstatuen sind vor dem Museum ausgestellt.

Fahrt entlang der Saale an Schieferabbau vorbei. Landschaftlich sehr schön. Überquerung der Autobahn bei Rudolfstein, Weiterfahrt nach Pottiga. Gespräch mit einer älteren Frau: ehemalige Grenzer von Ost und West treffen sich alle 4 Wochen. Herr Oe. aus der BRD organisiere das.

Skywalk-Aussichtsplattform: Gespräch mit W. aus Naila. Sportlicher 80-Jähriger mit E-Mountainbike, früher in der Laufszene aktiv. Berlin Marathon. Erzählt von den 7 Zügen mit Flüchtlingen aus der Prager Botschaft (260 Menschen in einem Zug, 6 in jeder Toilette).

Danach ein etwas kürzeres Gespräch mit ehemaligem DDR-Bürger, der im November 1989 an den Demos teilgenommen hat. Mit Fahne, eher unpolitisch, aber Mielke und die anderen führenden DDR-Politiker hätte man an die Wand stellen sollen. Ein Freund floh in den Westen, ein halbes Jahr Haft in Chemnitz, danach Bautzen. Später freigekauft vom Westen. Lange Zeit vorher war er mal in einer Kneipe, als ein 15-Jähriger sagt, dass sie sich demnächst in München bei der Olympiade 1972 treffen würden. Danach musste er zur Stasi nach Plauen, wo man u.a. versuchte, ihn anzuwerben. Später wurde dann das Verfahren eingestellt.

Fahrt in Pottiga den steilen Berg hoch und dann hinunter nach Blankenstein. Unterwegs am alten DDR-Kino mit großer Deutschland-Fahne vorbei. Die Zeit ist stehen geblieben.

Blankenstein: Beginn des Rennsteigs. Dann den Berg hoch nach Schlegel, an der Wegespinne aber nach Seibitz ins nächste Tal, mit dem Ergebnis, dass wir Richtung Krötenmühle den Berg hochschieben müssen, durch Wiese und Wald bis an den Kolonnenweg und durch Matsch auf die Westseite zur Krötenmühle. Dort ein Schild mit klarem Hinweis: „Durchgang auf eigene Gefahr.“ Überall auch Hinweise auf Minen. Ein Mann kommt uns entgegen und weist uns darauf hin, dass wir uns auf Privatgelände befinden. Man kennt sich in der Gegend aber nicht so recht aus. Er kommt aus Stuttgart,  wohnt hier seit sechs Jahren. Ich sage nur: „Du bist also auch ein Flüchtling.“ – Er nickt.

Dann zurück, eine Stunde weiter auf dem Kolonnenweg Richtung Titschendorf, aber zur Sicherheit biegen wir nach einiger Zeit wieder ab auf die bayrische Landstraße. Tschin-Tschong-Tschang. Wieder Berg hoch nach Karlsgrün, freundliche Frau, die uns die Richtung  nach Langenbach zeigt. Eigentlich wollen wir noch bis Tettau kommen.

Langenbach: Die Sonne hat fürchterlich gebretzelt. 26 Grad im Schatten. Ich war fertig gegen drei Uhr und musste mich im Schatten erstmal ausruhen. Telefonisch bei Dietrich S.  in Tettau abgesagt.

Weiter! Kneipe oben links im Dorf: dort eine radebrechende Brasilianerin, die uns wegen Kuchen zur Bäckerei schickt. Die erweist sich allerdings als geschlossen. „Obrigado“ und ein Lächeln sind auf ihrem Gesicht zu sehen.

In Heinersberg keine Kneipe, aber ein Ausländer vom Balkan, der sein Auto mit Münchener Kennzeichen belädt, gibt uns sehr nett Auskunft. Die Population hat sich halt in den letzten 50 Jahren im Westen verändert. Auf thüringischer und sächsischer Seite gibt es keine Ausländer, höchstens aus München… Leute, die sich Haus und Grundstück gekauft haben.

In Nordhalben am Bahnhof im Tal steht ein Triebwagen wie früher zwischen Kassel und Hannoversch Münden. Erinnerung an die Schulzeit in den 60er Jahren. 10 Minuten, zweieinhalb mal Skat gespielt. Keine Smartphones und gar nichts.

Dors: „Hast du keinen Sprit mehr?“ Ich: „15 % Steigung schaffe ich nicht.“ Dann aber auf Turbo gestellt und den Berg hoch. Oben kaputt bei der Bäckerin angekommen. Stolz erzählt sie uns von den Aufnahmen zum Film „Der Ballon“ mit Regisseur Bully Herbig, der mit vielen Leuten vom Set in ihrem Kaffee verkehrte. Der Film erzählt die Geschichte über die Flucht zweier Familien aus der DDR, die mit einem Heißluftballon hinüber in den Westen geflohen sind. In den nächsten Tagen soll er in die Kinos kommen.

Wir finden Unterkunft in der Post in Nordhalben. Ich bin richtig kaputt und schlafe erst einmal ein. Dors weckt mich. Ein kaltes Bier und dann gegen Abend, als es etwas frischer wird, über Stock und Stein durch den Wald hinauf nach Titschendorf. Dort begegnen wir einem Mann, der gerade grillen will. Er gibt nette, zunächst recht knappe Antworten.

Später fängt er an zu erzählen: er war selbst DDR-Grenzer, 1967 bei den Grenztruppen in Titschendorf, das wie in einem fast zugebundenen Sack liegt, nach drei Seiten ringsum die BRD. Er berichtet von seiner Zeit bei der Armee. Ich bin auch 1967 beim Militär gewesen, allerdings bei der Bundeswehr. Er erzählt von der harten Grundausbildung, einem DDR-Grenztruppenoffizier, der mit dem System nicht mehr klar kam und geflohen ist. Bei dem Versuch, seine Familie nachzuholen, wurde er von den Grenztruppen festgenommen und verurteilt, 1960 dann in Leipzig geköpft. Wie mag es der Familie wohl gegangen sein? Eine Warnung für andere. Mein Gegenüber hat nach der Wende in Nordhalben in der Metzgerei gegenüber des Gasthauses Post 20 Jahre lang gearbeitet.

Danach in der Post: Es ist Schaschlik-Tag. Es schmeckt uns gut. Ein fränkischer Rotwein und eine Flasche Wasser dazu. Ausgleich des Flüssigkeitsverlusts. – Gespräch über Nürnberg, Clubberer und Arminia, mit einem Mann vom Nachbartisch jedoch auch über DDR-Geschichte. Geschichtsunterricht etc. (Thälmann: ja, Judenverfolgung: nein). Der 63-Jährige arbeitet bei der Bank und ist ein passionierter Fahrradfahrer. Würde gerne auch mal so eine Tour machen. Zum Thema Flüchtlinge: in seiner evangelischen Gemeinde schon viermal Kirchenasyl gewährt. „Menschlichkeit ist notwendig in den heutigen Zeiten. Die aktuelle Völkerwanderung werden wir eh nicht stoppen können.“

Ein anderer Mann, ursprünglich aus Cottbus (dem „Mittelpunkt des früheren deutschen Reiches“) hat 7 Jahre in der Nähe von Böblingen bei Stuttgart gearbeitet, ist aber auf Dauer mit der Mentalität der Schwaben nicht zurechtgekommen und dort immer ein Fremder geblieben. Deshalb ist er mit Frau und siebenjährigem Kind nach Nordhalben gezogen und hat ein Haus direkt neben der Gaststätte gekauft. „Preiswert im Verhältnis zu Stuttgart!“ Er gehe gerne auf Menschen zu, spricht auch von seinem Besuch beim Fanklub der Münchener Löwen. Dann folgt eine kontroverse und emotionale Diskussion zwischen den beiden Männern über die heutige Flüchtlingspolitik. Die SPD wolle den Kapitän eines Rettungsschiffes ehren. – Totales Unverständnis und Ablehnung.

Tag 3 (20.07.18):  Von Nordhalben nach Tettau

Km: 92 – 156

Im Gasthaus Zur Post gut geschlafen. Es war eine Wohltat. Obwohl es den Charme der 80er Jahre hatte, war es sehr ruhig. Am Morgen beobachte ich, wie sich eine ältere Frau aus Nordhalben mit einer Flüchtlingsmutter, die mit einem Kind mit ihr zusammen steht, unterhält und versucht, ihr zu erklären, was ein Info-Zettel bedeutet.
Sobald wir in den ‘Westen’ kommen, merken wir, dass in diesem ländlichen Raum die soziale Zusammensetzung offenbar anders ist als auf der Ost-Seite: es gibt Gastarbeiter und Flüchtlinge.

Wir fahren entlang der Erlebnisstraße der deutschen Einheit, genießen die kleinen Landstraßen mit mäßigen Steigungen, kommen an einer Kuhherde mit einem Bullen, der schwer an der Last seiner Hoden zu tragen hat, vorbei. So etwas sieht man bei uns nicht.

Kurz vor Lehesten gelangen wir zu einem auffälligen Denkmal: Der Altvater-Turm ist eine Wallfahrtsstätte der Vertriebenenverbände. Erika Steinbach ist auf den ausgehängten Fototafeln zu sehen. Auf mehreren Etagen wird an die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus dem Sudetenland, dem Erzgebirge, aus Schlesien und der Altvaterregion im heutigen Tschechien erinnert. Natürlich auch an die Gräueltaten, die an der deutschen Bevölkerung in den Jahren 1945-1947 begangen worden sind. Benesch-Dekrete. Allerdings kein einziges Wort über die Vorgeschichte und die Ursachen der Vertreibung, die Gräueltaten während der deutschen Besatzungszeit, vom Holocaust ganz zu schweigen. Ich denke an die rechtzeitige Flucht von Wilma Iggers und ihrer Familie aus Bischofteinitz / Horsovsky Tyn, an ihre Verwandten, die nicht emigrieren konnten und folglich umgekommen sind.

Gespräch mit einem ehemaligen Maurer über das Leben im Osten und Westen, früher und heute. Früher habe es mehr sozialen Zusammenhalt gegeben.

Durch einen Tannenwald geht es bergab. Der kleine Pfad ist mit Steinen und Wurzeln übersät. So lege ich mich zum ersten Mal mit dem Fahrrad hin. Ich stürze vom Rad, rolle gekonnt wie ein Stuntman ein paar Meter den Waldboden herunter – nichts passiert! Später macht Dors ein Video auf der Weiterfahrt.

In Lehesten kommen wir an dem Schiefersteinbruch vorbei. Dors ist wieder in seinem Element. Leider ist eine Führung erst um 14.00 Uhr möglich. Ich kaufe mir eine kleine Schiefertafel mit Schwamm und Lappen. Erinnerungen werden wach an die Einschulung 1956 in Röhrig.

In Steinbach an der Haide kommen wir an einem wunderschönen großen Blumengarten vorbei, den sich die Dorfbewohner teilen. Kießling hat ihn, glaube ich, beschrieben. Ich spreche mit einer älteren Dame. Die Nachbarin, eine Frau, die er in seinem Buch abbildet, gibt bei unserem Anblick Fersengeld.

Wir fahren runter bis zu einem Gebäudekomplex, durch die Küche ging damals genau die Grenze.  Ein rotes Auto steht auf der Veranda. Ein Gedenkstein erinnert an die Öffnung der Mauer.

Parallel zu Straße und Bahn auf Radwegen fahrend,  kommen wir nach Probstzella. Das Grenzmuseum im Bahnhof ist geschlossen, nur noch mittwochs sowie samstags und sonntags geöffnet. Ein Symbol für das nachlassende Interesse an der deutsch-deutschen Geschichte?

Dors erfährt von einem coolen Jugendlichen, dass das Haus des Volkes in Probstzella ein Hotel ist, aber dass er da wohl nicht reinkommen würde. Ein beeindruckendes Gebäude im Bauhausstil. Wir trinken Kaffee und essen verschiedene Sorten Kuchen. Noch geht es uns gut …

Nun treten wir gegen halb vier den Rest unserer Route nach Tettau zu Dietrich Schütze und seiner Frau Angelika an. Wir verpassen den Weg zur Burg Lauenstein und fahren von Lauenstein eine 13-prozentige Steigung 5 Kilometer weit rauf. Ich im Turbo. Dors schiebt mindestens den halben Weg. Er kommt in einem erbärmlichen Zustand auf der Bank mit der schönen Aussicht an. Mein Akku ist fast leer. Wir fahren bzw. schieben weiter. Im Wald bin ich total platt… Ich sag nur 5….

An der nächsten Weggabelung fahren wir in Richtung Thüringer Warte in der Hoffnung, die Gaststätte Zum Löwen zu finden. Aufladen! Es ist aber die verkehrte Richtung. Also zurück! Mit letzter Kraft, zum Glück geht es bergab, kommen wir auf einem modernen Gehöft bei Ebersdorf an, wo uns eine junge Bäuerin Strom-Asyl gewährt. Eine Stunde Zwischenstopp und viele Informationen über Viehwirtschaft. Die 14 Tage alten Kälbchen saugen an den Fingern. Das juckt fürchterlich! Ersatzmuttertier.

Es geht noch einmal für einige Kilometer 11 Prozent Steigung hoch, bis wir auf der Höhe sind. Ein Kreuz mit Stacheldraht. Daneben am Rennweg Hinweisschilder auf ein Gehöft, das sowohl zur DDR als auch zur BRD gehörte. Bewohner hatten wohl beide Ausweise. Irgendwann wurde es geschleift.

Über Klein-Tettau geht es nach Tettau, noch einmal 16 Prozent Steigung, allerdings nur 1,5 Kilometer, und wir sind endlich auf dem Wildberg 18 angelangt! Begrüßung durch Dietrich. Hier war ich mit Otto Buchholz, meinem leider viel zu früh verstorbenen Freund und Kollegen, im Jahre 1992 schon einmal, als wir von Eisenach den Rennsteig entlang gewandert sind.

Erinnerungen an gemeinsame Zeiten mit Otto. Die Gründe, weshalb Dietrich und Angelika sowie eine Reihe anderer alternativer, linker Aussteiger aus dem Rhein-Main-Gebiet 1976 hier in die Einöde, in die Wildnis gegangen sind, … – sehr spannend und beeindruckend. Natürlich fragen wir ihn auch noch den Ereignissen im November und Dezember 1989. Nähere Einzelheiten erfahren wir auch aus dem Brief an seine Geschwister, geschrieben im Dezember 1989, in dem er die großen Veränderungen detailliert und in beeindruckender Weise aus persönlicher Sicht beschreibt (http://www.wildberg-tettau.de/viewpage.php?page_id=14). Ein wirkliches Dokument der Wendezeit.

Am Abend haben wir dann im Anno Domino eine herrliche Pizza gegessen und ein sehr interessantes und differenziertes Gespräch mit Janine, der Bedienung, geführt. Sie ist in Lehesten geboren und im Alter von 7 Jahren mit ihrer Mutter hier nach Tettau gekommen. Bei den jungen Leuten gebe es keine Unterschiede. Kinder aus Tettau gehen in das thüringische Neustadt und nach Sonneberg in die weiterführenden Schulen und nicht nach Kronach.

Die Pizza war wohl doch zu fettig: mitten in der Nacht Sodbrennen.

Die Knochen tun weh, die Muskeln sind angespannt. Das war der härteste Tag bisher. Wir fahren zukünftig immer mit der Angst, dass der Akku nicht lang genug hält.

Tag 4 (21.07.18):  Von Tettau nach Sonneberg  

Km:  156 -192

Es muss schnell gehen. Ich hänge mit meinen Tagebuchaufzeichnungen hinterher – wie so oft im Leben. Zu viele Sachen gleichzeitig erledigen. Vollgestopft mit Erlebnissen und Eindrücken, körperlich abends so richtig schön ausgelaugt, dass es nur für ein Bier und ein kräftiges Essen reicht. Total ermattet falle ich ins Bett, das sich gerade mir anbietet.

Frühstück mit Dietrich Schütze, der aus seinem bewegtem  Leben erzählt, von den Anfängen der Kommune Wildberg in Tettau, der Zeit in Frankfurt im Revolutionären Kampf, von dem Leben in der Kommune, wechselnden, aber auch stabilen Beziehungen, die das ganze Leben bestehen und gegenseitigen Halt geben. Vor ein paar Monaten sind auch Beiträge über die Anfangszeit und Geschichte der Wildberg-Kommune erschienen, die der FOCUS nachgedruckt hat, so z. B.

Auch Revoluzzer werden älter: So erging es den Bewohnern, als sie aus der Kommune auszogen

https://www.focus.de/regional/bayern/kronach-auch-revoluzzer-werden-aelter-so-erging-es-den-bewohnern-als-sie-aus-der-kommune-auszogen_id_8792409.html

und

Sex’n’Drugs’n Rock and Roll in der Provinz? Als die Studenten auf dem Land Kommunen gründeten (20.04.2018) –

https://www.focus.de/regional/bayern/kronach-sexndrugsn-rock-and-roll-in-der-provinz-als-die-studenten-auf-dem-land-kommunen-gruendeten_id_8796564.html.

So werden die 70er und 80er Jahre im Frankenwald noch einmal lebendig.

Wir treffen am Morgen auch Angelika, seine Frau, die uns ihre mehr als dreißig gewebten Wandteppiche und ihren Webstuhl zeigt. Sie gibt mir einen Einblick in ihre Denk- und Arbeitsweise. Es entwickelt sich ein sehr persönliches Gespräch über unser beider Leben, die Erfahrungen der Kindheit und der Jugend. Sie überreicht mir ein Geschenk: ihren Gedichtsband ...ob es mir denn entgangen, dass ich geweint hab…(amicus verlag, 2010) mit einer sehr persönlichen Widmung und guten Wünsche für die weitere Reise. Ich bin berührt.

Dietrich führt uns im anderen Teil des riesigen Hauses durch die verschiedenen Räume, in denen sich viele seiner selbst gemauerten Kachelöfen befinden. Der untere Teil ist als Café vermietet und läuft anscheinend gut. Eine urige Atmosphäre. Erinnerungen an gemeinsame politische Theateraufführungen mit Otto Buchholz, der uns immer und immer wieder in unseren Gesprächen begleitet.

Dietrich hat zahlreiche zeitgenössische Dokumente gesammelt. Fotos aus den 70er Jahren. Zeitungsberichte von der Öffnung der Grenze. Wir sprechen über die Zeit vor 1989 (Probleme mit den US-Truppen, die durch den Hof fahren wollten, um die Grenze zu kontrollieren). Die Bewohner der Kommune haben kurzerhand mal Barrikaden aufgestellt. Auseinandersetzung mit den Ämtern und dem Bürgermeister. „Kein Wunder, dass wir manchmal einen auf die Fresse bekommen haben, so wie wir uns manchmal verhalten haben.“

Zum Abschied Fotos mit Dietrich und Angelika.

Der restliche Tag ist relativ schnell erzählt: Fahrt talabwärts zuerst durch den Wald, dann durch ein schönes Tal nach Pressig. Unterwegs eine alte NVA-Kaserne, die nun als Paint-Ball-Eldorado mit allerlei DDR-Militaria ausgerüstet ist. NVA-Fahne, die kopfüber aufgehängt ist. Ostalgie der Jugend?

Es regnet und regnet. Wir quälen uns den Berg nach Sonneberg hoch. Dors‘ Brille beschlägt und es wird so langsam auf der Straße gefährlich. Ich empfinde den Regen zunächst als Befreiung nach all den Tagen der Hitze. Wir kommen nach Sonneberg, eigentlich gießt es so, dass es Regeberg heißen müsste.

In einer Bäckereifiliale unterhalten wir uns sehr nett mit der Verkäuferin, die uns erstmal Kaffee, Bratwürste und Kuchen zur Verfügung stellt. „Wer Arbeit will, bekommt welche.“ Die Tochter hat BWL mit Schwerpunkt Personal studiert, in Bayern gearbeitet und freut sich jetzt nach der Babypause, dass sie im thüringischen Sonneberg in einem neuen Betrieb anfangen kann. Eine Frage der Mentalität !?

Wir entscheiden uns heute nach Km 192 insgesamt und nur knapp zwei Stunden Fahrzeit, schnell eine trockene Unterkunft zu besorgen, und beziehen kleine Einzelzimmer im Hotel zur Schönen Aussicht. Was schön sein soll beim Blick auf die befahrene Straße, ist mir schleierhaft. Beide verfallen wir in einen Art Komaschlaf und setzen uns am Nachmittag zusammen und versuchen – vergeblich – die von mir schon mal angefangenen Blogs bei VAKANTIO und JIMDO zum Laufen zu bringen.

Abends dann ein Rostbrätl in einer urigen Thüringer Kneipe. Denise, die sehr junge Bedienung, spricht uns mit Du an, Dors ist ein wenig pikiert, es erinnert ihn an seine Kindheit im Ruhrpott. Wir sprechen über mein ‘Du’, wenn ich hier während der Reise mit fremden Leuten, Männern, spreche.

Es folgen sehr persönliche Gespräche über die Siebziger Jahre, Beziehungen in der DDR und in Moskau….

Ergänzung: Hans Wenzel, Wissenschaftler aus Berlin, den ich in Moldawien kennengelernt habe, hat mir freundlicherweise noch ein E-Mail mit eigenen Erinnerungen geschickt. Er ist in Sonnenberg geboren und beschreibt auch das Schicksal seines Vater, Leiters der Sternwarte, nach der Wende. Ich zitiere mit seinem Einverständnis aus seiner E-Mail vom 16.08.18 an mich:

Ich bin in Sonneberg aufgewachsen (geboren 1960), wo noch immer mein Vater lebt. Ich kenne daher das dortige Grenzgebiet sehr gut, sowohl aus DDR-Zeiten (natürlich nur die Thüringer Seite) als auch danach…..Die Klöserei in Ketschenbach ist mir sehr gut bekannt! Es gibt auch in Sonneberg eine Ausgabestelle der Klöße….

Ich könnte viele Grenzerlebnisse berichten. Unvergessen sind für mich die Zugfahrten von Sonneberg nach Saalfeld über Probstzella mit der Dampflok entlang des Todesstreifens, begleitet von Hunden, welche an gespannten Stahlseilen entlang der Grenze liefen, und  die gefürchteten Ausweis-Kontrollen durch die „Trapo“ (Transportpolizei,  blaue Uniformen).
Die Hunde wurden übrigens nach der Wende an Privatpersonen in Ost und West vermittelt, wobei sie nicht immer ein besseres Leben als vorher hatten (meistens wahrscheinlich aber schon).

Mein Vater war wissenschaftlicher Leiter der Sternwarte Sonneberg-Neufang.
Obwohl selbst SED-Mitglied, wurde er von der Stasi überwacht und drangsaliert, weil der einige Entwicklungen in der DDR als überzeugter Kommunist ablehnte.

Leider musste die Sternwarte nach der Wende auf Empfehlung des Wissenschaftsrates die wissenschaftliche Arbeit fast vollständig einstellen, sodass mein Vater sich arbeitslos melden musste (später arbeitete er noch an einem DFG-Projekt mit, was ein Kollege aus einem Max-Planck-Institut für ihn beantragte).

Ein typischer Beispiel, dass im Osten nach der Wende viel ohne Sinn und Verstand platt gemacht wurde, aber auch von westdeutscher Solidarität.
Ich habe eine kurze Biographie meines Vater auf Wikipedia geschrieben:

https://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_Wenzel

Ein nicht ganz typisches ostdeutsches Wissenschaftlerleben.“

Vielen Dank an Hans Wenzel für diese Information und persönlichen Anmerkungen, die auch ein differenziertes Licht auf die Zeit nach 1989 werfen.

Tag 5 (22.07.18): Von Sonneberg nach Eisfeld  

Km: 184 – 222

Der Tag fängt mit Regen an, der Himmel weint: Dors will heute wieder Richtung Heimat. Vor der ‘Schönen Aussicht’ treffen sich die Sonneberger Mittdreißiger, eher wohl Mittvierziger, im durchgestylten Fahrrad-Outfit…Wenn die wüssten.

Nach dem Frühstück hilft mir Dors noch schnell den Computer bzw. ein paar Programme auf Vordermann zu bringen, damit das ganze Ding schneller läuft. Das Zimmer ist übersät mir Klamotten, die in die beiden Packtaschen und in die Vordertasche passen müssen, dazu noch Zelt, Isomatte und Kamera-Stativ. Vollgepackt wie ein Esel.

Schnell noch etwas Geld von der Sparkasse geholt. Im Osten wie im Westen Paläste. Die Kommunen haben es ja… Dann zum Bahnhof und Dors verabschiedet. Der Himmel weint, leise tropft es auf den Sattel. Eine syrische (?), junge Familie auf dem Bahnhof, also doch, es gibt sie auch hier im Osten, also doch noch keine ausländerfreien Zonen. Im Zug noch ein kurzes Interview mit Dors über seine bisherigen Eindrücke.

Im Regen durch Sonneberg, alles relativ gepflegt, kurz vor der Grenze Richtung Neustadt bei Coburg noch Gespräch mit zwei Arbeitern (sonntags), die an einer Waschanlage Ausbesserungsarbeiten durchführen. Sie kommen aus dem Westen und arbeiten im Osten. Wohl kein Einzelfall, wie sich in den nächsten Tagen herausstellen sollte. Der Marktkauf lässt in einiger Entfernung grüßen: „Subvention Ost“?

In Neustadt bei Coburg fällt mir als erstes der türkische Fußballverein auf, die Häuser machen einen nicht so gepflegten Eindruck wie im thüringischen Sonneberg. Einbildung, Vorurteil? Auf dem Marktplatz ein Gespräch mit einem ca. 55-jährigen Frührentner, der seinen kleinen Hund Gassi führt. „Schauen Sie sich doch mal den Marktplatz hier an! Nichts mehr los hier, alles runtergekommen.“ Berichtet von seinen Fahrten in den 70er und 80er Jahren zu den Verwandten in die Sperrzone, Treffen in Sonneberg. Die Stasi hört zu.

Tour de Neustadt, einmal im Kreis gefahren – das einzig Gute war, dass ich an der Kultgaststätte, die ich schon aus der Literatur kenne, Klößerei, vorbeikomme. Die Männer stehen in Schlangen vor dem Ausgabefenster und holen in ihren Kochtöpfen den sonntäglichen Braten und die Klöße. Reiner Zufall. Drinnen ist die Hölle los und ich bestelle mir eine Riesenportion Sauerbraten. Natürlich mit Klößen.

Mit vollem Magen geht es weiter: die Karte in Essers „Radtouren am Grünen Band“ lügt nicht. Einmal Neustadt b. Coburg Ortsumgehung. Schließlich finde ich mit Hilfe von Einheimischen raus aus dem Gewirr Richtung Eisfeld. Der nächste Berg wartet. Wie wird der Akku das heute schaffen?

Am Froschgrundsee ein nettes Ehepaar, fitte Radler im Rentenalter: „Nein, E-Bikes brauchen wir noch nicht.“ Sie wünschen mir eine gute Fahrt. Ein Fahrrad-Haudegen, locker über 70, rät mir von der Nebenstrecke Richtung Eisfeld ab: „zu viel Berge!“. In Schalkau versuche ich einen Chai in der türkischen Pommesbude zu bekommen. Ayran? Fehlanzeige. Tote Hose, aber nachher kommen doch noch ein paar Jugendliche und holen sich etwas zu essen.

Fahrt nach Görsdorf, wo wohl noch ein Rest der Mauer stehen soll. Unterwegs mit einem 30-Jährigen über E-Bikes gefachsimpelt. Er war mit seinen Eltern schon überall in Deutschland, Österreich und hat sogar eine Mountainbike-Tour nach Luxemburg gemacht. Die DDR? Nur vom Hörensagen. Die junge Generation geht anders damit um.

Am Ortseingang von Görsdorf noch kurze Diskussion mit Ehepaar meines Alters. Wie war das hier an der Grenze im Sperrgebiet? – Alles ok, man hat sich halt daran gewöhnt. Nur bei Verwandtenbesuchen war es schwierig. In Wurfweite war der Westen.

Fotosession an den Überresten der Mauer. Mein Stativ kommt zum ersten Mal zum Einsatz. In die Mauer haben Leute ein Loch reingeklopft. Symbolik.

Über Umwegen auf der westdeutschen Seite nach Probstzella [???]. Oben auf dem Berg befindet sich die GüSt (Grenzübergangsstelle) Rottenbach-Eisfeld. Relativ kaputt frage ich in der großen Tankstelle nach, wo man hier übernachten kann. Waldhotel Hubertus – Großes Hotel: Essen bitte bis 19.30 Uhr bestellen. Tische mit Reserviert-Schildern wie früher im Osten.

Nach dem Essen (Thüringer Rostbratwürste mit Sauerkraut) mit vollem Magen ins Bett gefallen. Die Schulter schmerzt. Die Füße freuen sich, in die Badelatschen zu kommen. Im Koma von 9 bis kurz nach 11 gelegen. Ist es wohl alles zu viel? Was wird wohl Dors machen?

Tag 6 (23.07.18): Von Eisfeld nach Einöd

Km: 222 – 255

Beim Aufstehen tun die Knochen weh. Frühstück ok. Ein Paar, über 60, sportliches Radler-Outfit, fährt die Werra runter bis nach Hannoversch Münden. Ich richte Grüße aus. Die Stadt, in der ich zur Schule gegangen bin und einen rücksichtsvollen, jungen Klassenlehrer (Mathe und Physik) hatte. Er hat mich durchs Abi geschleust. Nach der Fünf in Englisch (Klasse 10) und der Fünf in Französisch (Klasse 12) durfte ich keine weitere haben.

In Ahlstadt steht eine wunderschöne Kirche. Ich komme mit H. ins Gespräch. Frührentner, früher Bauer, jetzt trägt er mit seiner Frau morgens ab halb drei Zeitungen aus. Unterstützung bekommt er nicht angesichts seines Besitzes an Ackerflächen. Früher war es hier ruhig, total ruhig. Das einzige, was gestört hat, waren die Amerikaner mit ihren Jeeps und Panzern, aber kein Problem. Flurschäden wurden reguliert.

„Nach 1989 musste man hier alles abschließen. Im November sind die DDR-Bürger mit den Trabis gekommen. Kilometerlange Schlangen.“ Heute jedoch keine Ressentiments, nur vereinzelt. Er erzählt von seiner Krankheit, Morphium, Rückenschmerzen. Keine Perspektiven und das mit Mitte Fünfzig.

In Grattstadt mache ich eine Vesperpause unter einem schönen Nussbaum. Ab und an kommt ein Auto vorbei. Fast wie in den 60er Jahren.

Über Heldritt fahre ich nach Bad Rodach. Die italienische Eisdiele am Marktplatz gehört mir: ein Eiskaffee. Am Nachbartisch eine relativ (wohlhabende) ausländische Familie, vermutlich Flüchtlinge (aus Syrien?), fährt nachher mit dem großen, gebrauchten Volvo weg. Das deutsche Ehepaar mittleren Alters am Nachbartisch schaut mit großen Augen hinterher.

Im Netto kaufe ich mir eine Banane, Zahncreme und Zahnbürste, die ich bei Dietrich liegen gelassen habe. Alles ist so vertraut (im Westen).

Auf dem Weg zur Burgruine Straufhain treffe ich nicht nur einen Haibaike-Fahrer, der sich noch gut an die Zeiten vor der Wende erinnern kann. Alles war ruhig, man konnte auf der Straße spielen. „Heute muss ich die Kinder zur Vorsicht aufrufen.“

Kurz nach Streutdorf (mit geschlossenem Museum) treffe ich X. Weshalb habe ich den Namen vergessen? Jahrgang 45, erzählt mir eine Schauergeschichte, wie er im November 89 mit einem Kumpel beim illegalen Grenzübertritt von den Amerikanern und dem BGS festgehalten wird. Im Laufe des Gesprächs („Merkel hat einen jüdischen Polen als Vater …“) stellt sich heraus, dass er 1988 bei einem Verwandtenbesuch gemeinsam mit seiner Frau im Westen geblieben ist. Die Kinder waren im Osten.

„Vater war bei der SS, er musste ja irgendwo mitmachen.“ „UK als LKW-Besitzer, …die Russen haben uns dann alles weggenommen, aber Putin ist in Ordnung.“ „Die Krimbesetzung war richtig.“ „Die Franzosen und die Tommys waren am Zweiten Weltkrieg schuld.“
Ein Alt-/Jung-Nazi wie aus dem Buche. Anscheinend hat er einen Narren an mir gefressen, weil ich mich halbwegs in der Geschichte auskenne, und begleitet mich einen Teil des Weges zur Burgruine.  Verabschiedung: „Zu guten Freunden sage ich: Sieg Heil und immer dicke, fette Beute“.
An dieser Stelle wird es mir zu viel: „Auf Sieg Heil kann ich verzichten …!“
Irgendwer muss ja die AFD wählen …

Mit dem Turbogang des E-Bikes geht es zur Burgruine hoch. Fantastischer Ausblick. Mit dem Stativ mache ich ‘repräsentative’ Fotos mit Blick in alle Richtungen. Ein sportlicher Opa kommt mit seiner Frau und den zwei Enkeln aus Hannover den Berg hoch. Alles vorbereitet: Schatzsuche und Orientierungsaufgaben mit dem Kompass. Ein Erlebnis für die Enkelkinder. Der sportliche Opa hat mit dem Fahrrad auch schon viele Touren in Deutschland etc. gemacht, allerdings ohne E-Bike. Früher war alles ruhig in unserem Ort im Sperrgebiet.

Eigentlich wollte ich da oben die Nacht verbringen (weshalb habe ich eigentlich das Zelt mitgenommen?). Aber dann habe ich doch Manschetten bekommen und auch nicht genügend Wasser dabei. Also den steilen Berg wieder runter und auf die Suche nach einer Unterkunft. Es ist mittlerweile sechs Uhr und der Asphalt der Landstraße reflektiert die Hitze des Tages (gut über 30 Grad). Die Autofahrer von West nach Ost (HBN) rasen nach Hause. Für mich noch alles etwas unwirklich, wenn man 40 Jahre die Grenze als nahezu undurchlässig erfahren hat.

Auf der letzten Rille komme ich in der Country-Scheune in Einöd an. In einem Haus an der Landstraße haben sie noch ein kleines Zimmer unter dem Dach. Als das Haus gebaut wurde, war Dachisolierung wohl noch ein Fremdwort … es ist proppenheiß. Dafür ist das Essen reichhaltig und mächtig, aber es liegt mir im Magen. Ich bin mal wieder so richtig kaputt abends und das Laufen tut weh.

Tag 7 (24.07.18): Von Einöd nach Rieth

Km: 255 – 292

Um 9 Uhr, als ich frühstücke, ist es schon wieder brütend heiß. Mal wieder ein Tag mit weit über 30 Grad! Das Packen der tausend Sachen in die beiden gelben Ortlieb-Packtaschen, rechts und links am Hinterrad, ist immer mit Arbeit verbunden. Hinzu kommt die blaue Lenkertasche, in der das Wichtigste verstaut wird: Handy, Ladegerät, kleine Wasserflasche, Fotoapparat, Verbandskasten, gelbes Hals-/Kopftuch, Fototasche und vor allem das Sonnenschutzmittel, Faktor 50. Den gelben Plastiküberzug für den Sturzhelm habe ich meistens auf dem Helm. Sieht klobig und bullig aus, aber ich fühle mich sicherer auf der Landstraße. Passive Sicherheit. – Das Schicksal von Otto immer im Hinterkopf!

Ich verlasse Einöd in Richtung Poppenhausen und komme an einem gepflegten Denkmal für 20 erhängte polnische KZ-Insassen vorbei. Es waren wohl zufällig ausgewählte Buchenwald-Häftlinge, die als Racheaktion für den Tod eines deutschen Bauern durch einen polnischen Zwangsarbeiter ihr Leben lassen mussten. Es ist, wie ich später erfahre, der Initiative eines Ehepaares aus Poppenhausen zu verdanken, dass dieses Denkmal in den 90er Jahren errichtet wurde. Blumenschmuck der umliegenden Gemeinden lässt vermuten, dass es regelmäßig gepflegt wird. Ich würde diese Menschen gerne kennenlernen, aber irgendwie bin ich noch der Meinung, ich müsse vorankommen.

In Poppenhausen erfahre ich von einem Ehepaar mittleren Alters, dass direkt hinter dem Dorf früher der 500 Meter-Sperrzaun stand und man daher nicht oder nur in Ausnahmefällen den Ort des Grauens zu DDR-Zeiten besuchen konnte.

Dieses Ehepaar mittleren Alters berichtet mir auch von der Zeit vor der Wende. Alles war ruhig und man hatte sich eingerichtet. Später geht die Frau mit mir in die protestantische Kirche, die im Wesentlichen in finanzieller Eigenleistung und durch freiwilligen Arbeitseinsatz wieder vorbildlich restauriert wurde. Es ist bemerkenswert, dass der Ort nur 99 Einwohner hat. Das Verhältnis zu den bayrischen Nachbargemeinden ist unproblematisch. Seit 20 Jahren arbeitet die Frau im Schichtbetrieb im Bayrischen. Das Dorf Poppenhausen feiert alle zwei Jahre mit zwei anderen Gemeinden gleichen Namens.

Ich folge dem Kolonnenweg und in Käßlich, dem südlichsten Ort der ehemaligen DDR, erwischt es mich in sengender Hitze: Ein Platten im Vorderreifen. Mühselig hole ich das Flickreparatur-Set hervor und borge mir Wasser beim etwas unwilligen Nachbar, damit ich feststellen kann, wo sich das Loch befindet. Nach einer Stunde habe ich es vollbracht, allerdings bekomme ich mit meiner Luftpumpe nicht genügend Luft auf den Vorderreifen. Mit der südlichsten Stelle der DDR am Plattenweg wird es also nichts.

Ich komme an einem stinkenden Schweinestall vorbei und freue mich im nahegelegenen Wald über den Schatten und die springenden Forellen in dem Teich. Ein Fischreiher schreckt bei meiner Weiterfahrt auf. Ein Opa mit seinem Enkelkind erzählt mir von Fürsorgezöglingen, die in einem Steinbruch arbeiten mussten und in den 60er oder 70er Jahren versuchten, über die Grenze in die DDR zu fliehen. Einer verlor dabei ein Teil seines Beines.

Über Schweickershausen geht es auf der Landstraße nach Rieth, wo ich im Gasthaus Bartolomens [?] ein Zimmer und etwas Gutes zu essen bekomme. Rostbrätl. Die Männer am Stammtisch diskutieren natürlich die Hitze, den Fall Özil und dass Hoeneß mit seiner Kritik an dem Fußballspieler mit türkischen Wurzeln vollkommen Recht habe. Später berichtet ein Polier davon, wie er mit den polnischen und rumänischen Bauarbeitern zurechtkommt. Mir drängt sich der Vergleich mit den Zwangs- und Fremdarbeitern der Kriegszeit auf. Menschen 2. Klasse?

Das Zimmer ist okay, aber dass man durch die Tür sehen kann, ob jemand auf der Toilette sitzt, ist nicht so prickelnd….

Tag 8 (25.05.18): Von Rieth nach Irmelshausen

KM: 285 – 322

Nach einem fantastischen Frühstück, das ich so nicht erwartet hätte, samt Zeitungsbericht über den Gastwirt und seine Verdiensten bei der Reparatur der Kirche, fahre ich den Berg hoch Richtung Zimmerau. Über der Gemeinde thronend ein neu erbautes Kriegerdenkmal für die Gefallenen des Ersten und Zweiten Weltkriegs: ‘Sie sollen nicht umsonst gestorben sein’. Was soll man sich dabei denken?

Am ehemaligen Grenzübergang stehen noch Reste des Zaunes nebst Erläuterungen und historischen Fotos aus der Wendezeit 1989/90 sowie ein Gedenkkreuz. Seit 1990 dürfen auch die hessischen katholischen Wallfahrer zu den 14 Allerheiligen wieder durch das thüringische Frankenland. Jedes Jahr werden in Hellingen 650 Pilger von den örtlichen Vereinen zu einem Frühstück eingeladen. Ökumenische Hilfestellung.

Kurz vor dem Bayernturm frage ich einen älteren Mann, der seinen Caravan streicht, ob er mir mit einer Kompressorluftpumpe aushelfen könne. Es ist offensichtlich: Menschen in meinem Alter sind in der Regel sehr hilfsbereit. Dies gilt auch für den pensionierten Lehrer, der mit einer Wandergruppe unterwegs ist und mir bereitwillig Auskunft über die Zeit vor 1989 und danach gibt. Auf den Bayernturm komme ich leider nicht hoch, weil der eine gewechselte Euro zwar in den Automaten passt, ich aber nicht direkt durch das Drehkreuz gehe, sondern mir den Weg selbst verschließe. Ich sage nur: Mann und Technik …

Auf dem Weg zum geschliffenen Dorf Leitershausen begegne ich einer holländischen Radfahrerin, die mit vollem Gepäck und ohne elektrische Unterstützung die Grenze entlang fährt, meist nur Straßen, aber immerhin. Ich komme mir alt vor.

An der Saalequelle ist eine herrliche Kühle, die ich angesichts der Hitze gut gebrauchen kann. Der naheliegende Führungsbunker und B-Turm erlauben wieder eine Auseinandersetzung mit der Grenzgeschichte. Am Telefon erhalte ich eine kurze, wenn auch nicht enthusiastische Auskunft. Besichtigung nur nach Voranmeldung. Wie soll ich das auf einer solchen Tour machen?

Auf dem Wege durch den Wald treffe ich auf einen Förster, der sich beim Vorbeifahren bedankt, dass ich angehalten habe. Ich vermute, dass er wegen der Waldbrandgefahr kontrollierte. Ich erinnere mich an meinen Großvater, der auch Förster war und im Dezember 1960 durch einen unerfahrenen Schützen zu Tode kam.

Plötzlich eine T-Kreuzung und die bittere Erkenntnis, dass ich auf dem Kolonnenweg bin und mir nichts anderes übrig bleibt, als den Kolonnenweg steil bergan hochzufahren. Hole mein Stativ raus und mache Fotos und ein Video. Die letzten Meter muss ich, um nicht stehen zu bleiben, fürchterlich in die Eisen steigen. Seitdem habe ich wieder Schmerzen im gebrochenen Brustbein – typisch! Immer Stärke beweisen, koste was es wolle. Und das mit knapp 70 Jahren … Man lernt nie aus.

Nach einer kurzen Abfahrt und einem schönen Tal mit Wiesen und Resten des Drahtzaunes, wo ich erst einmal im Schatten eine Pause mache, kommt die nächste Steigung. Nur noch länger und höher. Aber hier gibt es keinen Ehrgeiz mehr. Es wird ab der Hälfte geschoben. Zum Glück weiß ich jetzt, wie die Schiebehilfe funktioniert.

Am geschliffenen Dorf Leitershausen mache ich unter großen Bäumen eine Pause und ein Nickerchen. Trinken, trinken, trinken ist jetzt bei weit über 30 Grad angesagt. Durch den Wald komme ich nach Trappstadt im Westen. Die Kneipe hat nicht mehr geöffnet, kein Einkaufsladen, nur die Filiale einer Bäckerei mit kleinem Nebenraum hat am Mittwochnachmittag geöffnet. Das Kaffeekränzchen der älteren Damen trifft sich hier jeden Mittwochnachmittag. Ich bin ein exotischer Gast. Ich trinke und trinke, Apfelschorle, Wasser, Kaffee und esse ein Stück Kuchen, eine Bratwurst im Brötchen. Herrlich.

Es hilft nichts. Es geht weiter. Noch ist etwas auf dem Akku drauf, es geht bergan und irgendwie komme ich wieder auf den Kolonnenweg, der mir allerdings nach einem Kilometer zu viel wird. Durch eine Wiese geht es zur Landstraße. Ich komme an einer Herde von Schafen vorbei, die das Grüne Band wohl kultivieren.

In Eicha ist es nachmittags um halb fünf bullenheiß. Ich werde argwöhnisch beäugt, wie ich mit meinem Stativ Fotos von mir, dem Fahrrad und den Grenzreliquien mache. Bei der Umarmung des DDR-Grenzpfahles in Schwarz-Rot-Gold weiß ich nicht, ob ich lachen oder weinen soll …, anscheinend zu viele traurige Erinnerungen. Vielleicht kommt auch die Hitze noch dazu.

In Irmelshausen habe ich kurz vor sechs keine Lust und Kraft mehr weiterzufahren. Gasthaus zur Linde. Ein freundlicher Wirt im fortgeschrittenen (meinem) Alter bietet mir ein ruhiges Zimmer an. Die Dusche ist herrlich. Die Beine und die Schulter schmerzen. Ich trinke eine Flasche Wasser, mehrere Birnenschorlen usw. Das Rostbrätl und der Salat schmecken gut.

Als ich wieder ein paar Tagebuchnotizen gemacht habe, gehe ich noch einmal vor die Tür und frage einen älteren, langhaarigen Mann: ‘Was malst du da?’ – ‘Von Ihnen lasse ich mich nicht mit Du anreden, wir haben noch keine Schweine zusammen gehütet.’ Es stellt sich heraus, dass er ein Tagebuch mit sehr schönen Malereien führt und ein Aussteiger aus München ist, der in den 90er Jahren nach der Öffnung der Grenzen in diesen bayrischen Grenzort gekommen ist.

Bundeswehr, BGS und Amerikaner hätten auch ihre Spitzel im Ort zu DDR-Zeiten gehabt. Hier war eine hohe Militärkonzentration. Fulda-Gap. Wir diskutieren über Zeitgeschichte, die 68er und schließlich bietet er mir an, morgen sein Atelier zu besuchen.

Tag 9 (26.08.18):  Von Irmershausen nach Waldschmieden

Km: 322 – 362

Nach dem Frühstück um halb acht versuche ich noch vor der richtigen Hitze zu starten, aber irgendwie klappt es nicht. Das Zimmer sieht mit den vielen Sachen auf dem Boden immer wie nach einem Bombenabwurf aus. Sorry. Der Vergleich trifft angesichts des Ernstes des 2. Weltkrieges wohl nicht die Sache, aber das sind halt die Sprüche der 50er und 60er Jahre.

Im ersten Ort des Tages werde ich von meinem etwas störrischen Kunstmaler vom vergangenen Abend überholt und er hupt freundlich. Ich halte an. Wir unterhalten uns kurz und switchen auf das Du um. Er restauriert Häuserwände, hauptsächlich Fachwerk, und ist auf dem Weg zu einer Baustelle im Osten. Wir tauschen unsere Adressen und Telefonnummern aus und laden uns gegenseitig zu Besuchen ein. MARTa in Herford ist ihm natürlich ein Begriff. Das erste persönliche Geschenk an diesem Tag. Eins von vielen, das ich bisher auf dieser Reise erhalten habe und zukünftig noch bekommen werde. Sehr persönliche Begegnungen mit Menschen beiderseits der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze, in Ost und West.

Über das Freilandmuseum Behrungen geht es bergan nach Berkach, wo ich vor der verschlossenen Tür der schön restaurierten Synagoge stehe. Eigentlich sollte jemand in dem Nachbarhaus wohnen, aber es wird nicht geöffnet. Das Badehaus und der Friedhof geben einen nachdenklichen Eindruck der ehemaligen jüdischen Gemeinde, die in den Dreißiger Jahren ein Drittel der Bevölkerung ausgemacht hat. Ich erinnere mich an Georg Iggers, dem in Hamburg 1926 geborenen  und vor kurzem in Buffalo, N.Y., verstorbenen Holocaust-Überlebenden, Geschichtsprofessor, meinen akademischen Lehrer von 1979 bis 1981 und väterlichen Freund, dessen Vorfahren auch aus einem kleinen Dorf im Schwäbischen kamen (Iggersheim). –  Die Menschen geben bereitwillig Auskunft. Sie akzeptieren anscheinend die Geschichte ihres Orts.

Auf dem Trecker kommt mir ein Mittfünfziger entgegen und fragt mich, was ich hier mache. Für den Besuch des jüdischen Friedhofes hat er Verständnis. Er berichtet von einem Dresdner Polizisten, der sich seinen Urlaub aufgespart und den ganzen Weg zu Fuß gemacht hat. Chapeau! Er fragt mich nach meinem Alter und schüttelt ungläubig den Kopf … und wünscht mir gute Fahrt.

Am schönen kleinen Teich (oder ist es wohl eher ein kleiner See?) bei Nordheim mache ich in der kleinen Freizeitanlage des Angelvereins eine kleine Rast. Steil geht es dann nach Henneberg hoch. In der Mittaghitze bietet mir eine Frau freundlicherweise Nachschub für meine 1,5 Liter-Wasserflasche an.

Von dem Skulpturenpark bin ich enttäuscht. Gegenüber dem ehemaligen B-Turm befindet sich das Goldene Tor, aus Holz und von Berufsschülern hergestellt. Zwei der vier Metallwände liegen auf dem Boden, sind anscheinend umgeworfen worden. Die Inschrift ‘WIR SIND’ ist nicht zu sehen. Auch unter der verblassten Brücke des Goldenen Tors ist ein Kunstwerk umgeworfen worden. Vandalismus mit politischem Hintergrund.  …? Auf alle Fälle steht auf der noch aufgerichteten rechten Stele unter dem Wort ‘VOLK’ aufgesprüht ‘of the New Europe’. Die Aussage ist klar und eindeutig. Lässt hier die AFD grüßen?

In Henneberg sieht es leider wieder etwas nach Laramie Town im Mittleren Westen aus: Die Gastwirtschaft ist schon seit einigen Jahren nicht mehr in Betrieb und der Imbiss hat nur von 7 bis 14.00 Uhr auf.

Über das geschliffene Dorf Schmerbach, nur ein kleiner Hain mit Gräbern ist geblieben, fahre ich in Richtung Fladungen, komme aber etwas vom Weg ab. Eine sportliche Walkerin kurz vor Helmershausen verweist mich auf eine Übernachtungsmöglichkeit im Waldschmieden. Auch diesen Anstieg schaffe ich noch. Von Jenny, der Tochter meiner Frau Ellen, bekomme ich die Nachricht, dass sie ihre Bachelor-Prüfung erfolgreich bestanden hat. Herzlichen Glückwunsch!

Im Gasthaus Waldschmiede komme ich relativ kaputt an. Die Wirtin hat gerade ihre Damen-Tanzgruppe zu Gast und eine Übernachtung ist nicht mehr möglich. Jana und Axel versuchen mir ein Zimmer in Stockheim zu organisieren, aber das würde bedeuten, dass ich 10 km zurück fahren müsste. Der Akku muss nachgeladen werden. Wenn ich einen Schlafsack hätte, heißt es schließlich, könnte ich noch auf der Couch in der Ferienwohnung nebenan übernachten. Ein Geschenk!

Jana erzählt mir vom Leben in Ost und West sowie ihrem viel zu früh verstorbenen Vater. Eine traurige Geschichte. Die Jäger, die vom Niederrhein fürs Wochenende gekommen sind, um bei einem Freund, der seit zwei Jahren hier ‘ausgestiegen’ ist und in der Ruhe des ehemaligen Grenzgebietes lebt, auszuspannen, sind recht leutselig. Als ich vom Schicksal meines auf der Jagd erschossenen Opas berichte, sagt einer von ihnen: „Passiert halt öfters.“ – Ich antworte nur, dass ich darüber nicht lachen kann.
Vollkommen kaputt falle ich abends in den leichten Schlafsack, den mir Theresa zum Glück mitgegeben hat.

Tag 10 (27.07.18):  Von Waldschmieden nach Hilders

KM: 362 – 400

Nachts wache ich von Krämpfen in den Beinen auf. Beim Aufwachen spüre ich noch die Strapazen der gestrigen Tour. Die Tatsache, dass ich keine Bettwäsche hatte, war kein Problem. Theresas Schlafsack hat seine Dienste getan.

Beim Frühstück komme ich ins Gespräch mit der Freundin der Wirtin, die aus der Schweiz kommt und als Psychologin jugendliche Flüchtlinge betreut. Ihr Mann wurde in Venezuela erschossen, als beide bei der Drogenfahndung tätig waren. Es ist bedrückend. Sie berichtet von ihrer multikulturellen und internationalen  Familiengeschichte und von persönlichen Erlebnissen in den folgenden Jahrzehnten. Ihre Kinder sind und bleiben – wohl wie sie selbst auch – in diesem ehemaligen Zonenrandbezirk eine Fremde, die zwar mit ihrem Partner ein zeitweises Refugium gefunden hat, sich jedoch den Verbleib in dieser Grenzgegend bis zum Ende ihres Lebens nicht vorstellen kann.

In Fladungen steuere ich den ersten Friseurladen an. Leider hat der Friseur viel zu tun und verweist mich an die Konkurrenz. Es ist mittlerweile mal wieder brütend heiß und die Klimaanlage ist sehr angenehm. Die Auszubildende stutzt mir den inzwischen zottelig gewordenen Bart. Ein tolles Gefühl, als ich den Laden verlasse.

Von Fladungen geht es steil über eine Distanz von 7 km zum Schwarzen Moor hoch. Die ersten 4 km strampele ich noch routiniert im Sport-Gang, irgendwann muss der Turbo eingeschaltet werden. Ich habe das Gefühl, dass dieser Anstieg meine Gesellenprüfung auf dieser Tour ist. Nach zehn Tagen. Oben auf dem Berggasthof Sennhütte angekommen, genieße ich die herrliche Aussicht und eine etwas zu kalte Bionade.

Im Schwarzen Moor bekomme ich erst einmal einen Rüffel, weil es anscheinend nicht erlaubt ist, mit einem Fahrrad das Naturschutzgebiet zu befahren. Ich lege mich zu einem kurzen Nickerchen im Schatten auf eine Bank und versuche der Hitze ein wenig zu entfliehen. Im Informationszentrum mit Imbiss esse ich eine Thüringer Bratwurst, der Koch, ein Asylbewerber aus Syrien, zweisprachig: „shukran“ und „teşekkür ederim“.

Die nahen Grenzanlagen mit B-Turm sind mittlerweile Routine für mich geworden, ebenso wie der Hinweis auf eine Telefonnummer, die zur Besichtigung anzurufen sei. Über Frankenheim geht es wieder zurück in den ‘Westen’ mit einem Gedenkstein, von Pilgern errichtet für die Vierzehn Heiligen.

Im Hotel Deutsches Haus in Hilders komme ich gegen drei Uhr nachmittags an und mache einen so geschafften Eindruck, dass der wenig jüngere Gastwirt eine meiner beiden Packtaschen die Treppe hoch in den 2. Stock trägt. Ich bin dankbar. Die Beine sind wirklich schwer. Ich falle nach der Dusche erst einmal ins Koma.

Der Fahrradladen hat Probleme, die richtigen Schrauben für meine Beleuchtungshalterung und die Schutzblechstrebe zu finden. Ein junger Mann, Handwerker aus dem thüringischen Frankenheim, fährt verschiedene Mountainbikes zur Probe. Seine Frau, geboren im hessischen Tann, fühlt sich in Frankenheim immer noch etwas als Fremde, – obwohl, in der Firma ihrer Eltern arbeiten Hessen und Thüringer ohne Probleme zusammen.

Ich freue mich, als abends dann Theresa und ihr Freund Jannis zu Besuch kommen. Wir verbringen einen schönen, unterhaltsamen Abend im Biergarten der Gaststätte direkt unter der Kirche. Zufall: unsere Tischnachbarn kommen aus Lockhausen, einem kleinen Nachbarort Herfords. Vor kurzem erst geehrt für 50 Besuche in Hilders. Wir genießen den Abend und schnäpseln mit den Lippern. Theresa zeigt keine Achtung vor ihrem Vater und dem Alter. Ich komme zu spät. Sie hat gerade schon bezahlt. Dem Kellner gebe ich zu verstehen, dass das gar nicht geht. Da er offensichtlich einen Migrationshintergrund hat, entwickelt er Verständnis für mich, aber was soll er machen, wenn eine junge Frau kommt und die Rechnung bezahlt. Ich schlucke nur. Ändern sich so langsam die Zeiten und gehöre ich aufs Altenteil?

Tag 11 (28.07.18):  Hilders – Thann – Kleinfischbach – Hilders                                                  

KM: 400 – 430

Mit dem dicken Kopf hält es sich zum Glück am nächsten Tag in Grenzen. Mein Fahrrad ist repariert, das Problem mit den fehlenden Schräubchen hat sich zum Glück lösen lassen. Die Bereitstellung von zwei Leihfahrrädern für Theresa und Jannis stellt sich leider als etwas schwieriger dar: E-Bikes sind leider nicht mehr erhältlich.

Auf Fahrradwegen und kleinen Straßen geht es gemütlich nach Thann. Auf dem Marktplatz werden wir von einem älteren Mann angesprochen, der bereitwillig Auskunft über die Zeit vor der Wende hier im Grenzgebiet gibt. Der etwas vorlaute Enkel meint, wir müssten unbedingt zu Point Alpha in das dortige Museum fahren.

Der Anstieg nach Kleinfischbach ist nicht zu unterschätzen. Mi dem E-Bike trotz des Gepäcks im Prinzip kein Problem. Anders schon mit den ausgeliehenen City-Bikes, die ich mal kurzzeitig selbst fahre. Eine Qual, teilweise geht es nur im Schieben.

Von Kleinfischbach geht es über Unterweid nach Oberweid. In Unterweid ist der Mann mittleren Alters froh, dass er seine Arbeiten im Garten unterbrechen kann. Bis 1989 sei im Sperrgebiet alles sehr ruhig gewesen, man hätte sich geholfen und gegenseitig unterstützt. Nach der Wende sei der Neid ins Dorf eingezogen. Anhand der Autos habe man sich verglichen, früher hätten im Wesentlichen alle nur Trabbis gefahren und da hätte es solche Diskussionen und Gefühle nicht gegeben.

In Oberweid geraten wir in ein kleines Dorffest, eine Hochzeit. Über den Straßen sind Leinen gezogen, wir nannten dies früher in unserem Dorf in den 50er und 60er Jahren ‘Hemmen’. Die Kinder und Erwachsenen stehen am Straßenrand vor ihren Häusern und haben kleine Tischchen aufgebaut. Ich vermute, dass das Brautpaar für die Kinder Münzen werfen und mit den Erwachsenen einen Korn trinken müssen. Am Ende der Straße stehen die versammelten Fußballer und Trachtenmädchen in ihren Trikots bzw. Kostümen und bilden den Abschluss des Gratulationsmarathons.

Auf dem Weg nach Simmershausen eine schöne Überraschung: Jannis weist mich darauf hin, dass im Vorderreifen eine Reißzwecke steckt. Nicht schon wieder, das wäre schon die zweite Schlauchreparatur auf der Reise. Zum Glück lädt uns ein fitter Rentner in meinem Alter ein, in seinem Hof im Schatten die Reparatur durchzuführen. Alles auspacken, das Reparatur-Set finden, aufpumpen, ins Wasser halten, nach den Bläschen gucken, aufrauen, Kleber verreiben, trocknen lassen, Flicken draufkleben… Es kam, wie es kommen musste: Um wenige Millimeter hatte ich mich vertan. Scheibenkleister! Auch noch bei dieser Hitze, aber zum Glück erhalten wir etwas zu trinken.

Über Feldwege und Wiesen geht es zurück in den ‘Westen’ nach Simmershausen. Der bärtige Wirt am Anfang des Dorfes gibt uns etwas zu trinken. Wir haben das Gefühl, wieder ‘zuhause’ zu sein. Zur Begrüßung kommt der Spielmannszug des Dorfes mit Humba-Humba-Tätarä auf uns zu. Wir werden gleich gefragt: „Ihr seid doch hoffentlich keine Bayern-Fans?“ Ein letztes Mal müssen Theresa und Jannis die Fahrräder auf die Anhöhe schieben, bevor es mit einer rasenden Geschwindigkeit nach Hilders zurückgeht.

Den Abend verbringen wir in einer sehr guten Pizzeria, lassen es uns schmecken und genießen den italienischen Weißwein und den Vecchia Romagna. Theresa erzählt viel von ihrer beruflichen Situation, ihrer Karriere und den damit verbundenen ‘Problemen’. Was ist aus diesem kleinen, jungen Mädchen, dieser Azubine in den letzten zehn Jahren geworden? Bevor ich einschlafe, geht mir vieles durch den Kopf.

Tag 12 (29.07.18):  Hilders – Schwarzes Moor – Ruhetag !     

KM: 430

Ich merke beim Frühstück, wie körperlich ausgelaugt ich bin, vielleicht liegt es auch an den hochprozentigen Getränken der beiden vergangenen Abende. Mit Jannis’ Auto fahren wir zum Parkplatz am Schwarzen Moor Richtung Fladungen und gehen dann den Fußweg zum Beobachtungsturm mit den beiden Grenzzäunen. Man hat einen herrlichen Blick über die Rhön. Die Grenze wird angesichts des Anblicks des Grenzzaunes für die beiden ca. 30-Jährigen greifbarer, emotional nachvollziehbarer. – Erinnerungen werden wach an die Reise zu fünft (Theresa gerade ein Vierteljahr alt) im Mazda 626 von Herford nach Berlin (Ost) am 12. November 1989…

Nach der Verabschiedung von Theresa und Jannis gehe ich auf den Marktplatz und trinke einen Cappuccino. Mit dem Wirt des Gasthauses, der schon in vielen exzellenten Häusern gearbeitet hat, spreche ich über die Entwicklung des Gastgewerbes in den grenznahen Orten. Ein Traum von ihm ist, das gesamte Hotel noch mal mit 50 Asylbewerbern zu belegen. Das Gerede der Leute im Ort würde ihn dann auch nicht stören. Hinzukommt, dass die guten Zeiten in den 70er und 80er Jahren, als die Gelsenkirchener Bergleute um 11 Uhr mit dem Frühschoppen anfingen und nachts um 1 Uhr achtzehn Bier auf dem Deckel hatten, auch vorbei seien.

Mein erster richtiger Ruhetag. Ohne Fahrrad.

Tag 13 (30.07.18): Fahrt von Hilders nach Philipstal

KM: 430 – 478

Morgens merke ich, dass der mir der gestrige Ruhetag gut getan hat, sowohl vom Kopf her als auch von der Muskulatur. Die liebliche Strecke nach Thann kenne ich schon. Im Supermarkt besorge ich mir Obst, Buttermilch und Studentenfutter.

Auf dem Weg nach Motzlar denke ich: Das gibt es ja gar nicht, du kannst deinen Augen nicht trauen. Ich begegne Anna und Lars mit ihrem adoptierten spanischen Hund Nelson. Sie kommen aus Potsdam und ziehen nach Portugal um, wo sie im Spätherbst ankommen wollen. Sie ziehen im wahrsten Sinne mit ihrem gesamten Hausstand, der sich in einem ca. 1,00 x 1,50 Meter großen Handwagen befindet. Ein Geschirr zum Ziehen wie vor einem Karren, anstatt Pferden. Strom für die elektronische Kommunikation (Webseite bei wordpress.com) liefern Solarzellen auf dem vergrößerten Handwagen. Sie schaffen am Tag ca. 15-20 Kilometer und haben Fulda als Ziel, immer Fahrradwegen folgend.

Ich frage nach der Motivation der beiden, die so in den Zwanziger sein müssten: Sie wollen aussteigen, sich nicht mehr den Zwängen des Büroalltags unterwerfen, obwohl… Lars arbeitet noch ab und an im Bereich des Internet-Shoppings, allerdings von unterwegs. Ich bewundere die beiden ob ihres Mutes, vielleicht auch wegen der Naivität, auf alle Fälle drücke ich ihnen meine Hochachtung aus. Zum Abschied wünsche ich ihnen viel Glück und gebe ihnen ein paar Euro für Hundefutter mit… Hier der Link zu ihrem Reiseblog: Erdenbürger. Was wir für Sachen machen.

Auf dem Weg nach Gaisa treffe ich im nächsten Ort einen Vater, der mit seinem Sohn, der bald 16 wird, eine Samson fertig macht. Es scheint, dass dies Kleinkraftrad der DDR aus den 60er und 70er Jahren mittlerweile wieder Kultcharakter, nicht nur unter jungen Leuten, in Sachsen und Thüringen hat.

Ich will Point Alpha, das Museum, besuchen und komme nach Geisa, wo ich in der Mittagshitze nur im Schlosshof etwas zu trinken bekomme. Die Stunde im Schatten tut mir sehr gut. Durch Zufall entdecke ich, dass es hier eine Point-Alpha-Stiftung gibt. Eine Internetrecherche ergibt, dass die Stiftung auch ein pädagogisches Programm durchführt. Preisträger sind Helmut Kohl, Gorbatschow, Bush, Schäuble etc. Kurzentschlossen betrete ich das Gebäude und komme mit zwei Kollegen aus der pädagogisch-didaktischen Abteilung ins Gespräch. Ich erzähle ihnen von meiner Grenzgänger-Tour 2018 und meiner Absicht, später evtl. darüber zu berichten. Es entwickelt sich ein interessantes fachliches Gespräch über Gedenkstättenpädagogik und die Frage, wie man dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer junge Menschen mit dem Thema vertraut machen kann. Wir vereinbaren, in Kontakt zu bleiben.

Mit einem heftigen Anstieg geht es hoch zum Museum und zur Gedenkstätte. Die Sonne brezelt. Eine Turbine dreht sich an und ab: Frieden, Mir, Peace ist auf den Flügeln zu lesen. Die Ausstellung ist vom Didaktischen gesehen sehr gut gemacht, Mikro- und Makroebene gut verbunden. Viele anschauliche Ausstellungsstücke und Videointerviews mit jungen und alten Menschen beiderseits der Grenze. Das amerikanische Lager Point Alpha ist fast unverändert, inklusive einem Weihnachtswunsch an die ‘Kollegen’ auf der anderen Seite der Grenze: „Fröhe Wiehnachten“.  ­–  Wie man es halt spricht …

Mit einer Besucherin komme ich über die Zeiten vor und nach der Wende ins Gespräch. Sie hat an einer großen Samstagsdemonstration in einer Kleinstadt in Thüringen teilgenommen. Die DDR-Erziehung und die Unterschiede zu Menschen aus dem Westen sind ihrer Ansicht nach wie vor in Kleinigkeiten festzustellen, so z. B. im Zusammenhang mit der Nutzung von Energie.

Im Lager und außerhalb habe ich das Gefühl, dass ich eher in Spanien und Italien im Sommerurlaub bin als in der Rhön. Kein Grün, alles verbrannt. Die Tageszeitungen berichten von der Sommerhitze und den Veränderungen des Klimas. Ich mache mir Sorgen und frage mich, was wir mit dem permanenten wirtschaftlichen Aufstieg, dem Verschwenden von natürlichen Ressourcen – zu unserem eigenen Vorteil – bewirkt haben.

So langsam kommen die Kali-Bergwerke beiderseits der Grenze mit ihren weißen, z. T. über 700 Meter hohen Bergen in Sicht. Es ist immer noch verdammt heiß. Zum Glück bekomme ich in Philipstal noch ein Zimmer in einem Gasthaus. Ich bin geschafft und trinke wie üblich erst mal ein großes Radler und esse heute ausnahmsweise kein Fleisch, nur einen großen Salat. Der kurze Anstieg zum Gästehaus fällt mir verdammt schwer. Ich merke: die 36 Grad haben mir gereicht und mich mal wieder geschafft.

Tag 14 (31.07.18):  Von Philipstal nach Berka

KM: 478 – 506

Von Philipstal fahre ich nach Vacha, der thüringischen Schwestergemeinde auf der anderen Seite der Werra. Genau am Beginn der Brücke treffe ich auf Hannelore, die mich fragt, wo ich hinmöchte. Es scheint, dass sie sich auskennt. Sie erklärt mir den genauen Grenzverlauf, zeigt mir den Beobachtungsturm in Varta und gibt mir eine Menge an historischen Informationen.

Sie hat den 11. November 1989 hautnah miterlebt und als Hobbyfilmerin die historischen Stunden des 11. und 12. November, den Abbau der Grenze nach 40 Jahren, den Menschenauflauf, das Rüber und Nüber miterlebt. Eine wirkliche historische Quelle.

Sie lädt mich freundlicherweise zu sich nach Hause ein, wo ich auch ihren Mann kennen lerne, der bei der Bundeswehr als Berufssoldat gearbeitet hat. Der Film aus dem Jahre 1989 dürfte einer der wenigen visuellen lokalen Zeitdokumente der Maueröffnung 1989 sein. Die Rechte wurden an ARD und ZDF verkauft, aber im Internet befinden sich viele Kopien. Die sehr persönlichen Stunden vergehen wie im Fluge.

Beim Anschauen des Films werden in mir alte Erinnerungen wach, der spontane, unangemeldete Besuch am 12. November in Ost-Berlin. Die Fahrt mit den drei Kindern, u.a. der erst dreimonatigen jüngsten Tochter, auf der Transitstrecke nach Berlin. Das Tanzen der Menschen auf der Mauer am Brandenburger Tor, das Hallo beim Eintreffen bei meinem Bruder Klaus und seiner Familie zum Abendbrot. Die Fahrt in der Nacht zurück. Das Unterrichten am nächsten Morgen nach wenigen Stunden Schlaf.  Mir kommen beim Anschauen des Filmes die Tränen …

Parallel zur mit Salzen und anderen Abwässern belasteten Werra geht es meistens über sehr befahrene Straßen nach Berka / Werra, wo ich in dem Gasthaus Zur Post heute relativ früh eine Unterkunft finde. Ich bin froh angesichts der Hitze.  Hier treffe ich Klaus, ein 82-jähriger sehr rüstiger Rentner, der als Flüchtlingskind aus Schlesien nach Berka kam und dort jahrzehntelang im Kalibergbau gearbeitet und später auch Lehrlinge unterrichtet hat. Drei Stunden haben wir die Geschichte der DDR, der Wende und Nachwendezeit hoch und runter diskutiert. Wir beide sind Thüringer, und er wundert sich über mein historisch-politisches Wissen. Ich gebe mich als Historiker mit engen Familienbanden in der DDR zu erkennen. Es ist schwül in dem Hof der Gastwirtschaft, aber die Zeit vergeht wie im Fluge. Ein beeindruckender Mensch, der früher mal in der SED war, aber wohl damals wie heute seinen kritischen Geist behalten hat.

Die Nacht musste ich das Fenster auflassen, der Straßenverkehr störte zwar, aber es kam wenigstens etwas frische, kalte Luft herein.

Tag 15 (1.08.18) :  Von Berka/Werra nach Creuzburg

Km: 512 – 547

Ich stehe morgens gegen sieben Uhr auf und setze mich in der Gaststube an den schön gedeckten Tisch. Die Frau, die gestern Abend im Wesentlichen den ganzen Thekendienst und den Service alleine durchgeführt hat, ist schon wieder auf den Beinen und hat das Frühstück für die Gäste vorbereitet. Die Erlebnisse und Einstellungen der DDR-Zeit sind ihr nach wie vor greifbar und wirken sich im Denken und Handeln aus. Nach einem dreiviertel Jahr im hessischen Bad Wildungen ist sie wieder nach Berka an der Werra zurückgekommen. Ebenso wie die Besitzerin der Gaststätte gehört sie einer Generation an, die anscheinend ein doch etwas anderes Koordinatensystem als ‚wir‘ aus dem Westen haben.

In Gerstungen auf dem Bahnhof, wo früher die Interzonenzüge anhielten, um von Seiten der DDR bei der Ein- und Ausreise kontrolliert zu werden, treffe ich Thomas. Er ist Anfang fünfzig, in Nordhausen geboren, und arbeitet als Lokomotivführer. Er kennt die Situation und die Örtlichkeiten in Gerstungen zu DDR-Zeiten auch nur vom Hörensagen sowie von Fotos. Wieder diskutieren wir die Mentalitätsfrage, Unterschiede zwischen Ost und West, wenn es z. B. um Extraschichten geht. Ehemalige DDRler sind seiner Ansicht nach eher bereit, dem Dienststellenleiter bei Krankmeldungen aus der Patsche zu helfen.

Ein Blick einige Jahrzehnte zurück. Es ist das Jahr 1964. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie ich aus dem Interzonenzug geholt werde, weil man bei mir aus der BRAVO ausgeschnittene Bilder der Beatles und Rolling Stones gefunden hat. Ich wurde zwei Stunden verhört und man teilte mir mit, dass solche Fotos in der DDR nicht erwünscht seien. Tante Rosemarie wartete auf mich in Heiligenstadt. Meiner Bitte, bei ihr von der Grenzstelle anrufen zu dürfen, wurde entsprochen. Ich sagte ihr, dass wohl hier „eine harte Welle“ zur Zeit angesagt sei und ich später kommen würde. In Heiligenstadt angekommen, fragte sie mich ganz entsetzt, ob ich nicht wüsste, dass alle Gespräche abgehört würden … Das war mir eigentlich egal. So ging es dann mit dem ersten Arbeiterzug nach Eisenach morgens kurz vor sechs weiter. Die neugierigen, etwas mitleidigen Blicke der Arbeiter habe ich noch konkret vor Augen.

In Herleshausen befand sich jahrelang der Straßenübergang zwischen der DDR und der BRD. Erstmalig komme ich im Mai 1965 mit dem Bundesgrenzschutz in Berührung. War es der in der DDR zu Propagandazwecken Richtung Westen in der Nähe von Burg ausgestrahlte Soldatensender oder der Deutschlandsender? Ich weiß es nicht mehr: Es wurden die westdeutschen Friedensfreunde zum gesamtdeutschen Pfingstjugendtreffen in Madeburg eingeladen. Das Wichtigste: Man musste nicht wochenlang vorher ein Visum beantragen, sondern konnte direkt zur Grenze fahren und es dort erhalten.

Der BGS staunte nicht schlecht, dass ich als 16-Jähriger mit meiner Kreidler dort angefahren kam. Zunächst wurde im Betrieb meines Vater angerufen, der telefonisch sein Zustimmung geben musste. Über Heiligenstadt (Besuch meiner Oma und Tante) und den Harz fuhr ich dann nach Magdeburg. Dazu aber später Genaueres. Auf alle Fälle wunderte ich mich vier Jahre später, dass ich zu Beginn meiner dreijährigen Bundeswehrzeit während der Grundausbildung an einem Montagmorgen vom Militärischen Abschirmdienst (MAD) verhört wurde. Der MAD wollte wissen, weshalb ich nach Magdeburg gefahren sei. Seit dem Jahr 1965 hatte ich wohl eine Akte bei den Sicherheitsbehörden der Bundesrepublik. Im Gegensatz zu heute waren allerdings Verfassungsschutz und MAD wohl nicht elektronisch vernetzt, ansonsten hätte ich wohl die Prüfung zur Aufnahme als Offiziersanwärter in Köln nicht bestanden …

Gute zehn Jahre später (war es 1976 oder 1977? – ich weiß es nicht mehr) fuhr ich mit meinem Renault 4 und einigen Freunden vom Marxistischen Studentenbund Spartakus aus Darmstadt nach Weimar, u. a. auf Einladung der SED oder der FDJ politische Gespräche zu führen und das KZ Buchenwald zu besuchen. Auf der Rückfahrt war die Begrüßung durch die Bundesgrenzschutzbeamten auch sehr aufschlußreich: „Na, wart ihr auf Geschäftsreise im Osten?“ – Anscheinend war nicht nur die Staatssicherheit der DDR, sondern auch der Verfassungsschutz der BRD gut informiert.

In Herleshausen komme ich mit Annita ins Gespräch, die dort geboren wurde, aber jahrzehntelang in Kassel gewohnt hat, bevor sie mit ihrem Mann das elterliche Haus wieder bezog. Erneut diskutieren wir die unterschiedlichen Mentalitäten in OST und WEST, allerdings auch die zunehmende Rechtsentwicklung in Thüringen. Sie versucht Klaus Gogler, den (!) Experten in Herleshausen zur deutsch-deutschen Geschichte zu erreichen und uns bekannt zu machen. Schließlich klappt es.

Klaus Gogol ist schon vom Äußeren eine beeindruckende Persönlichkeit. Groß gewachsen, Rauschebart, Haarzopf kommt der 67-Jährige mit seinem Mountainbike sportlich angeradelt und sprudelt all seine Informationen über die Situation während der 40-jährigen Existenz der DDR heraus. Es ist beeindruckend. Er fährt mit mir zum Flußwehr in der Werra, den ehemaligen Grenzbaracken, von den leider nichts mehr zu sehen ist, ebenso zum Bahnhof Herleshausen. Dort wurde er geboren, also auf DDR-Hoheitsgebiet. Sein Großvater, obwohl Bürger der BRD, war Beschäftigter der DDR-Reichsbahn – allein der Name schon ein gewisser Antagonismus. Im Bahnhofsgebäude befindet sich heute ein Museum, das sich schwerpunktmäßig mit der Geschichte der letzten Kriegsheimkehrer aus der Sowjetunion beschäftigt. Herleshausen war erste Station in der Bundesrepublik.

Obwohl wir nun schon mehrere Stunden gemeinsam verbracht haben und uns auch unsere Lebensgeschichten en passant erzählt haben, begleitet mich Klaus, der im übrigen 2011 die Tour entlang des Grünen Bandes in 30 Tagen absolviert hat, auf seinem Fahrrad nach Creuzburg. Klaus ist ein wandelndes Lexikon. Natur, Genzgeschichte, Menschen diesseits und jenseits des Zaunes – er hat alles im Kopf!

In Creuzburg versuche ich nahezu vergeblich eine Unterkunft zu finden. Schließlich landen wir in dem Gasthaus ‚Zur Torpforte‘ mit schönem Hinterhof, nahe am Felsen gebaut. Wir treffen ein Ehepaar aus Oldenburg, das vier Tage entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze gewandert ist. Erholung pur. Klaus ist ein sehr kommunikativer Mensch, nach mehreren Bier und Magenbittern wird er von seiner Frau abgeholt. –
Wir versprechen uns, in Kontakt zu bleiben.

Tag 16 (02.08.18):  Von Creuzburg nach Großburschla

KM: 547 – 582

Die Nacht als der Regen kam…
In der stickigen Ferienwohnung, die sich in den letzten Tagen der Gluthitze höllenähnlich aufgeheizt hatte – man spricht mittlerweile vom Jahrhundertsommer -, musste ich das Fenster aufmachen. Jedes Auto, das auf der Straße vorbeifuhr, war zu hören. Es war mir egal. Ich habe es genossen, als es plötzlich anfing, etwas zu regnen. Eine Erholung.

Das sparsame Frühstück gerät noch spärlicher durch das Gespräch mit der Mutter der Wirtin, ehemalige DDR-Unterstufenlehrerin: „Man darf ja heute nichts mehr sagen, es gibt keine Meinungsfreiheit“. Auf die Gegenfrage, ob es denn diese zu DDR-Zeiten gegeben habe, wird mir geantwortet, dass sich im Kollektiv alle einig gewesen seien und man offen habe reden können. Wenn da mal die Abteilung Horch und Guck das auch so gesehen hätte. „Den Politikern kann man heute sowieso nichts mehr glauben. Und was alles im Essen heutzutage ist“. Die Ernährung in der DDR sei viel besser gewesen. Von den vielen Flüchtlingen wollen wir gar nicht sprechen. Es hört sich nach Verschwörungstheorien an, Verherrlichung der DDR-Zeiten. Und natürlich zum Schluss: bekennende AFD-Wählerin.

Kein Wunder, dass ich aus Creuzburg kommend nach der doch etwas zu kurzen letzten Nacht und dem sehr interessanten Gespräch – ich frage mich, ob ich nicht deutlicher hätte Kontra geben sollen – diesen Ort so schnell wie möglich verlassen sollte. Alle Cafés und Gaststätten hatten am frühen Morgen noch zu und ich trat meine ‚Flucht‘ nach vorne an. Nach ca. einer Stunde merke ich dann, dass ich den ehemaligen Grenzverlauf verlassen habe und mich auf dem schönen Fahrradweg entlang der Werra befinde. Auf einer überdachten Bank, wenige Meter über der malerischen Werra gelegen, mache ich dann Rast, aber nur um auf dem Laptop meinen Rückstand von einigen Tagen beim Tagebuchschreiben zu verkürzen. Ein älteres Ehepaar fährt auf dem Fahrrad mit dem etwas scheuen Enkelkind aus der Nähe von Stuttgart vorbei. Nein, die Kinder wollen nicht mehr nach Thüringen zurück. Sie haben studiert und wohnen in Großstädten.

Vorbei an ’sauberen‘ kleineren und modernen Industriebetrieben, komme ich nach Mihla. Direkt gegenüber der Kirche, die leider verschlossen ist, aber deren Innenraum durch Scheiben betrachtet werden kann, befindet sich ein Döner-Imbiss. Der Innenraum ist belegt von einer drückenden, schwülen Hitze. Ich bestelle mir eine Dönertasche und trinke Ayran. Nachher komme ich mit dem Dönerbudenbesitzer ins Gespräch. Er lebt und arbeitet in Mihla seit 18 Jahren, davon 10 Jahre selbstständig. 80 Stunden die Woche, sieben Tage die Woche, außer über die Weihnachtsfeiertage.

In die alten Bundesländer wolle er nicht. „Nein, dort kann ich meine Kinder nicht richtig großziehen. Alles nur ‚Misch-Masch‘, dort werden meine Kinder weder richtige Türken-Kurden noch Deutsche.“ Er fühlt sich hier wohl, wird sogar von der Nachbarin, die für die NPD im Stadtrat sitzt, akzeptiert. Er fühlt sich als Ausländer, die Fremden aus Ungarn, Polen und Rumänien seien für die einheimische Bevölkerung keine Ausländer.

Entlang der Werra komme ich nach Frankenroda. Dort treffe ich Willi, Jahrgang 1945, der schon seit ca. 40 Jahren im ehemaligen Sperrgebiet wohnt. In der DDR war er politisch immer aufsässig. Den Einmarsch in die CSSR 1968 hatte er nicht schriftlich gut geheißen und war zunächst aus der SED geflogen, dann wegen staatsfeindlicher Propaganda zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden.  Jedoch relativ schnell konnte er nach der zweimonatigen Bewährungsprobe im Gleisbau wieder in seinem alten Beruf als Maschinenführer arbeiten.

Die Wende hat er schnell „verkraftet“, als zweiter im Ort ein West-Auto, einen Audi, angeschafft, und damit kam natürlich auch der Neid in der dörflichen Gesellschaft auf. Dass die Bewohner des Sperrbezirks eine Extra-Zulage bekommen haben sollen, war mir neu. Im Winter 1989/90 habe er sich schnell zurecht gefunden, weil er – wie viele andere auch – die Unterschiede zwischen Ost und West zu Tausch- und Kaufgeschäften genutzt hat.

In Treffurt komme ich relativ verschwitzt gegen halb sechs an und versuche so langsam eine Unterkunft zu finden. In der Nähe eines kleinen ‚Grenzhäuschens‘, in dem man mit dem einen Bein in Thüringen und dem anderen in Hessen steht, finde ich einen Handzettel: Übernachtungsmöglichkeit in Großburschla, einer ehemaligen Enklave, die in der Nähe von Eschwege/Wanfried in die Bundesrepublik hineinreichte. Nach einigen Kilometern und mehrfachem Durchfragen finde ich die relativ neue Pension kurz vor der Grenze zu Hessen. Die Unterkunft ist zwar sauber, aber das Speisenangebot übersichtlich und der Internetzugang lässt – wie so oft – sehr zu wünschen übrig.

Tag 17 (03.08.18):  Von Großburschla nach Heiligenstadt

Km: 592-630

Gut ausgeschlafen stehe ich auf und freue mich auf das Kloster Hülfensberg. Nachdem ich mit meinen Tagebucheinträgen hinterherhinke und morgens mindestens einen Tag abarbeiten muss, komme ich so gegen halb zehn los. Es sollen wieder über 30 Grad werden.  Großburschla war zu DDR-Zeiten wegen des seltsamen Gernzverlaufs aus der DDR nur über einen eigens gebauten Damm zu erreichen.  Die Kinder der Wirtsleute haben studiert und leben teilweise in der Nähe von Braunschweig. Man macht sich Sorgen, was mal später werden soll.

Nächste Station ist Wandfried, das ein wahrlich schön restauriertes Fachwerkhaus als Rathaus besitzt. Im Hof befindet sich eine Aufladestation für E-Räder. Ich fahre mit dem stärksten Gang meines E-Bikes den Berg nach Döringsdorf hoch. Ein steiler Anstieg. An der Stelle, wo früher die Grenze verlief, haben Anfang der 90er Jahre Katholiken aus dem Eichsfeld ein großes Kreuz zur Erinnerung an die Teilung Deutschlands aufgestellt. Ein Steinwurf entfernt befindet sich eine kleine Kapelle. Ich zünde wie so oft, wenn ich in einer Kirche bin, drei Kerzen an.

Bei der Weiterfahrt traue ich meinen Augen nicht. Es kommen vier jugendliche Reiterinnen auf der Straße den Berg hochgeritten und passieren das große braune historische Hinweisschild, das darüber informiert, dass hier bis zum 25. Dezember 1989 um 6 Uhr in der früh Deutschland und Europa geteilt gewesen seien. Die erste Reiterin kommuniziert mit ihrem Handy, die anderen drei trotten hinterher… Ich vermute mal, dass ihnen gar nicht bewusst ist, dass hier die Grenze verlief, geschweige denn dass Menschen und Generationen vorher getrennt waren und Leid erfahren haben.

Den sehr steilen Aufstieg zum schon seit Jahrhunderten bestehenden Kloster Hülfensberg schafft mein E-Bike gut. Oben angekommen habe ich eine herrliche Aussicht von der Kanzel. Sowohl die Kirche als auch die Kapelle haben etwas Eigenartiges, es ist wie in vielen Gotteshäusern eine starke Spiritualität zu spüren. Die Kühle tut ebenso gut.

Ich will mich bei Bruder Rudolf für den häufigen E-Mail-Verkehr bedanken. Vor wenigen Tagen habe ich eine Absage erhalten, dass ich die von mir geplanten drei Tage zur Einkehr, zur Besinnung und zum Rückblick auf die bisherige Reise nicht im Kloster verbringen kann. Man sei ausgebucht bis zum Oktober. Trotzdem kommt es zu einem kurzen Treffen mit dem Franziskanermönch, der aus Ostwestfalen stammt und seit einigen Jahren mit zwei seiner Mitbrüder die Tradition fortsetzt.

Er berichtet von den Ereignissen des Jahres 1989, insbesondere der Tatsache, dass der damalige nur noch allein das Kloster bewohnende Pater am frühen Morgen des Weihnachtstages 1989 eine Messe mit 1000 Gläubigen aus den umliegenden Orten abhielt, bevor sie gemeinsam zum neu errichten Grenzübergang gegangen sind und die 400 schon wartenden Menschen aus dem Westen trafen. Welch ein historischer Moment muss dies nach all den Jahren der Teilung gewesen sein!

Da ich nicht direkt auf der Straße nach Heiligenstadt fahren will, geht es mal wieder über einen Feldweg, zunächst zweimal in die Irre mit Endstation, bevor ich den richtigen, schmalen Pfad finde, dann aber zweimal das Gepäck abschnallen muss, um schließlich alles einzeln, Fahrrad und Gepäck, über einen Baumstamm zu heben.

In Geismar erhalte ich freundliche Auskunft. Eine Gaststätte gibt es zwar nicht, die auf hat, aber einen Netto-Supermarkt: `Geh doch zu Netto`. Es ist alles unwirklich für mich. Nagelneuer Supermarkt hier im ehemaligen Sperrgebiet. Man kann herrlich abkühlen im Inneren und der mindestens zehn Jahre ältere, drahtige Radfahrer, den ich dort antreffe, fährt täglich noch einige Stunden.

Nach Volkerode und Kella, wo mein Vater 1945 angefangen hat zu unterrichten, komme ich, wie ursprünglich geplant, heute nicht mehr. Ich sehe zu, wie ich in der sengenden Hitze durchs hügelige Eichsfeld nach Heiligenstadt in das gebuchte Wellnesshotel komme. Über Ershausen fahre ich in der Mittagshitze durch verschlafene Dörfer wie z. B. Lehna, Rüstungen und Dieterode Richtung Norden. Zum Glück erlaubt mir die nette Wirtin in Dieterode meinen Akku wieder aufzutanken. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Tettau lässt grüßen. Der Schmandkuchen, wohl eine Eichsfelder Spezialität, ist ein Gedicht. Von den Dieteröder Klippen, sie sehen wirklich so aus, hat man einen herrlichen Ausblick in das südliche Eichsfeld, bis in den Westen.

Über Kalteneber geht es hoch zum Fortshaus im Heiligenstädter Stadtwald. Ich suche den Gedenkstein für meinen auf der Jagd erschossenen Großvater, der am 11. Dezember 1960 dort in seinem Revier bei einer Treibjagd von einem Mitglieder der SED-Kreisleitung, einem unerfahrenen Jäger, durch zwei Schüsse getötet worden ist. Der Gedenkstein war seinerzeit von meinem Onkel Ernst aufgestellt worden und ist in den letzten Jahren von ehemaligen Forstkollegen, u. a. Bernhard Fahrig aus Niederorschel, mit neuer Farbe restauriert worden.

Auf der Sitzbank erinnere ich mich an die bedrückenden Tage des Dezember 1960, an die Totenmesse im Heiligenstädter Redemptoristenkloster, die Beerdigung auf dem Friedhof unter massenhafter Anteilnahme der Bevölkerung. Ein schreckliches Ereignis, das mir bis heute in Erinnerung bleibt…

Kontrastprogramm: Ich fahre an dem ehemaligen Haus meiner Großeltern vorbei, das mittlerweile verkauft wurde, und gelange zum Best Western Hotel, dem ein Schwimmbad mit Saunalandschaft angeschlosssen ist. Mit meinem Gepäck komme ich mir irgendwie fehl am Platze vor.

Ellen, meine Frau, kommt nahezu pünktlich aus dem Schwarzwald mit der Bahn angereist. Nach drei Wochen haben wir uns viel zu erzählen und verbringen einen netten Abend auf der Terrasse des Hotels.

Tag 18 (04.08.18):  Heilbad Heiligenstadt – Ruhetag

Km: 630

Heute steht kein Fahrradfahren auf dem Programm! Nach einem ausgiebigen Frühstück auf der Außenterrasse kommen wir noch mit einer Kellnerin ins Gespräch: Sie ist in dem kleinen 200-Seelen-Ort Röhrig, wo ich einige Jahre meiner Kindheit bis zur Flucht aus der DDR verbracht habe, geboren.

Auf dem Weg in die Innenstadt kommen wir am Schwimmbad vorbei. Die Erinnerung holt mich ein. War es 1959 oder 1960, als ich als Neun- oder Zehnjähriger mit mir und dem Schwimmen gekämpft habe? 45 Minuten am Stück schwimmen, um das Fahrtenschwimmerabzeichen zu erhalten. Ich erinnere mich an die lange Zeit, die Minuten und Minuten, die nicht vergehen wollten. Kein Anfassen des Beckenrandes, immer schön im Wasser in Bewegung bleiben. Wurde u. a. hier die Grundlage für den späteren Ehrgeiz, alles zu bestehen und zu schaffen, was ich mir vorgenommen habe, gelegt …? Beim Blick auf das schon leicht gefüllte Schwimmbecken werde ich mal wieder wehmütig wie schon öfters auf dieser Reise in die Vergangenheit.

Die Wilhelmstraße, wohl ein Relikt aus der Kaiserzeit, die zu DDR-Zeiten offiziell Karl-Marx-Straße hieß, aber von den Einheimischen nur Willem genannt wurde, hat sich seit der Wende verändert. Häuser haben neue Farben erhalten, Außencafés sind entstanden, aber auch eine Reihe von billigen Textilläden befinden sich genau wie in Herford mittlerweile dort. Ich kaufe mir ein leuchtendes T-Shirt, wahrscheinlich ein billiger Import. Mein schlechtes Gewissen hält sich in Grenzen. Ich habe oft Otto, einen Kollegen und Freund aus Herford im Kopf, der beim Fahrradfahren tödlich verunglückt ist.

Ich sehe eine Erinnerungstafel an Theodor Storm und seine Zeit in Heiligenstadt. Wo finde ich wohl eine Erinnerungstafel an den jungen Heinrich Heine und seine Zeit am Amtsgericht in meiner Heimatstadt?

Nach dem Besuch im VitalPark lauschen wir abends dem Sommerkonzert. Die Tanzdarbietungen der halbprofessionellen Paare sind eine Augenweide, die musikalischen Darbietungen der Band nur teilweise. Alles gesponsert von der Volksbank Mitte, einer Verschmelzung der Volksbanken Heiligenstadt und Duderstadt. Irgendwie habe ich immer noch das Gefühl, dass ich in einem anderen Film bin, obwohl es schon nahezu drei Jahrzehnte keine Grenze mehr gibt.

Beim Absacker an der Hotelbar kommen wir mit einer Mitarbeiterin ins Gespräch, die sich bewusst für das Arbeiten in Thüringen und nicht in Hessen entschieden hat, obwohl sie nur wenige Kilometer von der hessischen Grenze entfernt wohnt. Als Grund gibt sie Mentalitätsunterschiede an. Ein Aspekt, der sich bisher durch viele Gespräche zog.

Ein Tag ganz ohne Fahrrad tut gut …

Tag 19 (05.08.18):  Heilbad Heiligenstadt                                                        

Km: 630 – 652

Nach dem Frühstück fährt Ellen wieder in den Schwarzwald zurück, nicht ohne dass wir auf dem Bahnhofsvorplatz noch ein Erinnerungsfoto gemacht haben. Ellen fotografiert mich sitzend auf genau derselben Bank, auf der es im Sommer 1958, also zwei Jahre nach der DDR-Flucht meines Vaters mit mir, das letzte gemeinsame Familienfoto gegeben hat. Die vier Kinder in der Mitte, drei davon einheitlich gekleidet, sowie Vater und Mutter jeweils an den Außenrändern. Dies sollte der letzte Versuch der Familienzusammenführung sein … Die Trennung von meiner Mutter war bitter, aber letzten Endes bedeutete sie doch einen gewissen inneren Frieden, der angesichts der permanenten Eheauseinandersetzungen in den ersten Jahren meiner Kindheit nicht vorhanden war …

Nachdem ich Ellen im Zug nach Kassel hinterhergewunken hatte, habe ich erstmal versucht, eine preiswertere Unterkunft in Heiligenstadt und Umgebung zu finden. Mehrere telefonische Anfragen bei Hotels und Gaststätten waren erfolglos, weshalb ich zunächst etwas enttäuscht in die Stadt fuhr und schließlich einem Schild mit dem Hinweis auf eine Übernachtungsmöglichkeit folgte. MCH war dort zu lesen.

Ich staunte nicht schlecht, als ich unter den Linden, eigentlich müsste es heißen Lindenallee, vor dem ehemaligen bischöflichen Konvikt stand, einer Ausbildungseinrichtung für den Priesternachwuchs, die mittlerweile als Familien- und Jugendbegegnungsstätte genutzt wird. Nachmittags kurz vor zwei ist die Tür verschlossen. Ich zögere, entschließe mich dann aber doch zu klingeln. Mehr als eine Absage kann es auch nicht geben, wenn überhaupt jemand da ist! Doch die Tür öffnet sich und eine etwas irritierte, zunächst unschlüssige Frau hört sich meine Geschichte an: in Heiligenstadt geboren und jetzt auf der Durchreise… Irgendwie muss ich wohl einen hilfsbedürftigen, aber doch noch halbwegs seriösen Eindruck gemacht haben. Ich darf jedenfalls mein Gepäck dalassen und soll zwischen fünf und sechs wiederkommen. Ein Zimmer sei vorhanden.

Ohne Gepäck geht es steil zum Iberghaus hoch. Ich habe die Gelegenheit, mit Herrn M. und seinem Vater zu sprechen, der mich noch von früher kennt und der mit seinem Sohn zusammen die Gastwirtschaft in der vierten Generation führt. Diese früher sehr beliebte Ausflugsgaststätte über der Stadt bietet einen herrlichen Ausblick auf Heiligenstadt. Wir sprechen über das Schicksal meines erschossenen Großvaters, auch über meinen Vater und meine Tante Rosemarie, die auch oft zu Gast war. Schließlich treffe ich noch einen über 80-jährigen Heiligenstädter, der zu DDR-Zeiten seinen Angaben zufolge immer Kontra gegeben, ansonsten aber seine Geschäfte gemacht hat.

Abends sitze ich nach dem gemeinsamen Abendessen mit der aus Jena angereisten katholischen Kinder- und Jugendgruppe (beim Beten und anschließendem Kreuzzeichen werde ich ein wenig argwöhnisch beäugt!) unter der herrlichen Linde im Innenhof des Konvikts und versuche meinen Rückstand im Tagebuchschreiben aufzuholen. Ich komme mit M., einem pädagogischen Mitarbeiter des Hauses ins Gespräch, der erst seit kurzem hier im katholischen Eichsfeld ist. Ursprünglich kommt er vom Niederrhein, hat aber lange Zeit in Zwickau gelebt. Man merkt ihm an, dass er Theologie studiert hat und wir sind sehr schnell in ein sehr persönliches Gespräch über Gott und die Welt, das Transzendentale, aber auch über verschiedene Stationen in unserem Leben vertieft. Es entwickelt sich ein sehr persönliches Gespräch, das in den nächsten Tagen noch nachwirkt. Meine lebensgeschichtliche Reise, der Versuch nach sieben Jahrzehnten eine vorläufige Bilanz zu ziehen, ist dabei der Ausgangs- und Anknüpfungspunkt.

Nachts schlafe ich unruhig. Liegt es an dem Ort oder an der Intensität der Gespräche?

Tag 20 (06.08.18)  Heilbad Heiligenstadt

KM: 640 – 652

Die Nacht schlafe ich sehr unruhig. Ich wache gegen vier Uhr in der Frühe auf und muss mich erst einmal orientieren. Das behindertengerecht eingerichtete Zimmer Nr. 163 im EG hat etwas Spartanisches, vielleicht liegt es auch an den doch sehr intensiven Diskussionen des vergangenen Abends. Ich setze mich unter die herrlichen Schatten spendende Linde und versuche, meine Tagebuchaufzeichnungen der letzten Tage auf den neuesten Stand zu bringen.

Ich überlege mir das Programm für die nächsten Tage und rufe zunächst meinen Cousin Ernst-Georg an, mit dem ich schon seit einigen Monaten wieder telefonischen Kontakt aufgenommen hatte. Der Zufall (?) will es, dass er gerade mit dem Auto am ehemaligen Marcel-Callo-Haus vorbeifährt. Spontan setzen wir uns auf eine Tasse Kaffee im Innenhof des Konvikts zusammen und bringen uns persönlich und familiengeschichtlich auf den neuesten Stand. Schließlich haben wir uns mindestens seit zwei Jahrzehnten nicht mehr gesehen. So erfahre ich auch, dass er gerade heute Geburtstag hat.

Am späten Nachmittag fahre ich dann mit einer Flasche französischem Rotwein nach Geisleden zu seiner Geburtstagsfeier. Dort treffe ich auch seine Frau Barbara, seine Töchter Beatrix und Iris sowie die drei Enkel. Es ist von Anfang eine große Freude und Herzlichkeit. Es fühlt sich an wie ein familiäres Nachhausekommen im Eichsfeld. Kuchen und Gehacktes gehören natürlich dazu. In Windeseile organisieren meine Schwägerin und meine Nichten für mich ein Treffen mit ehemaligen Schülerinnen und Schülern meiner Eltern in Beuren sowie in Röhrig, wo beide als Lehrer/innen gearbeitet haben. Ebenso laden mich Iris und Beatrix nach Uder ein, wo sie wohnen bzw. arbeiten.

Abends treffe ich mich wieder mit M. im Marcel-Callo-Haus. Marcel Callo übrigens, und das verwundert mich schon ein wenig, ist der Namensgeber dieser Bildungsstätte in dem doch eher konservativ geprägten Eichsfeld. Er war ein französischer Laienpriester, der sich freiwillig zum Arbeitseinsatz in Deutschland gemeldet hatte, um seinen Landsleuten seelsorgerisch beizustehen. Seine klare Opposition zum NS-System hatte zur Folge, dass er ins Gefängnis musste und dann schließlich im März 1945 im KZ umgekommen ist. Von der katholischen Kirche wurde er dann später selig gesprochen. Es ist zu hoffen, dass die jugendlichen Besucher nicht nur etwas über die Geschichte von Marcel Callo erfahren, sondern auch seinen Mut und seine Standfestigkeit in Fragen der Menschenrechte übernehmen.

Die wiederum sehr intensive Diskussion mit M. wird im Hotel Norddeutscher Bund, einem mittlerweile wieder sehr schön zurecht gemachten Hotel mit Außengastronomie, fortgesetzt. Dort treffen wir Freunde und Bekannte von ihm, die schon seit mehr als einem Jahrzehnt im Eichsfeld wohnen. Es ergeben sich in noch schwüler Hitze interessante Gespräche über die Mentalität der Eichsfelder, mögliche Unterschiede zwischen Ost und West, vielleicht auch die Unterschiede zwischen Menschen, die nah an der Grenze zu DDR-Zeiten gewohnt haben, also durch den kleinen Grenzverkehr immer schon mehr Kontakte mit der Bundesrepublik gehabt hatten als z. B. Menschen in Leipzig, Dresden, Bochum oder Köln. Es freut mich besonders, dass ein Gesprächspartner, der in der evangelischen Kirche aktiv ist, auch das Gefühl hat, dass man angesichts der rechtspopulistischen Propanganda so langsam aufstehen müsse und öffentlich und privat Farbe bekennen müsse.

Tag 21 (07.08.18):  Heilbad Heiligenstadt

KM: 652 -692

Am nächsten Morgen merke ich, dass der letzte Abend doch etwas zu lang war, zuerst Wein und dann Bier, wohl etwas zu viel bei der Hitze. Man ist halt nicht mehr der Jüngste. Um halb zehn fahre ich hoch zum Forsthaus in Heiligenstadt, ohne volle Gepäcktaschen, es ist ein langer Anstieg, aber mit dem Turbogang des Boschmotors meines E-Bikes geht es ohne Probleme den Berg hoch. Das Forsthaus hat nicht geöffnet, nur an Wochenenden. Eigentlich schade, aber doch wohl realistisch.

Um halb elf kommt Bernhard Fahrig, ein früherer leitender Forstbeamter im Forstamt Heiligenstadt. Bernhard hat mit Freunden den Gedenkstein für meinen auf der Jagd erschossenen Großvater im letzten Jahr restauriert, mit Bürsten die erhabenen Buchstaben wieder deutlich herausgearbeitet und dann die Buchstaben mit weißer Schrift lesbar gemacht. Die Thüringer Allgemeine hat darüber am 1. Juli 2017 berichtet.

Bernhard ist angesichts der lang anhaltenden Dürre um die Natur sehr besorgt. Er zeigt mir die Risse im Trampelpfad zum Gedenkstein. Es ist ein Bild wie im Sommer in Spanien oder Süditalien. Wo soll das mit dem Klimawandel noch hinführen? Er zeigt mir die vielen braunen Blätter, die auf dem Waldboden liegen. Ich stelle ihm die Frage, was in ein paar Jahren, Jahrzehnten unsere Kinder und besonders unsere Enkel uns fragen werden, was unser Beitrag zum Temperaturanstieg war. Wir haben – vielleicht – unsere Eltern nach ihrer Rolle im Dritten Reich gefragt. Werden unsere Enkel uns nach unseren Konsum- und Reisegewohnheiten in den letzten 30 oder 40 Jahren fragen? Ich interviewe Bernd auf der Bank sitzend und zum Abscnied bekomme ich eine Flasche Schnaps mit selbst aufgesetzter Wildkirsche geschenkt, die ich dann und wann ‚zur Feier des Tages‘ heraushole.

Es ist so heiß, dass ich erst mal wieder ins Konvikt fahre und mich eine halbe Stunde auf das Bett lege und die relative Kühle genieße. Um viertel nach eins hilft trotzdem nichts: Barbara hat freundlicherweise um zwei einen Termin für mich in der Schule in Beuren ausgemacht. Ich verschätze mich in der Entfernung und komme in der Gluthitze zehn Minuten zu spät an. Ich traue meinen Augen nicht. Drei noch sehr rüstige 80-Jährige und ein Mittsechziger, eine frühere Englisch- und Deutschlehrerin, begrüßen mich freundlich.

Welch ein Unterschied zwischen den alten DDR-Schulen und der Montessori-Grundschule, die sich jetzt in dem Gebäude befindet. Die Schulräume sind bunt bebildert eingerichtet, man fühlt sich gleich wohl, Kuschel- und Sitzecken inklusive. Man spürt den Hauch von Montessori. Oben unter dem Dach befindet sich ein kleines historisches Kabinett, wie man in der ehemaligen DDR wohl sagen würde. Sehr liebevoll eingerichtet, alte Schulbänke, Zeugnisse, Klassenbücher, Trachten und sogar eine kleine DDR-Ecke mit FDJ- und Pionierhemd sind vorhanden. Und hier habe ich also meine ersten drei Jahre, von Ende 1948 bis Mitte 1952, verbracht. Es überfällt mich ein seltsames Gefühl. Ich werde nachdenklich. Vielleicht ist es auf dem Foto zu sehen?

Später sind wir bei Herrn R. und seiner Frau zuhause zum Kaffee eingeladen. Es werden verschiedene Storys über meinen Vater erzählt. Zwei Anwesende hatten bei ihm Mathematik und Sportunterricht. Sein Ansehen war hoch, weil er allen Schwimmen beigebracht und Fahrradtouren unternommen hat. Was mich allerdings sehr verwundert, waren seine ‚handfesten‘ Argumente, von denen die Schüler berichteten. Backpfeifen schienen an der Tagesordnung zu sein und ein aufmüpfiger Schüler landete im Rahmen eines Boxkampfes wohl auch mal im Kohlekasten … Heute wohl alles unvorstellbar, aber in der damaligen Zeit war es gang und gebe und die Schüler wagten sich dann nicht nach Hause, weil die Eltern vielleicht die rote Backe hätten sehen können und es nochmal eine gesetzt hätte. Ich bin verwundert ob dieser Berichte. Mein Vater hat mich trotz aller Probleme und Auseinandersetzungen nie geschlagen …

Das alte Pfarrhaus wird restauriert. Wehmütig schaue ich mir den verkleinerten Garten an. Hier habe ich Ostereier mit meiner Tante Meyer gesucht, eine der glücklichen Stunden meiner Kindheit ebenso wie die Besuche später bei ihr, als wir schon in Röhrig wohnten. Mein Vater auf dem Motorrad, ich als kleiner Steppke auf dem Tank sitzend, bei Wind und Wetter von Röhrig nach Beuren und zurück. Haarstreubend heute, wenn man an die Sicherheitsvorschriften denkt …

In der Dorfkirche von Beuren übt ein junges Mädchen mit der Gitarre moderne Kirchenlieder, ein Lehrer unterstützt sie dabei. Einige Momente des Insichgehens, der Harmonie. Vor der Kirche fegt eine Frau meines Alters die Straße und beseitigt das Gras in den Ritzen. Auch sie trauert ein wenig der DDR-Zeit, dem Zusammenhalt im Dorf nach, aber stolz berichtet sie von den Fahrradtouren, die sie mit ihrem Mann an Donau und Mosel gemacht hat.

Auf dem Rückweg nehme ich wieder den Fahrradweg über Wingerode und Bodenrode, weil die Bundesstraße 80 zu gefährlich ist. In den Dörfern auf dem Weg nach Heiligenstadt fallen mir die vielen Neubauten und die schön renovierten Fassaden der Fachwerkhäuser auf. Es scheint Wohlstand vorhanden sein, was man auch an den Autos auf der Straße sieht.

Nach einem kurzen Boxenstopp in einer Dönerbude geht es noch schnell in die Martinskirche, wo M.s früherer Schulkamerad ein kurzes, improvisiertes Orgelkonzert für einige Gäste des Marcel-Callo-Hauses gibt. Es zerreißt mir fast die Brust, so eine musikalische Gewalt strömt auf mich ein. Ein Auf und Ab an lauten und leisen Tönen, die mir ins Mark gehen… Ich denke, irgendwie ist es symbolisch für den Verlauf meines bisherigen Lebens.

Tag 22 (08.08.18) : Heilbad Heiligenstadt

KM: 692 – 719

Am nächsten Morgen fühle ich mich ausgeschlafener, erholter. Um halb elf bin ich mit ehemaligen Schulkameraden in Röhrig (Quitschen Röhrchen) verabredet. Auf dem Weg dorthin besuche ich das Freibad in Uder, in dem ich als Sechsjähriger Schwimmen und Springen vom Ein-Meter-Sprungbrett gelernt habe. Ich wollte partout nicht, aber mein Vater hat mich mit einer Bockwurst gelockt: „Wenn du runterspringst, bekommst du eine Bockwurst.“ Schließlich, nach langem Überlegen und voller Angst bin ich dann in die Arme meines Vaters gesprungen. Die Bockwurst, die damals viel für mich bedeutete, hatte ich mir teuer verdient. Später war Wasser nie mehr mein Element. Wohl ein Ergebnis dieser Bockwurst-Herausforderung.

Der langsame Anstieg nach Röhrig erinnert mich an das Fahren mit dem Roller den Berg runter, das Schubsen meines Bruders Hannes und den dadurch verursachten Sturz. Ich habe geheult. Später erzählte er mir, dass ich ihn dafür irgendwann mal mit dem Küchenmesser auf dem Tisch festgenagelt hätte. Ungläubig schaute ich mir seine Narbe an. Sollten diese kindlichen und frühkindlichen Spannungen zwischen dem Erstgeborenen und dem Zweitgeborenen, der lange Zeit als ‚Erstgeborener‘ und Einzelkind von der Oma mütterlicherseits verwöhnt und bevorzugt wurde, einer der Gründe für die familiären Spannungen sein?

Ich fahre den Berg hoch nach Röhrig, malerisch am Waldrand gelegen, mein Herz schlägt schneller. Ich spüre, dass sich hier in diesem kleinen Eichsfelder Bauerndorf der Fünziger Jahre ein Teil meiner Wurzeln befindet. Ist es diese Mischung aus katholischer Eichsfelder Dickköpfigkeit und Geradlinigkeit sowie dem protestantischen Arbeitsethos meiner Mutter, dem evangelischen Flüchtlingsmädchen aus der Nähe von Lodz, die mich haben werden lassen, was ich in nahezu sieben Jahrzehnten geworden bin?

Im Dorfzentrum befindet sich das frühere Schulgebäude, wo ich bis zum 29. Juni 1956, dem katholischen Feiertag Peter und Paul, mit meinen Eltern und meinen drei Brüdern gelebt habe. Ich erinnere mich an traumatische Situationen, als nachts meine Mutter wutenbrannt das Geschirr durch das geschlossene Fenster geworfen hat, weil mein Vater mal wieder spät und im feuchtfröhlichen Zustand nach Hause gekommen war, aber auch an meine Einschulung im Herbst 1955 und die Peinlichkeit, dass es mir nicht gelang für das Einschulungsfoto meine zu lange Unterhose hochzuziehen. Sie ‚lugte‘ unten raus, was mir sichtlich peinlich war.

Ich denke auch an meinen damaligen besten Freund Heinz K., mit dem ich viel Zeit verbracht habe und mit dem ich mich später nach der Flucht aus der DDR immer noch an und ab getroffen habe. In seiner Jugend ist er wohl ein sehr guter Fahrradfahrer geworden und war wohl auf Bezirksebene erfolgreich – ein Beispiel für die erfolgreiche Talentförderung des staatlichen Sportsystems in der DDR. Später hieß es, er sei mit Mitte Fünfzig verstorben.

Nach einem kurzen Besuch in der Kirche, wo sich drei Familien für den bevorstehenden Kuchenbasar im Nachbarort angemeldet haben – eigentlich etwas wenig für einen Ort mit ca. 200 Einwohnern – gehe ich zum Haus von H. und G.. Sehr freundlich werde ich von G., der zwei Jahre älter ist als ich, begrüßt. Wir gehen in die gute Stube und H. und ich stellen fest, dass wir zur selben Zeit im Herbst 1955 eingeschult worden sind – welch eine Überraschung und Freude! Beide können sich noch an meine Eltern als Lehrer/innen erinnern, mehr aber wohl an meinen Vater, der vor allem wohl bei den jüngeren Leuten im Dorf beliebt war, weil er den ersten Fernseher besaß. Daran, dass im Januar 1956 bei den Olympischen Winterspielen in Cortina D`Ampezzo bei uns zuhause das ganze Wohnzimmer voll war, was meiner Mutter mit den vier Kindern natürlich nicht so passte, kann ich mich noch schemenhaft erinnern.

Wir sprechen über unsere unterschiedlichen Werdegänge, das Aufwachsen und Erwachsenwerden in der DDR und der Bundesrepublik, die Probleme mit den Kindern, die nicht zur Jugendweihe gehen wollten und deshalb nicht den gewünschten Beruf erlernen durften bzw. über den Zwang, in die Partei einzutreten, um den gewünschten Beruf erlernen und ausüben zu können, den Spagat im katholischen Eichsfeld seinen Glauben leben und gleichzeitig sich beruflich verwirklichen zu können.

Wir kommen auch auf die Veränderungen nach der Wende zu sprechen, die Schließung der großen Textil- und Papierfabriken in Heiligenstadt und Leinefelde, die im Zuge des ‚Eichsfeldplanes‘ der SED in den Sechziger und Siebziger Jahren errichtet wurden und oft Konsumgüter für die BRD produzierten. Die persönlichen Verwerfungen, die durch Entlassungen, Umstrukturierungen und die Übernahme eines anderen Gesellschafts- und Wirtschaftssystem entstanden, waren natürlich auch ein Thema. Es entwickelt sich ein sehr persönliches, vertrauliches Gespräch, auch über positive und negative Erfahrungen und Sorgen so, als ob man sich schon immer gut verstanden hätte und wir in den vergangenen sechs Jahrzehnten immer in Kontakt geblieben wären. Dass meine frühere Klassenkameradin mir mehrere Gläser selbst hergestellten (Himbeer?)-Saft zu Trinken gibt, ist mir natürlich etwas peinlich, aber ich denke, die beiden hatten angesichts der Hitze draußen und der Tatsache, dass ich mit dem Fahrrad unterwegs war, Verständnis dafür.

Der Besuch dauert länger als geplant. Hildegard und Gerhard laden mich zum Mittagessen ein. Bevor ich die herrlichen, neuen Kartoffeln und das Gemüse aus dem eigenen Garten genießen kann, wird gebetet. Es ist für mich, der sich schon mehrere Jahrzehnte von der katholischen Amtskirche entfernt hat, ohne ganz die Beziehung aufgegeben zu haben, eine überraschende Situation. Auch ich beende das Gebet mit dem Kreuzzeichen, was ich im Marcel-Callo-Haus in Heiligenstadt beim Abendtischgebet mt der Jugendgruppe noch verweigert hatte.

Wir kamen dann auf die anderen Klassenkameraden zu sprechen. Zu meiner großen Überraschung und Freude erzählte mir H., dass mein alter Kumpel und Freund Heinz K. noch am Leben sei und im nahen Worbis wohne. Ich konnte es nicht fassen. Wahrscheinlich der schönste Moment auf meiner bisherigen Reise in die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Bei dem Angebot ihn anzurufen und mit ihm zu sprechen, zögerte ich noch ein wenig. Heinz weiß sofort Bescheid, als H. ihm sagt, hier sei sein alter Kumpel aus Röhrig, der ihn sprechen wolle. Ich kämpfe mit meinen Gefühlen, genau wie beim Schreiben dieser Zeilen: Es ist nicht zu fassen. Nach nahezu sechs Jahrzehnten sprechen wir einmal wieder miteinander und verabreden uns bei meinem nächsten Besuch im Eichsfeld.

Nach dem Mittagessen fahren wir gemeinsam zur Schule und machten Fotos. Es war eine gute Idee, dass ich nicht nur ein großes Stativ für Aufnahmen mit Selbstauslöser hatte, sondern auch ein so genanntes ‚Gorillapad‘, das mir diente, wenn ich vom stehenden oder fahrenden Fahrrad aus Fotos oder Videos machen wollte. Vor der Schule, auf derselben Stufe wie vor 63 Jahren standen wir also nun, und versuchten in die Kamera zu lächeln. Wenn ich wieder zuhause in Herford bin, werde ich das Bild aus dem Jahre 1955 herauskramen und vergleichen.

Schließlich fahren G. mit Auto und ich natürlich steil den Berg hoch zum Sportplatz: Das ganze Gras braun, verbrannt und schon seit Jahren kein Fußballspiel mehr, da es nicht mehr gelingt, eine Mannschaft aufzustellen. Eine ähnliche Entwicklung wie in den Orten jenseits der Grenze. Ich erinnere mich noch genau, wie mein zweitgeborener Bruder und ich im Bollerwagen hinter dem Tor, das mein Vater beim Fußballspiel hütete, saßen … und uns über den für uns als Kinder nicht mehr auszuhaltenden Streit der Eltern unterhielten.

Durch den sehr trockenen Wald, einem schlecht zu fahrenden Schotterweg folgend, gelangte ich nach Uder, wo ich meine Großnichte Iris besuchte. Ihr kürzlich errichtetes Haus befindet sich in einem Neubaugebiet, dem man ansieht, dass der wirtschaftliche Wohlstand das Eichsfeld drei Jahrzehnte nach der Wende mehr als erreicht hat. Iris zeigt mir alte Fotos, schenkt mir das Hochzeitsbild ihrer Großeltern väterlicherseits und wir tauschen Anekdoten , teilweise unbekannt und zum Schmunzeln geeignet, aus der wechselvollen Familiengeschichte der Familie Pingel,  besonders der Väter und Großväter, aus …

Auf dem Nachhauseweg versuche ich in der Alten Burg, einer Gaststätte zwischen Heiligenstadt und Uder, einzukehren. Hier hat mein Vater, als wir mit dem Motorrad unterwegs waren, wie gesagt: er auf dem Sitz und ich vor ihm auf dem Tank, öfters Rast gemacht. Am Nachmittag um fünf stand da ein Schild: ‚heute nur mittags geöffnet‘.  Ich vermute, mittags steht geschrieben, dass nur abends geöffnet sei. In der Stadt fahre ich erstmal zu Rewe und hole mir in der  Fleischabteilung ein Viertel Thüringer Mett,  dazu ein paar Bröt-chen …
Abends falle ich müde ins Bett. Der Tag war sehr schön und erlebnisreich, aber emotional auch sehr anstrengend.

Tag 23 (09.08.18): Von Heiligenstadt nach Sickenberg

KM: 719 – 732

Heute hat meine Tochter Theresa Geburtstag. Sie wird 29 Jahre alt. Manchmal denke ich, es war vorgestern, als sie geboren wurde, morgens kurz vor vier. Zum Glück habe ich es noch rechtzeitig geschafft, ihr eine Geburtstagskarte mit einem Gutschein zu schicken. Ich rufe sie auf dem Weg zur Arbeit an und wir verabreden, nach meiner Rückkehr gemeinsam auf ihren Geburtstag anzustoßen.

Bevor ich mich auf den Weg nach Uder, diesmal aber mit dem gesamten Gepäck, mache, gehe ich noch kurz im Eichsfelder Heimatmuseum vorbei, um dem jungen, engagierten Leiter, der mir vor einigen Monaten wertvolle Tipps in Bezug auf die Recherche zum Todesfall meines Großvaters gegeben hatte, schöne Grüße ausrichten zu lassen.

In Uder treffe ich meinen Cousin Ernst-Georg wieder, der mir das von seiner Tochter Beatrix errichtete neue Alten- und Pflegeheim zeigt. Ich bin ob des modernen Standards und der schönen Einrichtung beeindruckt. Ein Beispiel, dass zwischen Ost und West in vielen Dingen keine Unterschiede mehr bestehen. Dort treffe ich kurz mit einem ehemaligen Schulkameraden meines Vaters und einer älteren Frau aus Röhrig zusammen, die meine Eltern und mich wohl noch kannte, aber angesichts ihrer fortgeschrittenen Demenz kommt leider kein richtiges Gespräch zustande. Es ist ein weiterer Hinweis darauf, dass man wichtige Dinge besser nicht verschiebt.

Bergauf über Wüstheuterode – ein Glück, dass ich ein E-Bike habe! – und Dietzenrode fahre ich in Richtung des Grenzmuseums Schifflersgrund bei Sickenberg. Oben in Sickenberg angekommen, sticht mir ein großes, stattliches Gehöft ins Auge. Ein Bio-Bauernhof, der auch Zimmmer anbietet (www.hof-sickenberg.de). Es ist kurz nach eins, ich bin kaum 15 Km gefahren, aber instinktiv sehne ich mich nach Ruhe. Unangemeldet frage ich die etwas erstaunte Hofbesitzerin, ob heute eine Übernachtung möglich sei. Ich lade mein Gepäck ab und fühle mich im Haus in meine Kindheit versetzt: Ein liebevoll renoviertes Fachwerkhaus, zu Beginn des 19. Jahrhunderts als zentraler Mittelpunkt eines Viereckgehöfts errichtet, versprüht den Charme der Fünfziger und Sechziger Jahre meiner Eichsfelder Kindheit.

Nach einer erholsamen Mittagspause fahre ich die kurze Strecke zum Grenzlandmuseum, wo ich an der Kasse eine nette junge Frau – später erzählt sie mir, dass sie drei Jahre in Herford gewohnt habe -treffe, die mich ins Archiv bringt. Dort diskutiere ich mit einem Mann, der etwa Ende dreißig ist, die Situation an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze, die unterschiedlichen Mentalitäten, die er Anfang der 00er-Jahre in der Bundeswehr erfahren hat. Er hat ein sehr profundes Wissen, was die Geschichte der Bundesrepublik bis zum Fall der Mauer im Jahre 1989 angeht. Es macht Spaß, mit ihm zu diskutieren, auch wenn ich nicht all seine politischen und historischen Einschätzungen teile.

Abends im Hof Sickenberg, der als mustergültiger Betrieb vom Land Thüringen ausgezeichnet wurde, treffe ich noch einen Wanderer aus Süddeutschland, der zu Fuß, meistens entlang dem Kolonnenweg, dem Grünen Band folgt. Er berichtet von seinen Alpenüberquerungen zu Fuß und ist sehr hilfsbereit bei der Herstellung eines Internetzugangs.

Die vielen Obstbäume und –sträuche, der große Baum, unter dem man herrlich sitzen kann, strahlen eine Ruhe sondergleichen aus. Und … es hat sich endlich mal abgekühlt! Die Nacht verbringe ich bei geöffneten Fenstern in einem tiefen Schlaf. Erholung pur.

Tag 24 (10.08.18):  Von Sickenberg nach  Bremke

KM: 741 – 783

In dem alten Bauernhimmelbett habe ich herrlich geschlafen, die abgekühlte Luft hat das Ihrige getan. Die Besitzerin, Frau Bauer, serviert das Frühstück im Garten in der zum Glück noch etwas kühlen Morgensonne, umgeben von dem Bauerngarten, den ich schon am Vorabend bewundert habe. Wenn nicht ab und an Autos vorbei fahren würden, könnte man meinen, man sei in den Fünfziger Jahren.

Ich komme beim Frühstück mit C. ins Gespräch. Ohne große Emotionen erzählt er mir, dass er im Jahre 1988 als Jugendlicher eine Republikflucht in Ungarn inszensiert habe, um möglichst schnell freigekauft zu werden und ausreisen zu können. Auf meine Frage „warum?“ gibt er eine kühle, emotionslose Antwort: „Ich wollte frei sein, selbst über mein Leben bestimmen und mich entwickeln können.“ Nicht umsonst arbeitet er jetzt als Selbstständiger im IT-Bereich und hat diese Entscheidung zur Republikflucht nie bereut, auch wenn die Mauer ein Jahr später geöffnet wurde.

Vor der Abreise komme ich noch kurz mit der Besitzerin des Bauernhofes ins Gespräch. Kurz nach der Wende hat sie dieses Gehöft erworben und nach und nach restauriert. Wir sprechen über die unterschiedlichen Mentalitäten der Menschen in Ost und West bzw. über die Veränderungen nach 1989. Viele Reisende am Grünen Band kehren bei ihr ein. Sie berichtet u. a. von einem jungen Fotografen, der alle 15 Minuten auf seiner Wanderung ein Foto gemacht habe. Dieser habe davon gesprochen, dass das Grüne Band, die ehemalige deutsch-deutsche Grenze, nach wie vor eine „Narbe“ sei, die Deutschland durchzieht. Dieses Bild finde ich sehr interessant, da womöglich noch viele Menschen in Deutschland, wohl mehr im Osten als im Westen, ihre z. T. verdeckten Narben aus der DDR-Zeit oder Nach-Wende-Zeit mit sich herumtragen. Gehöre ich auch dazu?

In der Gedenkstätte Schifflersgrund, die ich erneut besuche, habe ich spontan die Möglichkeit, mit dem gerade ernannten jungen Leiter der Einrichtung über das pädagogische Konzept zu diskutieren, insbesondere die Frage, wie man Schülerinnen und Schülern das Thema der Deutschen Teilung nahe bringen kann. Er ist ein profunder Kenner der Entwicklung des Eichsfelds während der DDR-Zeit und ein Beispiel für die Ausbildung vieler junger Menschen: geboren in Thüringen, Studium in Hessen, berufliche Rückkehr nach Thüringen. Es macht mir Spaß, mit ihm historische und didaktische Fragestellungen zu diskutieren. Ich merke, dass ich einigen Nachholbedarf in Fragen der Gedenkstättenpädagogik habe.

Bevor ich den Kolonnenweg hinunter an die Werra fahre, bitte ich noch eine Frau, ein Foto von mir, dem Fahrrad und dem Kolonnenweg zu machen. Sie ruft ihren Mann herbei, der diese Aufgabe freudig übernimmt und mir en passant erzählt, dass er hier 1988/90 als Soldat der NVA-Truppen seinen Wehrdienst geleistet habe. Alles sei easy gewesen. Leider konnte ich nicht länger mit ihm sprechen. Die betagte Schwiegermutter wartete und drängt ihn weiter zu fahren …

Zwischen Wahlhausen und Lindewerra sehe ich vier ‚ältere Semester‘, die auch mit dem Fahrrad unterwegs sind und in einer kleinen Schutzhütte knobeln. Angehalten und mit meiner großen Wasserflasche nichts wie hin, gefragt, ob ich mich dazu setzen könne. Der Knobelbecher kracht auf den Holztisch. Hallesche Macke heißt das Spiel, das ich nicht kenne. Als ich merke, dass einer der Radler Henner heißt, frage ich nach, wer es ist und wir kommen ins Gespräch. „Wo kommt ihr her?“ – „Aus Heiligenstadt“. Ich sage: „Das darf doch nicht wahr sein!“ – „Doch. Und wo kommst du her?“ – „Ja, geboren bin ich in Heiligenstadt, aber mein Vater ist mit mir 1956 rübergemacht.“ „Ja, ich habe deinen Großvater gekannt. Försterhaus, oben am Holzweg.“ –  Es ist schon erstaunlich, dass das Schicksal meines Großvaters  auch nahezu nach 60 Jahren noch in den Köpfen der älteren Generation haften geblieben ist –  der Jüngste der Radler ist 76 Jahre alt.

Ich frage mich, wieso ich gerade diese Sportskameraden, die einer Gruppe von rüstigen Rentnern angehören und schon vor der Wende, unabhängig von der politischen Gesinnung – Katholiken, Kommunisten und Parteilose – gemeinsam Sport betrieben haben, hier zu diesem Zeitpunkt antreffe. Zieht eigentlich irgendjemand oder irgendetwas „da oben“ die Fäden? Ist es vorherbestimmt, wen wir zu einem bestimmten Zeitpunkt treffen? Wir verabreden uns in Lindewerra in der Gaststätte und ich lasse sie einfach mal vorfahren.

Lindewerra 2018 strömt so viel Normalität aus, was ich nicht kenne oder mit diesem Ort gar nicht verbinde. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie ich sonntags mit meinem Vater auf dem Motorrad nach Lindewerra gefahren bin. Die Brücke war damals gesprengt, nur zum Rüberschauen über den Fluß und ein vorsichtiges und schnelles Zuwinken, gedacht für eine Frau, die in ihrem Obstgarten so tat, als habe sie da etwas zu tun. Mein Vater bat sie, schöne Grüße in Heiligenstadt bei meiner Großmutter auszurichten. Und schon war die Frau wieder verschwunden. Die Bewohner/innen der 500 m-Sperrzone mussten besonders aufpassen, dass sie nicht als politisch unzuverlässig galten. Es war etwas Beklemmendes, Ohnmächtiges, Sehnsuchtvolles, Nicht-zu-Änderndes, das ich in Erinnerung hatte.

Als ich mit meinen Fotoaufnahmen fertig bin, kehre ich in die nächste Gaststätte ein, wo die vier schon wieder am Knobeln sind. Ich darf mich dazu setzen und bei der nächsten Runde mitspielen. Das sehe ich als besondere Ehre an. Hallesche Macke. Unisono haben alle thüringisches Rostbrätl mit Bratkartoffeln bestellt, ich schließe mich aus Solidarität an. Ebenso gebe ich eine Runde Bier aus, im selben Moment erscheint mir das aber etwas grenzwertig: ich will ja nicht als reicher Wessi gelten. Irgendwie hat man mit mir wohl Mitleid: Du kannst ja nichts dafür, dass du kein richtiger Ossi mehr bist, warst ja zu klein und war ja die Entscheidung deines Vaters mit dir abzuhauen. Es ist immer eine Gratwanderung. Ich habe zwei Pluspunkte: ich bin geborener Heiligenstädter, und nicht ein nach dem Krieg Zugezogener wie einer der vier Radler, und habe einen breiten Lebenslauf, inklusive Fernfahrer- und Lagerarbeitererfahrung. So geht es mir im ganzen Eichsfeld. Geboren in Heiligenstadt ist ein kleiner ‚Adelstitel‘ und das Schicksal meines Großvaters erleichtert mir oft, mit den Menschen in Kontakt zu kommen und offene Gespräche führen zu können.

Lindewerra war noch zu Zeiten der DDR eine Hochburg der Stockmacher. Im Hinterrraum der Gaststätte befindet sich eine kleine Werkstatt, wo noch produziert wird. Es ist Freitagnachmittag und der Stockmacher erklärt mir freundlich, wie die Arbeitsgänge sind. Im Augenblick werden aber in Lohnarbeit Holzknaufe in schwarze Farbe getaucht und so lackiert. Es riecht schon merklich nach Farbe in der Werkstatt …

Auf den letzten Metern des Anstiegs zur Burg Hanstein treffe ich den Wanderer, mit dem ich morgens noch gefrühstückt habe. Er rät mir unbedingt mit dem Fahrrad zur Teufelskanzel durch den Wald zu fahren. Von Hann. Münden kommend, wollte ich in meiner Jugend immer auf den Hanstein, was jedoch ausgeschlossen war, weil diese gewaltige Burgruine, im übrigen der Stammsitz des Rennfahrers Huschke von Hanstein, im Sperrgebiet lag. Am vergangenen Wochenende war gerade ein Mittelalterfest dort gewesen. Über Stock und Stein fahre ich entlang den Klippen zur Teufelskanzel, genieße die Waffel mit Eis und den schönen Milchkaffee und mache natürlich wie immer an schönen Aussichtspunkten ein paar Fotos.

Es ist mittlerweile sechs, trotz der zwei Bier mit der Rad-Veteranen-Gruppe aus Heiligenstadt, die mich etwas unvorsichtig und unbesorgt sein lassen, merke ich so langsam, dass es Zeit wird, eine Unterkunft zu besorgen. Damit fängt das Drama an. In Bornhagen in einer Privatpension die Frau nicht angetroffen. Im Klausenhof nur der weibliche Malgruppe aus dem Marcel-Callo-Haus begegnet, der Wirt jedoch schaut mich kritisch an und hat kein Zimmer mehr frei. Geht er etwa davon aus, dass ich ein Journalist bin und etwas über den AFD-Politiker Björn Höcke herauskriegen möchte, der einen Steinwurf entfernt mit seiner Familie im ehemaligen Pfarrhaus wohnt?

Mit dem Fahrrad weiter. Hohengandern nichts, vielleicht in der Pension Eic? Dort angekommen, sehe ich ein Schild: Pension geöffnet erst ab 20.00 Uhr. Swinger-Club: 20.00 – 04.00 Uhr. Na ja, öfter mal was Neues. Ich fahre weiter nach Arenshausen und frage mich durch. Das Handy hat mal wieder keinen Empfang. Ich soll es im Westen versuchen, in der Nähe von Göttingen. Bergauf! In Rustenfelde nichts. Mittlerweile fahre ich mit dem schwachen Eco-Gang die Berge hoch. In Rohrberg komme ich auf der letzten Rille an. Zwei Frauen, Mutter und Tochter, versuchen gerade aus dem Schutt eines Abrisshauses ein schönes, altes Holzfenster ‚zu retten‘.

„Nein, hier in Rohrberg gibt es nichts. Kommen Sie aber mal mit, wir rufen für Sie an und fragen nach.“ Ich schiebe mein Rad hinterher und werde von den Nachbarn kritisch beäugt. Und die Tochter mittleren Alters schafft es: im niedersächsischen Bremke, ca. 6 Kilometer entfernt, gibt es in einem Gasthaus noch ein Zimmer für mich. Die Kooperation zwischen Ost und West, zwischen Thüringen und Niedersachsen scheint nach 30 Jahren doch zu funktionieren.
Ich könnte den beiden um den Hals fallen und verabschiede mich mit mehrfachem Dank. „ Wenn wir nichts für Sie gefunden hätten, hätten Sie auch bei uns im Gästezimmer bleiben können.“ Ich werde gefragt, wo ich herkomme und wohin ich will. Krönender Höhepunkt: Die ältere Dame kennt natürlich das Schicksal meines Großvaters und mit meiner Tante Rosemarie hat sie auch mal zusammen geabeitet. Was soll ich davon halten, dass gerade diese beiden Menschen mir aus der Patsche geholfen haben?

Der Rest des Tages ist schnell erzählt. Einmal noch berghoch. Über die Grenze und dann nur noch bergrunter und geradeaus. Gasthof ‚Mutter Jütte‘ in Bremke. Sauberes Einzelzimmer im Stile der 80er und 90er Jahre. Und ein wundervolll schmackhaftes, zartes Wildgulasch mit Bratkartoffeln. Ich bin sooo dankbar, dass mir nette, liebe Menschen geholfen haben!

Tage 25 und 26 (11. und 12.08.18):  Bremke – Ruhetage

KM: 783 – 787

Nach der großen Portion schmackhaften Wildgulaschs schlafe ich recht gut. Das Gasthaus „Mutter Jütte“ hat wirklich Athmosphäre.  An den Nachbartischen beim Frühstück sitzen Verwandte aus Ost und West, die zur Einschulung ihrer Enkel, Cousins etc. eingeladen sind. Man hört unterschiedliche Dialekte. Anscheinend nach drei Jahrzehnten deutscher Einheit eine Normalität, dass die eigenen Kinder vom Osten in den Westen gegangen sind und dort seßhaft wurden. Mit einem Ehepaar von der Ostseeküste (Neustadt in Holstein) unterhalte ich mich über Disziplinprobleme, wenn die Enkel zu Besuch kommen. Die Zeiten haben sich verändert. Nach dem Motto: „Wenn das meine wären …“

Am Samstag fahre ich tagsüber einmal durch den Ort, suche – vergeblich – den jüdischen Friedhof, der irgendwo versteckt im Wald liegt, fahre auf der Straße nach Bischhagen bis zur nicht mehr sichtbaren Grenze und verwende ansonsten den Tag zum Schreiben der Tagebuchaufzeichnungen und vor allem zum Übertragen der Berichte und Fotos in die Webseite, die Dors dankenswerter Weise für mich eingerichtet hat.

Es wird mir klar, dass ich nicht nur körperlich, auch emotional ausgelaugt bin von den bisherigen dreieinhalb Wochen Reise entlang der deutsch-deutschen Grenze. Aus dem ursprünglich vorgesehenen Ruhetag werden zwei.

Beim Abendessen begegne ich dem etwas gehobeneren Publikum, meist Lehrer/innen, Professor/innen aus dem nahen Göttingen, die sich gewählt, um nicht zu sagen: akademisch ausdrücken, die mit dem Auto mal einen kleinen Ausflug in das Wendebachtal unternehmen. Irgendwie merke ich, dass nach dieser auch persönlich sehr aufregenden Woche im Eichsfeld das ganze (westdeutsche) Ambiente mir sehr vertraut ist, zumal Orte genannt werden, die ich noch aus meiner Jugend vom Fußballspielen kenne. Ich werde mir meiner zwei Wurzeln bewusst: hier das in der DDR gelegene katholische Eichsfeld mit dem etwas burschikosen „Du“, wenn ich Männer anspreche (vielleicht auch ein Erbe meines Großvaters), und dort das bundesdeutsche, mehr intellektuell und auf größere Distanz ausgerichtete Ambiente.

Ich erinnere mich an die Zeiten als Schüler auf dem Bau, nach dem Studium als Bierfahrer in Weiterstadt b. Darmstadt sowie Fernfahrer und Lagerarbeiter bei der Fa. Koch Spedition in Büttelborn im Kreis Groß-Gerau, an das Übernachten im Schlafsack neben einer Roma-/Sinti-Großfamilie auf einem freien Feld in der Mitte Siziliens Anfang der Siebziger Jahre einerseits und andererseits den Empfängen beim Bundespräsidenten im Rahmen des Geschichtswettbewerbes der Hamburger Köhler-Stiftung Ende der Neunziger Jahre. Ich bin einfach nur dankbar, dass ich diese ganze Bandbreite an (positiven) Erfahrungen in meinem Leben sammeln konnte …

Am Sonntagnachmittag gibt es noch mehr Besuch bei „Mutter Jütte“, es kommen Gäste, die auch die Vorstellung auf der Waldbühne besuchen wollen bzw. besucht haben. Ein junger Mann, der mit Ach und Krach sein Abitur geschafft hatte – er bedankt sich noch nachträglich bei der Geschichtslehrerin, die ihm die rettenden 12 Punkte gab -, später dann BWL studiert hat, schwadroniert lauthals und besserwisserisch über aktuelle ökonomische Probleme in Deutschland. Könnte man ihm doch nur mal den Stecker rausziehen! Es würde ihm und v.a. den Gästen gut tun.

Tag 27 (13.08.18):  Bremke – Duderstadt

KM: 790 – 837

Frisch gestärkt nach dem guten Frühstück fahre ich Richtung Rohrberg. Eigentlich ist das ein Weg zurück und ein Umweg. So soll es sein. Ich habe das Bedürfnis, mich bei den beiden netten Frauen noch einmal persönlich zu bedanken, die mir am Freitag in meiner Not eine Bleibe besorgt haben. Vorher halte ich aber noch einmal im „Bremketaler Lädchen“ an, einem kleinen Kaufmannsladen mit angeschlossenen Café, wo man etwas trinken kann. Ich kaufe ein Stück gute Eichsfelder Stracke, von der ich die nächsten zwei Tage ab und an naschen werde, natürlich ohne Brot. Ebenso erwerbe ich ein Bounty und zwei schon etwas in die Jahre gekommenen Bananen. Genau wie Boris Becker in Wimbeldon: Magnesium gegen die Muskelkrämpfe … Die alten Männer (70 plus) diskutieren das Wetter, den nicht vorhandenen Regen, dass man früher auch schon mal braunes Wasser aus dem eigenen Brunnen getrunken habe und heute immer noch lebe … und natürlich die drohende Übersiedlung in ein Alten- und Pflegeheim, die anzunehmende Entmündigung. Von der Verkäuferin erfahre ich, dass ein gemeinnütziger Verein der Träger dieser dörflichen Initiative ist, die nicht nur älteren Bewohnern eine Einkaufsmöglichkeit bietet, sondern offensichtlich auch den männlichen Rentnern ein Betätigungsfeld gibt. Das Hinweisschild erwähnt, dass das Land Niedersachsen diese Einrichtung unterstützt.

In Rohberg ist die Überraschung groß, als ich urplötzlich vor der Tür stehe. Nachdem ich mich noch einmal für die Hilfe am Freitag bedankt habe, werde ich spontan zum Mittagessen von Frau Sch. und ihrer Tochter eingeladen. Es gibt leckere frische Kartoffeln und schmackhaften Quark. Das Ganze kurz nach 11 morgens, und ich bin überwältigt angesichts dieser Gastfreundschaft. Mit der älteren Dame spreche ich nicht nur über die gemeinsame Arbeit mit meiner Tante Rosemarie, sondern wir diskutieren auch die Veränderungen nach der Wende im Dorf. Das Zurückgehen der dörflichen Gemeinschaft sowie der gegenseitigen Hilfe und das Aufkommen von Neid angesichts der Westautos, die plötzlich im Dorf fuhren. Mit guten Wünschen für meine weitere Reise werde ich herzlich verabschiedet.

Als nächstes Ziel habe ich mir Siemerode ausgesucht. Vor knapp 60 Jahren ist mein Vater auf dem Motorrad mit mir an die Grenze gefahren. Auf dem Straßenschild ist zu lesen: „Siemerode 2 km“. Ich suche diese Straße und finde sie nicht. Über Freienhagen (alte NVA-Kaserne, in der man Paint-Ball spielen kann – kommt mir aus Tettau schon irgendwie bekannt vor!) geht es über die Felder nach Bischhagen, wieder zurück Richtung Bremke. An der Stelle, wo früher die Grenze stand, auch kein Schild gesehen, also zurück. Von Bischhagen über Feldwege entlang der Grenze nach Weißenborn.

Am letzten Bauernhof links vor der Ortsausausfahrt frage ich nach der Grenze und komme mit einem Besamungstechniker aus einem der Nachbarorte im thüringschen Teil des Eichsfeldes ins Gespräch. Nachdem er seine Arbeit – hoffentlich erfolgreich ! – hinter sich gebracht, den blutigen großen Handschuh in die Mülltonne geworfen und sich kurz umgezogen hat,  berichtet er von seiner Ausbildung und stolz von den fast 10.000 Kühen, die er in seinem bisherigen Berufsleben, früher nur in LPGs, heute auch auf Bauernhöfen im Kreis Duderstadt, besamt hat. Als ich erzähle, dass ich in Heiligenstadt geboren sei und meine ersten Jahre im Eichsfeld verbracht habe, kommen wir schnell in ein vertrautes Gespräch über die Vor- und Nachteile des DDR-Systems. Kurze Zeit danach gesellt sich auch der über 80-jährige Altbauer hinzu und erzählt von der Wendezeit und gegenseitigen Besuchen in Weißenborn und Siemerode. So streifen wir einmal durch die Geschichte der Menschen in dieser Grenzregion von der Zeit des 2. Weltkrieges bis in das Jahr 2018. Was mich u. a. erstaunt hat, ist die Tatsache, dass der Besamungstechniker als DDR-Soldat in der Kaserne zusammen mit findigen Kollegen heimlich West-Fernsehen angeschaut hat. Einer musste Schmiere stehen und auf ein bestimmtes Zeichen hin wurde abgestellt, bevor der UvD hereinkam und am noch warmen Fernseher merken konnte, was Sache war.

Ich bekomme den Rat, ins benachbarte Glasehausen zu fahren. Ein Rentner, der einige Meter von der früheren Grenze entfernt wohnt, gibt mir den Tipp, die „junge Frau“, die dort auf der Straße steht, mal zu befragen. Glasehausen war an drei Seiten vom Grenzzaun umgeben, quasi wie ein Hufeisen, wie mir Frau Kunze, die über 80-jährige Altbürgermeisterin erzählt. Da sie Steno konnte, unterstützte sie zu DDR-Zeiten den Bürgermeister. Sie berichtet von den regelmäßigen Einwohnerversammlungen, auf denen die politisch-ideologische Ausrichtung der Bewohner des 500 Meter Sperrgebiets sichergestellt werden sollte, von der Überwachung und der Angst, die angestammte Heimat verlassen zu müssen.

Wenige Monate vor der Wende wurde sie kommisarische Bürgermeisterin und forderte dann in den Wochen nach dem 9. November 1989 vom Landrat eine Öffnung des Grenzzaunes, um ins nahegelegene Weißenborn zu kommen. Auf Druck der Bevölkerung, mit Unterstützung durch katholische Geistliche und Offizieren des Grenzabschnitt gelang die Beseitigung der Grenzanlagen, von denen heute noch der KfZ-Sperrgraben deutlich zu sehen ist. Stolz berichtet mir Frau Kunze, die der CDU angehört, davon, dass sie dieses Jahr am 22. Mai das Bundesverdienstkreuz vom Bundespräsidenten erhalten hat. Sie ist offensichtlich stolz darauf, auch dass sie z. B. sehr gut den früheren CDU-Ministerpräsidenten Bernhard Vogel oder die ehemalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth aus dem benachbarten Göttingen kennt. So klein ist die Welt: von Glasehausen ins politische Rampenlicht. Als Geschenk erhalte ich eine Broschüre über die Geschichte von Glasehausen mit persönlicher Widmung. Ich bin tief beeindruckt von dieser politisch sehr wachen Zeitzeugin und verlasse den Ort nach mehr als zwei Stunden Gespräch mit ihr.

Ich fahre durch den Wald nach Neuendorf und von dort nach Böseckendorf, wo 1960 eine Reihe von Familien mit Leiterwagen, bepackt mit Hausrat, Babys und alten Menschen über die Äcker hinweg, den Grenzzaun durchschneidend, spektakulär in den Westen geflohen ist. Später haben diese Flüchtlinge in der Nähe von Northheim eine Ortschaft namens Neu-Böseckendorf gegründet. Nach Aussage eines Dorfbewohners sind nach der Wende nur wenige zurück gekommen. Auf der Straße nach Immingerode befinden sich zum Gedenken an die Flucht, die bundesweit Aufsehen erregt hatte, zwei große Steine. Warum ist nur einer davon mit Inhalt aus Neu-Böseckendorf beschriftet und der andere leer?

In Glasehausen habe ich viel Zeit verloren, besser gesagt gewonnen. Nun bin ich mal wieder darauf angewiesen, auf dem Weg nach und in Duderstadt Leute auf Unterkünfte anzusprechen. Zum Glück gibt es in der Nähe einer Kirche einen Hotspot. Mehrere Versuche, etwas für eine Nacht zu bekommen, scheitern, z. T. weil keiner ans Telefon geht. Schließlich gewährt mir Frau Schmidt, eine Zahnärztin, Unterschlupf in ihrer erst vor kurzem renovierten, in Brauntönen und mit viel Liebe zum Detail  eingerichteten Pension. Frühstück erst ab 8.30 Uhr möglich, das soll aber kein Problem sein. Hauptsache ein Bett.

In der Gaststätte „Budapest“ esse ich eine sehr schmackhafte Kohlroulade. Der F.C. spielt gerade gegen Union in Kölle. Die Köllefans singen mit … Ich frage mich, wie Arminia am kommenden Sonntag gegen Lok Stendal im Pokal spielt.

Heute vor 57 Jahren wurde in Berlin die Mauer zwischen Ost und West gebaut.

Tag 28 (14.08.18):  Duderstadt – Osterhagen

Km: 837 – 875

Ich habe gut geschlafen, auch wenn es ab und an etwas laut auf der Straße war. Noch wichtiger: es hat wohl etwas geregnet. Ein Geschenk Gottes. Ich mache mir in der mit alten, schön aufgearbeiteten Möbeln eingerichteten Küche einen Kaffee mit Milch und bekomme Besuch von einer Miezekatze. Eigentlich sind ja eher Hunde meine Freunde, aber die Mieze fühlt sich anscheinend wohl und lässt sich kraulen – trotzdem, ich trage sie dann raus. Durch die Hinterhoftür ist sie aber in zwei Minuten wieder da.

Ich komme mit einer jungen Frau ins Gespräch, die in der Praxis ein wenig aushilft. Sie fängt im Herbstsemester an, Sozialarbeit in Nordhausen zu studieren. In Göttingen gibt es einen solchen Studiengang nicht und Kassel ist zu weit, also geht es zum Studium über die Grenze ins benachbarte Thüringen. Mit ihren zwei Kindern wird es eine Herausforderung, aber zum Glück wird sie ihr Mann, der als Lehrer arbeitet, unterstützten.

Wir kommen auf 1989 zu sprechen. Sie erinnert sich noch sehr gut an die stinkenden Trabbis, die bei Grenzöffnung die Stadt verstopften. Unterschiede zwischen Ost und West, unterschiedliche Mentalitäten? Sie berichtet vom Urlaub in Meck-Pomm, Kanufahrten in landschaftlich sehr schönen, aber strukturschwachen Gegenden. Unterschiedliche Mentalitäten setzen sich noch etwas fort, aber große Unterschiede? Nein, die gibt es nicht mehr. Die neuen Klassenkameraden aus der DDR waren vielleicht etwas als Streber verschrien, aber trotzdem ganz nett. Wir unterhalten uns offen über die Höhen und Tiefen im Leben und wünschen uns gegenseitig alles Gute: Beim Studium und bei der Reise entlang der Grenze. Auch von der Frau Zahnärztin werde ich mit den besten Wünschen verabschiedet.

Seit gestern sehe ich in der Entfernung den Harz und damit ist auch der Brocken nicht mehr weit. Das Quietschen der Bremsen, wenn ich bergab fahre, macht mir schon Sorgen. Der Brocken ist schließlich über 1.100 Meter hoch gelegen. Das Fahrrad mit seinen 25 Kg, dazu 25 Kg Gepäck sowie meine 85 Kg (mittlerweile dürfte ich wohl ein bis zwei abgenommen haben) – die gesamte Masse entwickelt schon eine gewaltige Schubkraft, die den Bremsen zusetzt.

Im Fahrradgeschäft Beckmann in der Marktstraße 4 frage ich vorsichtig und höflich, ob man die Bremsen vor der geplanten Harzüberquerung überprüfen könne. Ich habe Glück und werde angesichts meiner bisherigen Strecke auch wohl als Notfall angesehen. Ein freundlicher Zweiradmechaniker „von drüben“ erhält den Auftrag, mir die Bremsbeläge des Hinterrades auszutauschen. Ich bin beruhigt, auch dass er mir gleich noch das lose Schutzblech und den wackeligen Fahrradständer wieder festmacht sowie die Kette noch kurz mit Öl versorgt. Wir sprechen über Böseckendorf und seine ersten Lebensjahre in der DDR. Mein Heiligenstadt/Flüchtlings-Bonus macht sich mal wieder positiv bemerkbar. Es ist eine sehr freundliche Unterhaltung, ein toller Service der Fa. Beckmann. Vielen Dank nochmal!

Ich fahre weiter nach Teistungen in das dortige Grenzlandmuseum und schaue mir die didaktisch sehr gut aufbereitete Ausstellung, in der die Situation vor Ort am Grenzübergang Duderstadt-Worbis anschaulich mit der Entwicklung auf internationaler Ebene (alliierte Beschlüsse) und mit der nationalen Ebene verbunden wird. Hier bin ich selber einige Male über die Grenze nach Heiligenstadt gefahren. Das Herz schlägt ein wenig höher. In dem Beobachtungsturm finde ich sehr anschaulich die technischen Kommunikationsgeräte mit den Kontrollen der Sprechanlagen durch Offiziere der DDR-Grenztruppen und Angehörige des Bundesgrenzschutzes miteinander verbunden.

Unangemeldet habe ich wiederum Glück und die Möglichkeit, mit der jungen und engagierten Leiterin des Grenzmuseums über didaktische Konzeptionen und das Interesse Wecken bei den unterschiedlichen Zielgruppen zu sprechen. Ebenso wie bei dem Kollegen in Schifflersgrund merkt man, dass sie inhaltlich gesehen „im Saft“ steht. Personell unterstützt durch je zwei teilabgeordnete Lehrkräfte aus Thüringen und Niedersachsen werden unterschiedliche Herangehensweisen an das Thema „Deutsche Teilung“, verbunden aber auch mit grundsätzlichen Aspekten, wie z. B. Demokratiefragen, erläutert. Ich erhalte eine Vielzahl von schriftlichen Materialien und merke, dass es schon einen Unterschied zwischen Archiv- und Gedenkstättendidaktik gibt.

In der Sielmann-Stifttung im Gut Herbighagen bei Duderstadt wollte ich schon am Montag gewesen sein, aber gestern hing ich mal wieder hinterher oder besser ausgedrückt: ich nehme mir die Zeit, um mich in Ruhe mit Menschen zu unterhalten bzw. auch mal einen vermeintlichen Umweg oder einfach eine Pause zu machen. Mein Gesprächspartner in der Sielmann-Stiftung hat heute wohl keine Zeit und so bekomme ich ein paar Broschüren in die Hand gedrückt. Der Bio-Bauernhof ist ein Eldorado für Familien mit Kindern, die sich die Tiere anschauen wollen. Beeindruckend ist auch die sehr moderne Ausstellung, in der es um den eigenen Umgang mit den Ressourcen geht.

Es ist halb fünf und ich befinde mich ca. 10 km von meinem heutigem Startpunkt entfernt. Also fange ich wieder an, ordentlich die Hügel bergauf und bergab zu strampeln. Auf dem Weg nach Bartolfelde komme ich nach einem langen Anstieg an einem ehemaligen DDR-Beobachtungsturm vorbei. Ich halte und mir wird sofort klar, als ich den Namen Fredi Willlig lese, dass sich dieser Turm in Privatbesitz befindet und ich schon mehrfach von ihm gelesen habe. Also, anhalten, Bilder machen. Ich fotografiere gerade den Bunker, der sich in der Nähe befindet, als ein VW-Bus stoppt. Der Fahrer kann nur der Besitzer sein. Welch ein Zufall!

Mit meinem etwas burschikosen „Du“ frage ich Fredi Willig, ob ich den Turm mal besichtigen kann. Bereitwillig sagt er zu. Wir klettern die Stufen bis in die oberste Etage an Militärbetten und weiteren Einrichtungsgegenständen vorbei und habe oben einen herrlichen Ausblick auf die umliegenden Felder und Wälder. Ferdi – wir sind sofort beim echten Duzen – berichtet davon, wie er den Turm Anfang des Jahrtausends erworben, nach und nach restauriert und mit Hilfe von Bekannten mit orginalen Exponaten ausgestattet hat. Wir sitzen also ganz oben, trinken ein Bier und philosophieren über Gott und die Welt, unsere Familien, die Geschichte dieses Turms, die DDR, die Unterschiede zwischen Ost und West etc. Fredi hat noch einen Wasserhahn zu reparieren und so muss ich schweren Herzens nach gut einer Stunde gehen. Die Zeit war viel zu kurz.

Ich bin wieder im Westen. Es ist kurz vor acht und es wird so langsam dunkel. Nach vergeblichen Fragen in mehreren Orten komme ich in Osterhagen im Gasthaus „Zur Post“ an. Es ist halb neun. Meine letzte Hoffnung. Ausgelaugt vom ganzen Tag, frage ich, ob noch ein Zimmer frei sei. Eigentlich nicht, aber wenn ich noch 20 Minuten Zeit hätte … Ich könnte die Gastwirtin umarmen! Zum Abendbrot bekomme ich ein herrliches Butterbrot mit Eichsfelder Wurst, und das Bier schmeckt nach diesem langen und zum Schluss sehr aufregenden Tag auch sehr gut.

Mit dem über 70-jährigen Malermeister von nebenan komme ich schnell ins Gespräch. Ich traue meinen Ohren nicht: Er berichtet von der Bahnlinie, die durch den Ort geht und von KZ-Häftlingen während des Krieges gebaut wurde. Ich sollte mir morgen unbedingt in Ellrich die Überreste des KZ anschauen. Es seien viele Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter umgekommen. Es wird Unverständnis von den Anwesenden geäußerst, dass es heute immer noch rechte Parolen gibt, die die Nazi-Zeit verharmlosen und verherrlichen. Ich bin erstaunt, in einem kleinen Ort im Harzer Vorland solch klare Meinungen zu hören. Nach dem dritten Bier falle ich in mein Bett.

Tag 29 (15.08.18): Von Osterhagen nach Zorge im Harz

Km: 875 – 912

Nach einem guten Frühstück packe ich meine tausend Sachen zusammen und schleppe alles zum Fahrrad, das ich mittlerweile aus der Garage geholt habe. Ich komme mit Viola, einer der beiden Frauen, die die Gastwirtschaft bewirten, ins Gespräch. Nach der Frage „Wohin heute?“ und dem Bestaunen, Begutachten des Fahrrads und des Gepäcks kommen wir schnell zu einem persönlichen Gespräch, in dessen Verlauf Viola mir erzählt, dass sie mit ihrer früheren Lebenspartnerin, jetzigen Ehefrau, deren Familie die Gastwirtschaft schon seit Generationen betreibt, in dieser dörflichen Gemeinschaft mit ihrer Lebensform total akzeptiert ist. Sogar der katholische Pfarrer habe zur Hochzeit gratuliert. Ich bin verwundert, dass auf dem platten Land andere Lebensformen anscheinend akzeptiert werden. Auch hier merke ich, dass sich in den letzten sieben Jahrzehnten in der Bundesrepublik enorm viel getan hat, die Geselllschaft offener, toleranter geworden ist. Wenn ich an die Verfolgungen der Nazi-Zeit denke, verstehe ich auch die Diskussion vom gestrigen Abend besser. Mit guten Wünschen und dem Angebot „Ruf einfach an, wenn du nicht weiterkommst, wir holen dich überall ab, auch wenn es zwei Kilometer vor dem Brocken ist“! werde ich verabschiedet. Es tut so richtig gut!

Quer durch den Wald, mal wieder über Stock und Stein, geht es weiter, an einem ehemaligen Munitionsbunker vorbei, der aussieht wie ein Wasserhäuschen, nach Bad Sachsa. Ich hole mir Geld aus dem Sparkassen-Automaten, welch eine Normalität, wenn ich an die sechziger Jahre denke, wo man immer persönlich zur Bank gehen musste, um Geld abzuholen. Bad Sachsa macht z. T. einen etwas sehr in die Jahre gekommenen Eindruck. Alte Einfamilienhäuser sind für 39.000 Euro zu kaufen, Eigentumswohnungen für 20.000.

Ich beschließe, das von Tettenborn mittlerweile nach Bad Sachsa umgezogene Grenzlandmuseum zu besichtigen. Öffnung um 13.00 Uhr. Also vorher noch etwas essen. Wildcurrywurst mit Pommes. Zwei Bratwürste liegen auf dem Teller und ich weiß nicht, wie ich die mit der Currysauce herunterschlingen soll. Eine echte, halbwegs gut schmeckende Herausforderung.

Im Grenzlandmuseum werde ich von einem ehemaligen Berufssoldaten in Empfang genommen, der seit seiner Pensionierung akribisch und mit großem zeitlichen Aufwand die Geschichte der 132 Km Grenze in dem nord-hessischen und süd-niedersächsischen Abschnitt nicht nur persönlich abgelaufen ist, sondern auch Archive in Koblenz, Freiburg oder in den grenznahen Kreisen und Gemeinden besucht und erforscht hat – von den ganzen Exponaten, davon vielen alltagsgeschichtlichen aus der Nachkriegszeit, ganz zu schweigen. Es fällt mir auf, dass die Mikro- und Makroebene eigentlich immer gut verbunden sind, also die Ereignisse vor Ort und die gesamtgesellschaftliche Entwicklung. Ich bin beeindruckt von dem Wissen des Museumsführers, der mir viele neue Informationen bietet, mit dem ich aber auch sehr intensiv über meine bisherigen Erfahrungen und Einschätzungen während der Reise, vor allem, was die unterschiedlichen Mentalitäten in Ost und West angeht, sprechen kann. Eigentlich wollte ich nur eine halbe Stunde zu diesem „Pflichtbesuch“ bleiben, aber die kollegiale Diskussion, auch wegen meiner eigenen Bundeswehrerfahrung lässt die Zeit verfliegen. Schließlich wollen die anderen Museumsbesucher auch noch eine Führung …

Auf meinem Weg nach Ellrich in die ehemalige KZ-Gedenkstätte Juliushütte mache ich noch eine kurze Stippvisite im Zisterzienserkloster Walkenrieg, einem imposanten Areal aus dem Mittelalter. Die Besichtigung der Kirche spare ich mir, weil ich ja noch in das gestern Abend  angesprochene KZ Ellrich will.

Bei der Ankunft in dem ehemaligen KZ bin ich enttäuscht. Keine Ausstellungsräumlichkeiten, nur einige Informationstafeln und ein relativ großes Erinnerungsmonument, errichtet von der Stadt Leuven in Belgien für ihre hier umgekommenen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter. Von einem Mitarbeiter der KZ-Gedenkstätte Dora-Mittelbau erfahre ich dann telefonisch, dass die Bevölkerung von Ellrich anscheinend kein großes Interesse an diesem Monument habe. An dem Spendenaufruf hat sich nur der Bürgermeister mit 100 Euro beteiligt. Er wurde bei der nächsten Wahl abgewählt. Allerdings gibt es wohl auch einen rührigen Verein Jugend für Dora (?), der noch internationale Jugendlager durchführt. Ein wenig Hoffnung für die Zukunft.

Der Rest ist schnell erzählt. Schokolade bei Lidl einkaufen, am Wurstwagen erst ein Mettbrötchen und dann noch einmal eine schöne Eichsfelder Wurst auf die Faust, die die Fahrt zum nächsten Ort nicht „überlebt“, und dann vom eigentlichen Grenzverlauf abweichend das nächste Harztal bergauf Richtung Brocken  und in Zorge noch ein schönes Gasthaus gefunden mit guter französischer Küche. Fisch gab es nicht mehr. So habe ich einen vorzüglichen kleinen Salat gegessen und eine gutes Glas Rotwein getrunken …

Tag 30 (16.08.18):   Von Zorge  nach Schierke            

Km: 912 – 945

In meinem Zimmer mit Fenster zur Bergseite hin habe ich gut geschlafen. Boxspringbetten scheinen sich immer mehr im Gastgewerbe durchzusetzen. – Von der Besitzerin erfahre ich, dass das gegenüberliegende Haus für 4.000 Euro zu kaufen sei, das Haus daneben, scheinbar etwas modernisiert, für 20.000 Euro. Die Jugend zieht weg, studiert, geht in die Großstädte. Fachpersonal für den Service zu finden sei nahezu unmöglich.

Ich fahre los und merke, dass es wirklich erstmal nur berghoch geht. In dem einzigen Laden im Dorf gibt es zum Glück neben Bild-Zeitung, Lotto-Annahmestelle auch Zahnpasta. Ich bin erstmal gerettet. Den Häusern, die links und rechts der Straße liegen, merkt man an, dass die besseren Zeiten schon hinter ihnen und wahrscheinlich auch hinter ihren Bewohnern, sofern es aktuell noch welche gibt, liegen. Ich frage mich, ob der Ort nicht eigentlich „Sorge“ heißen müsste, aber der Ort mit diesem Namen kommt ja später: Sorge und Elend sind nur einige Kilometer voneinander entfernt und liegen im Osten.

Auf dem Weg nach Hohegeiß durch ein schönes Tal treffe ich einen pensionierten Finanzbeamten, der 1960 hier auf die Finanzfachschule gegangen ist, und der obligatorische Besuch der Grenze gehörte natürlich auch noch dazu, ebenso wie die Gespräche mit den DDR-Grenzsoldaten, was 1960, also vor dem Mauerbau, noch möglich war. Er berichtet davon, wie er Anfang der Neunziger Jahre oft in die neuen Bundesländer gefahren ist und in Dresden ein junges, mit dem westlichen System unerfahrenes Gastwirtspaar beraten hat. Die Brauereien hätten versucht, ihnen Knebelverträge unterzuschieben. Ich stelle mir vor, wie es gewesen wäre, wenn die Menschen der Bundesrepublik 1990 das sozialistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem von heute auf morgen hätten übernehmen müssen … Welche Brüche und Verwerfungen hätte es auf unserer, westdeutschen Seite gegeben?! Vae victis!

Ich traue meinen Augen nicht: ein herrliches, kleines, überschaubares Waldbad. Um 11 Uhr morgens noch wenig bevölkert. Hauptsächlich Niederländer, um nicht zu sagen: Holländer. Alles sehr familienfreundlich, auch die Preise. Ich ruhe mich aus, trinke einen Plastik-Cappucino und entdecke den Bademeister mit Migrationshintergrund. Er fummelt an seinem Handy herum und blickt ab und an auf das nicht sehr bevölkerte Schwimmbecken. Möglicherweise stammen seine Vorfahren aus Vietnam oder von den Philippinen. Wäre wohl im Osten nicht möglich, einem „Nicht-Deutschen“ die Kinder anzuvertrauen?

In Hohegeiß geht es wirklich hoch, bergauf. Einige Häuser werden renoviert, andere sehen schlimm aus. „Kukki’s“ Pommesbude ist ein Hingucker: Überall deutsche Fahnen und DDR-Nostalgie, wenige Meter von der ehemaligen Grenze entfernt. Ich bestelle mir einen Teller mit der berühmten Erbsensuppe und lausche einem Gespräch Chemnitzer zu, die sich über Frank Schöbel, die Puhdys und Karat unterhalten – alles ehemalige und z. T. noch aktive DDR-Schlagergrößen und Rockbands. Der ältere Herr mit Hund sowie die Gruppe Mittfünfziger aus Chemnitz (warum höre ich da immer noch „Karl-Moorx-Schtott“ in meinem Kopf?) haben sofort eine gemeinsame Ebene.

Nachdem die Gruppe sich verabschiedet hat, kommt der ältere Herr mit mir ins Gespräch. Er ist nach der Wende aus Ost-Berlin nach Hohegeiß gekommen und hat dort ein mittleres Hotel übernommen, was in den ersten Jahren auch gut lief. Irgendwann hat es sich nicht mehr rentiert und er ist mit seiner Frau, einer Illustratorin von Büchern, wieder zurück in den Osten gegangen. Er lebt wenige Kilometer von der Grenze entfernt im  Landkreis Harz. Relativ schnell haben wir eine gemeinsame Linie gefunden, weil er merkt, dass ich, der Viertel-Ossi und Dreiviertel-Wessi, mich mit der DDR-Realität besser auskenne als der Normalo-Wessi. Zudem hat meine Mutter ihre letzten Jahrzehnte in Berlin-Müggelheim verbracht, während A. auf der anderen Seite des Sees wohnte. Er prägt auch den Spruch: „Einmal Ossi, immer Ossi“. Ich weiß nicht, ob ich stolz auf meine Geburt in der SBZ und die Einschulung in der DDR sein soll. Ich habe ja schließlich selber nichts dazu beigetragen.

Wir diskutieren natürlich auch über die Abteilung „Horch und Guck“, die Staatsicherheit der DDR. Er erzählt mir, dass er mal für ein Vierteljahr in seiner Datsche einen Gast gehabt habe, der immer nur am Schreiben war. Der Name: Rudolf Bahro, der in der 2. Hälfte der Siebziger Jahre das vom „Spiegel“, glaube ich, veröffentlichte DDR-kritische Buch „Die Alternative“ geschrieben hatte.  Irgendwie waren Telefonleute bei ihm, aber es hätte sich nichts getan und er wäre auch nicht befragt bzw. verhört worden. Seltsam. Wir machen Fotos, getrennt und zusammen, und tauschen unsere Handynummern aus. Ein neuer Freund, auch wenn er einige Jahre älter ist als ich. Zur Person Rudolf Bahros, seinen politischen und wissenschaftlichen Aktivitäten finden sich bei Wikipedia nähere Informationen (https://de.wikipedia.org/wiki/Rudolf_Bahro / 26.08.2018).

Auf dem Weg zum Bahnhof Sorge, wo sich ein kleines Grenzmuseum befindet, verfahre ich mich natürlich mal wieder und muss dann über die Bundesstraße 4 nach Sorge. Dort angekommen merke ich, dass mir der „Ring der Erinnerung“ auf meiner Liste fehlt. Also, mal wieder Retour in Richtung Hohegeiß. Ich treffe bei dem in freier Landschaft stehenden B-Turm eine Gruppe von Holländern, denen ich ein paar Erläuterungen auf Englisch geben und mich mit „tot ziens“ verabschiede. In der Tat treffe ich sie in dem Bahnhofsmuseum wieder, wo ein von der Arbeitsagentur unterstützter Mittfünfziger detaillierte, aber auch kritische Aussagen zum Prozess der Wiedervereinigung  macht, wie z. B. dem Verlust der Arbeitsplätze in der ehemaligen DDR. Der Mann kommt aus dem Westen …

Eigentlich habe ich schon genug angesichts der Hitze, aber ich will unbedingt morgen den Brocken rauf. Daher muss ich heute noch Schiercke erreichen. Über die Bundesstraße 27 geht es zunächst nach Elend und dann durch den malerischen Wald nach Schierke. So weit so gut. In Schierke komme ich mir wie ein Aussätziger vor, als ich den hinter der Theke stehenden Gasthausbesitzer frage, ob er in seiner Ferienlage noch ein Zimmer für eine Nacht habe. Gehöre ich vielleicht zu der Generation, die keinen Internetzugang hat und über booking.com oder hrs.de nicht herausbekommt, wo noch eine Schlafmöglichkeit frei ist? Ich bin schon auf der letzten Rille hochgefahren, der Akku ist nahezu leer und dann dieser ungläubige, herabschätzige Blick. Es dauert eine Weile, bevor ich überhaupt eine Antwort bekomme.

Ich verlasse diesen unfreundlichen Ort und gehe ich die nächste Seitenstraße. Pension. Alles per Telefon. Zimmer noch möglich, aber Wohnung noch nicht sauber gemacht. Egal. Preis verhandelt, 40 Euro unter die Kaffeemaschine morgen legen. Im Info-Heft lese ich, dass das Haus früher der Zirkus-Familie Sarrasani gehört habe. Ich erinnere mich an meine Zeit als Zirkuskind beim Zirkus Busch in den Saisons 1957 und 1958. An den Sonntagnachmittag, als der Bär meinen Lufballon haben wollte und mein Vater geistesgegenwärtig dem Bären mit dem Trockenrasierer auf die Tatze kloppte, damit er meine Hand los ließ… Welch ein Schutzengel!

Zum Essen habe ich dann etwas beim Chinesen auf der anderen Seite, dem Schierke gegenüberliegenden Berg, bekommen. Seit 20 Jahren wohnt er schon dort. Alles in Ordnung.
Kaputt lege ich mich schlafen, die Nacht wird kurz.

Tag 31 (17.08.18):   Von Schierke  über den Brocken nach Stapelburg

Km 945 – 985

Kurz nach drei Uhr morgens wache ich – ohne Wecker – auf. Ich bin nervös, kann nicht mehr einschlafen. Sonnenaufgang auf dem Brocken? Das wär doch was. Also, ab unter die Dusche! Mitten in der Nacht, ohne Frühstück, werden die Sachen gepackt. Wie immer ein Akt. 40 Euro unter die Kaffeemaschine. Schlüssel unter die Türmatte.

Ich starte um 4:45 Uhr von der Pension aus und möchte zum Sonnenaufgang um 6:11 Uhr oben sein. Ich fahre zunächst durch den dunklen Wald mit meiner Beleuchtung, was mir hilft, denn draußen ist es „kuhnacht“. In dem Buch von Stefan Esser ist der Weg auf der Versorgungsstraße beschrieben. Plötzlich taucht in der Dunkelheit ein hell erleuchtetes, leeres Parkhaus auf. Surreal. Schließlich finde ich die Versorgungsstraße, die hoch zum Brocken führt, zwar doppelt so lang wie der Fußweg, der relativ nah der Brockenbahn entlang führt, aber die Steigungen sind mit dem E-Bike gut machbar.

Auf dem Weg hoch komme ich an kaputten Bäumen vorbei, die in drei Meter Höhe abgeschnitten oder richtig gefällt worden sind. Ich kurbele mein Pensum herunter, wie ein Uhrwerk. Es kommt mir vor wie bei meinen Berlin-Marathons zwischen Kilometer 15 und 25. Alles läuft. Zwischendurch überkommen mich die Emotionen. Der höchste Punkt der Reise: Ein paar Tränen werden im Fahrtwind getrocknet, genau wie bei meinem ersten Berlin-Marathon 1996, als ich zum ersten Mal durch das Brandenburger Tor in Berlin „frei“, ohne Mauer und Zaun, laufen konnte … Zwei Kilometer vor dem Brocken treffe ich auf zwei Mountainbiker, die sich vom Osten her hoch gequält haben. Ich bekomme einen Spruch wegen meines E-Bikes ab, aber ansonsen alles gut.

Auf dem Brocken angekommen, herrscht Ruhe über allen Wipfeln. Ein Hobbyfotograf erklärt mir kurz, wo ich noch ein schönes Foto machen kann: auf dem Bahnsteig der Brockenbahn. Aus dem Hotel kommen zwei Frauen, die auch extra zum Sonnenaufgang aufgestanden sind. Zwei junge Kerle mit dem Rucksack marschieren an mir fast grußlos vorbei. Waren das Bundeswehrsoldaten? Ich erinnere mich an den Einzelkämpferlehrgang an der Fallschirmspringerschule in Altenstadt in der Nähe von Füssen Im Frühherbst 1968.

Das Stativ wird ausgepackt, damit ich Fotos vom Sonnenaufgang machen kann. Nur – es ist ein wenig wolkig! Egal, die Sonne ist schemenhaft zu erkennen, zunächst, später deutlicher. Den Fotoapparat benutze ich als Videoaufnahmegerät und ziehe eine Bilanz der bisherigen Reise: Sehr viele interessante Begegnungen, viel Hilfsbereitschaft.

Der Imbiss am Brockenbahnhof hat noch nicht geöffnet. Es ist 06:30 Uhr. Einige Autos fahren zur Wetterstation. Mitarbeiter. Ich hole die Flasche Aufgesetzen aus der Packtasche und trinke auf das Etappenziel, den höchsten Berg der Tour mit über 1.100 Metern. Bernhard Fahrig aus dem Eichsfeld hat mir die Flasche als Reiseproviant mitgegeben. Noch einmal vielen Dank!

Am Brockenstein treffe ich gegen sieben Uhr einen Mann mittleren Alters, der jeden Tag ca. 20 km mit seinen sibirischen Schlittenstunden zu Fuß geht oder läuft. Er ist ein „Schwob“ und kommt aus der Nähe von Aalen, ist mit dem Camper unterwegs. Wir sprechen über die unterschiedlichen Mentalitäten in Ost und West. Er ist der Meinung, dass die Menschen in den neuen Bundesländern freundlicher sind.

Der Brocken ist nach wie vor relativ menschenleer und ich fahre immer noch euphorisiert den steilen Kolonnenweg Richtung Scharfenstein und Ecker-Talsperre. Die Abfahrt erfordert Konzentration, da die Löcher in den Betonplatten zwar einigermaßen zugewachsen sind, aber die Trekking-Reifen sind nicht viel breiter und das Vorderrad darf nicht verkannten. Auch sind es mindesten 135 Kg, die den Berg langsam herunterrollen, meine Hände liegen  immer fest an den beiden Bremsgriffen. Zum Glück habe ich in Duderstadt neue Bremsbeläge für das Hinterrad bekommen …

Nach 20 Minuten Abfahrt mache ich eine Pause. Heute Nacht nur 4 Stunden geschlafen, die Bergfahrt fordert ihren Tribut. Ich lege mich auf die Erde, die Regenjacke darunter, es wird so langsam warm durch die Sonne, ich lege mir sicherheitshalber noch meine vordere Gepäcktasche mit den Wertsachen unter den Kopf und schlafe ein … Als ich aufwache, frage ich mich, wo mein Handy ist. Hosen- und Jackentaschen werden abgesucht, nichts. Die vordere, blaue Gepäcktasche durchsucht, nichts. Es kommt Panik auf. Wie soll ich ohne Handy kommunzieren mit Ellen, den Kindern, Dors …? Ein weiteres Beispiel, wie sich unser bzw. mein tagtägliches Leben in den letzten drei Jahrzehnten verändert hat!

Habe ich das Handy vielleicht oben auf dem Brocken liegen gelassen? Es hilft nichts. Den steilen Anstieg auf dem Kolonnenweg hoch zum Brocken. Am Brockenstein: nichts. Beim Brockenwirt und dem Museum auch nichts. Ich werde fatalistisch und denke: „Recht geschieht es mir, hättest halt besser aufpassen müssen.“ Schweren Herzens, frustiert, geht es wieder bergrunter. In Bad Harzburg kann man bestimmt ein neues Handy kaufen … Unterwegs spreche ich Mountainbiker, die bergauf fahren, an und bitte sie mir ggf. das Handy zuzusenden. Irgendwie gibt es Solidarität, obwohl ich mit einem E-Bike unterwegs bin.

Nach einigen Kilometern liegt ein kleines Plateau vor mir: Scharfenstein. Hier stand früher mal eine Kaserne, genutzt von der sowjetischen Armee und später dann von den DDR-Grenztruppen. Mittlerweile abgerissen. Dafür befinden sich dort jetzt zwei Holzhütten, eine davon mit Bewirtung, betrieben von Harz-Rangern. Da der Anstieg nochmal E-Power verbraucht hat und ich zudem noch nichts Richtiges gefrühstückt habe, mache ich erst einmal eine Pause. Kaffee und Schmalzbrote, später dann noch ein Stück Kuchen und Limonade.

Ich komme mit dem Ranger ins Gespräch: Er war in den Achtziger Jahren selber bei den DDR-Grenztruppen, allerdings nicht in der Nähe seines Wohnortes, sondern weiter nördlich. Ich erzähle meine Geschichte (ein Viertel Ossi, drei Viertel Wessi) und wir kommen nach anfänglicher Zurückhaltung sehr schnell in langes, differenziertes Gespräch über das Leben in der DDR, die Wendezeit und die Zeit nach der Jahrtausendwende. Er regt sich über undifferenzierende „West“-Besucher auf, die angesichts der Fotos sofort auf die Stasi-Leute im Osten schimpfen, alle ehemaligen DDR-Bewohner gleichsetzen, die Kosten der Wiedervereinigung als einseitige Belastung für die alten Bundesländer ansehen. So werden es fast zwei Stunden intensiver Diskussion und ich freue mich, dass ich einen solchen Gesprächs- und Diskussionspartner hier mitten in der Prärie am Fuße des Brockens kennengelernt habe.

Aus dem Esser-Buch, das mich bisher immer begleitet hat, weiß ich, dass die Ecker nicht nur Grenzfluss war, sondern dass das Tal und die Talsperre sehr schön sein gelegen sein sollen. Hätte ich es mal bloß gelassen und wäre mit einem kleinen Umweg über Waldwege nach Ilsenburg gefahren, nein ich wollte die Mountainbikestrecke nehmen! Der erste Kilometer ging noch relativ problemlos, dann aber auf ca. 1 km nur noch eine Wurzel nach der anderen. War es die Trockenheit, die dazu führte, dass es eine Holperstrecke wurde, oder sonst was? Ich weiß es nicht. Ich denke nur: ein Glück, dass ich ein Treckingrad habe, das auch durch die vollen und schweren Satteltaschen relativ stabil fährt. Außerdem: Ich bin stolz auf meine Fähigkeit, das Fahrrad mittlerweile bei allen Unebenheiten im Griff zu haben.

Die Talsperre kann ich auf der Mauer überqueren. In der Mitte ein Grenzpfahl der DDR. Früher hat es wohl öfter Streitigkeiten zwischen der BRD und der DDR gegeben, die die Talsperre gemeinsam betrieben haben. Am Ende der Mauer dann das Erwachen. Das ganze Gepäck vom Rad runter, die Treppen hochtragen, das Fahrrad hinterher und oben alles wieder zusammenbauen. 32 Grad Celsius. Ein Uhr mittags.

Anstatt nach Bad Harzburg zu fahre, suche ich mir wieder die „harte“ Tour raus. Über einen kleinen, steilen Weg runter ins Eckertal. Über Steine, leichtes Geröll, aber immer im Schatten und einen schönen Blick auf die Ecker, die allerdings nur wenig Wasser führt. Ich fahre mittlerweile relativ brutal über die Schotterwege, so mit 18-20 km/h, aber es geht ja auch leicht bergab… Irgendwann merke ich, dass es mich wieder erwischt hat, die Luft scheint vorne nicht mehr zu halten. Na ja, ein Unglück kommt selten allein.

Am Eckerkrug stehen einige überdachte Holztische. Hier befand sich früher eine Naturheilanstalt namens „Jungborn“ , gegründet von Adolf Just. Ich brauche eine Pause, folge dem Ansatz von Just, und mache meinen Oberkörper frei. Außerdem baue ich das Vorderrad ab und flicke den Reifen. Mittlerweile ist es Routine. Gepäck abbauen. Fahrrad auf den Sattel und den Lenker stellen. Vorderrad aus aus der Gabel. Wasser aus der 1,5 l-Flasche in den kleinen viereckigen Plastikbehälter. Schlauch ausbauen. Wieder aufpumpen und dann Stück für Stück durch das Wasser ziehen, bis es Blasen gibt. Ein Gummiflicken drauf und 150 mal mit der kleinen Luftpumpe aufpumpen. Da kommt jedesmal Freude auf …Beim Durchsuchen der vorderen Packtasche nach Flickzeuge finde ich vollkommen überraschend mein Handy wieder. Es ist schmal und ich hatte es auf dem Brocken in der ganzen Euphorie und Aufregung nicht gefunden….

In Stapelburg halte ich bei einem Supermarkt an… hat mehr den Charme des alten Konsums, nur mehr Waren natürlich. Ich kaufe mir Bananen und 500 gr. Joghurt. Irgendwie bekomme ich den Joghurt nicht runter, da helfen auch nicht wirklich eingetunkte Bananenstücke. Der Joghurt wird hinten auf dem Fahrrad ‚festgeschnallt‘. Man ist ja umweltbewußt. Zum Glück finde ich nach mehrmaligem Fragen ein Zimmer in einer Ferienwohnung, die ich für mich alleine habe. Obwohl draußen der Rasen total vedorrt ist, frage ich die Wirtin gleich nach der Besichtigung, ob ich zwei Tage bleiben kann. Ruhetag! Als ich mich nach 17 Stunden Unterwegssein im Spiegel sehe, gewinne ich den Eindruck, dass ich mit dem Typen, der mich ansieht, heute Abend auch kein Bier mehr trinken möchte. Total kaputt, aber tolles Gefühl: Der Brocken ist geschafft!

Tag 32 und 33 (18./19.08.18):   Ruhetage in Stapelburg

KM: 980-985

Heute ist Samstag. Es ist eine gute Entscheidung, einen Ruhetag einzulegen. Nachts haben die Oberschenkelmuskel mal wieder derbe gekrampft. Die gestrige Brocken-Überquerung hat ihre Spuren hinterlassen. Aber morgens geht es mir schon viel besser als gestern Abend. Mit dem Schreiben des Tagebuches hänge ich hinterher. Daher: Schnell einige ich mich auf zwei Ruhetage anstatt nur einem. Die gediegen eingerichtete FEWO gibt mir so ein wenig das Gefühl, dass ich hier eine kleine Oase gefunden habe. Arminia Bielefeld spielt und ich höre Radio Bielefeld dabei. Es wird, wie fast immer bei der Drama-Queen, ein Zittersieg: 2:1 gegen die Dynamos aus Dresden. Ein Geschenk an den plötzlich verstorbenen Stadionsprecher, der 35 Jahre lang die Stimme der Alm (Schüco Arena) war.

Ich kaufe Lebensmittel ein, bruzzele mir etwas zurecht, trinke Pulver-Cappucino … nur vom Feinsten. Von meiner Nichte Iris habe ich die Telefonnummer von meinem Cousin Ulli erhalten. Ich rufe an und stelle fest, dass er an der Bergstraße in Südhessen wohnt. Erinnerungen werden wach an meine insgesamt zehn Jahre an der TU Darmstadt, das Studium, die vielen Interviews mit Zeitzeugen aus dem NS-Widerstand, an aufrechte Kämpfer wie den Kommunisten Karl Schreiber, der dafür sorgte, dass das KZ Osthofen (Schauplatz von Anna Seghers‘ „Das siebte Kreuz“) nicht in Vergessenheit geriet, an Schwester Ria Ratz, die als evangelische Ordensschwester in Opposition zu den Nazis stand, oder an Alexander Haas, den damaligen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Darmstadt, der mich in der Auseinandersetzung um meine Staatsexamensarbeit / Promotion über Machtergreifung sowie Widerstand und Verfolgung in Darmstadt gegenüber dem SPD-Oberbürgermeister verteidigte. Ich erinnere mich an die Zeit in der Hochschulpolitik als Mitglied des damaligen Allgemeinen Studentenausschusses und an die von mir gegründete Georg-Büchner-Edition, die mir zur Veröffentlichung der mehr oder minder auf dem Index stehenden Geschichtsforschungen sowie der von mir produzierten Langspielplatte „Osttangenten-Blues“ diente. Lange ist es her, doch die Erinnerungen an die Auseinandersetzungen, aber auch an die Solidarität und die Unterstützung, nicht von der politischen Linken, den Zeitzeugen, sondern u.a. auch vonseiten des damaligen Leiters des Hessischen Staatsarchivs in Darmstadt sind wach.

Ich rufe meinen Cousin Uli an. Er ist erstaunt und anscheinend erfreut, von mir zu hören. Ein positives Gefühl, das ich auch in Heiligenstadt bei meinem Cousin Ernst-Georg und seiner Familie hatte. Ich frage nach Gerichtsakten über den Tod unseres gemeinsamen Großvaters, die er angeblich von seinem Vater geerbt haben soll. Nein, Prozessunterlagen aus dem Jahre 1961, als der Todesschütze zu eineinhalb Jahren auf Bewährung verurteilt wurde und relativ schnell zur SED-Bezirksleitung nach Erfurt versetzt wurde, hat er nicht.

Mich trifft fast der Schlag, als er mir berichtet, dass sein Vater Ernst davon ausgegangen war, dass es kein Unfall, sondern Mord gewesen sei. An einem klaren, sonnigen Dezembertag könne man auf ca. 20 Meter Entfernung in einer Schonung, in der die Stämme jeweils mehrere Meter auseinander stehen und vielleicht 10 cm dick sind, keinen erwachsenen, schwergewichtigen Menschen mit einem Wildschwein verwechseln und zweimal (!) schießen. Ich muss das zunächst verdauen….. Aus dem vorgesehenen Ruhetag ist so ein emotional aufwühlender Un-Ruhetag geworden.

Am Sonntag habe ich die Möglichkeit, mich lange mit der Besitzerin der FEWO zu unterhalten. Ihr verstorbener Ehemann, der in den 60er Jahren über die Grüne Grenze im Eckertal in den Westen geflohen war, hat das aufwendig restaurierte Bauerngehöft nach der Wende wieder zurück erhalten. Sie berichtet von den Schwierigkeiten und den Anstrengungen, die es gekostet hat, sich Anfang der 90er Jahre die Anerkennung der Dorfbewohner im wahrsten Sinne „zu erarbeiten“. Inwieweit auch heute noch Ressentiments vorhanden sind, bleibt unklar.

Ein geplanter Besuch in dem unterirdischen Museum im ehemaligen Grenzbunker zwischen Stapelburg und Eckertal findet nicht statt. Die Frau, die vor zehn Jahren einen Kiosk direkt über dem zu besichtigenden kleinen Bunker betrieben hat, gab nach wenigen Jahren auf. Es fand sich kein Träger, der die Arbeit unterstützte. So ist heute nur noch eine Betonplatte zu sehen. Vielleicht lag es auch daran, dass der Kiosk an dem ehemaligen Grenzübergang nicht mehr lief.

Tag 34 (20.08.18):  Von Stapelburg nach Schöningen

Km: 985 – 1060

Ich verabschiede mich herzlich von meinen beiden Gastgebern und fahre entlang der ehemaligen Grenze Richtung Vienenburg. Nachdem ich wieder im Westen bin, komme ich an total vertrockneten Ästen und z. T. entwurzelten Bäumen vorbei. Natürlich verfahre ich mich auch mal wieder. Abbenrode hätte ich auch ‚leichter‘ haben können, aber der Waldweg war schön. In Vienenburg nochmal schnell Geld holen auf der Bank und einen Cappucino bei einer relativ unfreundlichen Eisdielenbetreiberin trinken. Dann geht es wieder über die mittlerweile imaginäre Grenze in den Osten.

Ich bin einfach dankbar und froh, zumal jetzt keine gewaltigen Steigungen mehr kommen.  Kurz vor Göddeckenrode habe ich ein weiteres Teilziel erreicht: 1.000 Km habe ich hinter mir … und lebe noch! Ich genehmige mir erneut einen Schluck von Bernhards Wildkirschen-Schnaps, mache neben dem Grenzzaun eine Pause und halte für wenige Minuten inne. Die angerissene Achillessehne, die angerissenen Bänder im linken Fuß – ein Souvenir aus Chisinau, als ich morgens auf dem Weg zur Akademie der Wissenschaften auf Glatteis ausgerutscht bin (28. Januar 2014) – haben bisher gehalten und mitgemacht. Toi-toi-toi.

In Göddeckenrode treffe ich eine ältere Frau. Was heißt hier älter? Jahrgang 1946, gerade mal zwei Jahre älter als ich! Sie ist von der Wende enttäuscht, weil sie Anfang der 90er Jahre nicht nur ihre Stelle bei der Post verlor (dazu muss man wissen, dass die Poststelle in der DDR lange Zeit eine wichtige Funktion im Dorf hatte und mit hohem Ansehen verbunden war. Es gab nur sehr wenige Telefone. Telefonieren und Telegramme versenden konnte man nur direkt auf der Post), sondern im Dorf mittlerweile die Westler das Regiment übernommen hätten. Nach der Wende wären sie relativ schnell gekommen und hätten die alten, z. T. verlassenen Häuser gekauft und renoviert. Die Qualität der Kindergärten und Schulen sei auch unterschiedlich. Sie sähe das an ihrer jüngsten Enkelin, die im bundesdeutschen Nachbarort den Kindergarten besucht habe. Auch die in der DDR gut qualifizierte Tochter würde sich im nahegelegenen Hornburg immer noch als Ossi fühlen, und viele Frauen hätten keine vergleichbare berufliche Ausbildung wie in der DDR erhalten.

Nach Hornburg fahre ich nicht rein, weil ich eine Abkürzung Richtung Osten nehmen will und prompt verfahre ich mich mal wieder. Dies endet – zum Glück – an einem Beobachtungsturm mitten auf einem Kamm, was durchaus interessant ist, aber auch ein Desaster. Die Wege sind mal wieder von Steinen und Ästen übersäht. Ich fahre über ein Stoppelfeld, aber es geht nicht weit: Wieder ist es der Vorderreifen, der nicht mehr genügend Luft hat. Ich komme nicht mehr richtig vorwärts, die Speichen will ich auch nicht gefährden. Also, ab an den Waldrand, alles abbauen! Wie gehabt und schon beschrieben: zur Feier des Tages (1.000 Km) gönne ich mir endlich den Ersatzschlauch und bin nach einer guten Viertelstunde wieder startbereit für den Trail … holterdiepolter geht es weiter …

Nach mehrmaligem Verfahren im Wald komme ich zu einer Ausflugsgaststätte in der Nähe von Osterwieck. Ich frage nach, ob ich den Akku nachladen sowie Kaffee und Kuchen bekommen kann. Die Wirtin ist zuerst etwas skeptisch, gestattet dann aber doch das Aufladen. Am Nachbartisch sitzt ein drahtiger Mann, der vielleicht knappe zehn Jahre jünger ist als ich: „Wo fahren Sie hin?“ – „Ostsee, immer an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenzen entlang!“ Es entspinnt sich eine Diskussion, die ich so schnell nicht vergessen werde. Themen wie üblich: Flüchtlinge, Migranten, Islam. „Alles raus, hat nichts mit Deutschland zu tun! Alle meine Freunde in Halle denken so.“ „Schauen Sie sich doch mal in Halle an der Saale auf dem Marktplatz um! Alles Asylanten, Schwarze, Flüchtlinge! Ab sieben kann da keine deutsche Frau mehr hergehen.“

Als er dann tatsächlich fordert, man müsse mit Frau Merkel das Gleiche machen, wie es die Securitate in Rumänien mit Ceaușescu gemacht hat, nämlich den Staatschef ohne Gerichtsverhandlung zu erschießen (Weihnachten 1989), gebe ich meine Zurückhaltung auf: „Glauben Sie bloß nicht, dass wir es zulassen werden, dass hier in Deutschland Politiker erschossen werden, nur weil einigen Leuten deren Meinung nicht passt! Da gibt es genug Leute im Westen, die sich ganz klar dagegen stellen werden!“ – Er legt nach: „Und schauen Sie sich doch mal die Roth von den Grünen an, die ist sogar Bundestagsvizepräsidentin. Genau das Gleiche! Weg damit!“
Ich halte hier dagegen, weil ich diese Nazipropaganda nicht unwidersprochen stehen lassen will.

Das ganze Streitgespräch dauert über eine Stunde. In welchem Bereich er arbeitet, will der sehr gut informierte Herr mir nicht sagen. Zu meinem heutigen Etappenziel Marienborn sagt er beim Abschied nur: „Ja, zu Marienborn könnte ich Ihnen auch noch was sagen. Da kenne ich mich sehr gut aus. Aber lassen wir das …!“ Habe ich es hier etwa mit einem ehemaligen Angehörigen der Stasi zu tun gehabt, deren Aufgabe es war, bundesrepublikanische Reisende auszufragen bzw. anzuwerben? – Ich erinnere mich an den 2. Weihnachtsfeiertag 1981 als ich wenige Tage nach dem Tod meines Vaters den Totenschein zu meinen Brüdern in Ostberlin bringen wollte. Morgens gegen sieben Uhr werde ich vom Zoll der DDR befragt, was denn das für ein Schmuck sei, den ich als Geschenk mit mir führte. Es war Indianerschmuck, wahrscheinlich aus dem Sioux-Reservat, den ich auf einer Reise mit meiner früheren Frau Ute dort während des zweijährigen USA-Aufenthaltes in Buffalo, N.Y.,  gekauft hatte. Ich sollte 70 DM Zoll bezahlten. Als ich dem Grenzoffizier sagte, dass der Schmuck keine 30 DM wert sei, hielt er mir vor, dass sie in der DDR auch nicht mit allem in der BRD einverstanden seien, z. B. den Berufsverboten gegen Kommunisten. Nach vorigen Nacht ohne Schlaf war ich relativ geladen und habe ihm gesagt, dass er mir über Berufsverbote nichts sagen bräuchte. Die Tatsache, dass ich 1978 in Hessen keinen Referendarsplatz trotz sehr guter Noten bekommen hatte, waren für mich Anlass anzunehmen, dass ich selber unter den so genannten Radikalen-Erlass aus dem Jahre 1971 gefallen war. Irgendwie muss es ihn beeindruckt haben: Meine Zollgebühr wurde halbiert, von 70 DM auf 35 DM.

Nachdem die Wirtin mich freundlich verabschiedet hat, bin ich mir mit Wut im Bauch klar, dass ich heute noch Kilometer machen muss, damit ich Dors, wie geplant, morgen früh in Helmstedt abholen kann. Es gilt Landstraße zu fahren: Aue-Fallstein, Huy, Jerxheim: teilweise Bundesstraße ohne Fahrradweg. Es wird mir mulmig, wenn die Autos mit 100 und mehr Sachen an mir vorbeirauschen. Zum Glück habe ich immer meinen gelben Regenschutz über dem Schutzhelm – ein guter Sonnenschutz gegen Hautkrebs und gleichzeitig von weitem sichtbar! Der Akku ist wieder einigermaßen aufgeladen und ich spule die Kilometer runter, mittlerweile Routine. Kurz vor der imaginären Grenze kaufe ich in Sachsen-Anhalt noch Studentenfutter zur Stärkung in einem Supermarkt. Im niedersächsischen Söllingen hat das Gasthaus zu, aber irgendwie gelingt es mir eine Internetverbindung herzustellen und noch ein Hotel in Schöningen für diese Nacht zu bekommen. Kurz vor acht Uhr, es dämmert schon, komme ich relativ groggy dort an. Zwei Monteure aus Schwerin sind schon da, die Unterbringung erinnert mich ein wenig an Bombay am Hafen im Jahre 1994. Jeder Ton des Nachbarn zu hören …

Zum Essen bekomme ich vorzügliche Rouladen. Das Alsterwasser als erstes Getränk und dann noch ein oder zwei normale Bier sind schon zur Routine geworden. Ich darf mich neben den Gastwirt setzen, der einige Jahre älter ist als ich. Er erzählt von früher, von vor der Wende, während der Wende und den leider traurigen Jahren danach. Vor der Wende war in seiner Gaststätte viel los: US-Soldaten, die in der Nähe stationiert waren, Russisch lernten und den Funkverkehr der Warschauer Vertragsstaaten abhörte, LKW-Fahrer der DDR-Spedition DEUTRANS, Kungelgeschäfte zwischen Amerikanern und Russen in der Wendezeit (Uniformen, Waffen der Sowjets gegen US-Dollar). Verwundert hat mich nur, dass er offensichtlich auch DEUTRANS-Fahrer mit in die Kaserne genommen hat, wo diese ihre Beobachtungen machten. Ich erzähle ihm von meiner Bundeswehrzeit von 1967-1970 und wir finden gleich eine gemeinsame Ebene, obwohl er nur Wehrpflichtiger war und ich ein 1000-Tagebär. Interessant war auch, dass sein Vater in sowjetischer Kriegsgefangenschaft war und dort ideologisch geschult worden ist …
Was für ein Tag!

Tag 35 (21.08.18):   Von Schöningen nach Oebisfelde

Km: 1060 – 1125

Das Zimmer war im Prinzip in Ordnung. Das Schnarchen des Nachbarn hielt sich in Grenzen. Wie das mit meinem war, habe ich nicht so genau mitbekommen. Das Frühstück war überraschend gut: zwei frisch zubereitete Eier etc. und immer Kaffee mit Milch. So langsam macht sich wieder der Reflux bemerkbar. Tagsüber kaum etwas zu essen, außer Kaffee und ein Stück Kuchen, und abends wird immer reingehauen, was das Zeug hält. Zwischenzeitlich war ich schon mal dünner, aber es gibt auch was Positives: Seit dem Harz sind die Temperaturen erträglicher geworden, so um die 22 bis 26 Grad Celcius, ab und an ein Regentropfen. Eine Wohltat, wenn auch zu wenig für die Natur.

Um 10.43 Uhr kommt Dors aus Bünde mit dem Zug nach Helmstedt. Ich wollte mich extra im Westen mit ihm treffen, damit wir beide gemeinsam über die Grenze fahren können.
Vorher mache ich aber schnell einen Abstecher nach Höltensen, wo die Grenzbefestigung noch original erhalten ist, eine der wenigen Grenzabschnitte, so wie z. B. bei Sickenberg / Allendorf. Es sind jetzt noch knapp 16 Km bis Helmstedt. Die schaffe ich in einer Stunde.

Um halb elf bin ich dann da und wundere mich über die Universitätstage in Helmstedt. Welche Universität gibt es denn hier seit Neuestem? Pünktlich kommt Dors mit dem Zug angefahren. Seit vier Wochen hat er mich nur virtuell begleiten können. Die Freude ist groß und einen neuen Fahrradschlauch hat er mir als Geschenk aus der Heimat auch mitgebracht.

Wir fragen uns durch, wie wir in den Osten kommen, zum Glück hat Dors aber auch eine Navifunktion auf seinem Handy geschaltet. Wir fahren durch einen kleinen Wald und fragen einen Ausländer, der kein Deutsch spricht, wo Marienborn ist. Er kommt aus dem Iran und geht gerade in den ‚Westen‘ nach Helmstedt. Durch eine kleine Öffnung im „Moschendrohtzaun“ kommen wir auf ein Kasernengelände der ehemaligen NVA, das von Asylbewerbern bewohnt wird. Auch hier fragen wir uns wieder nach der Gedenkstätte / Raststätte, nach dem früheren Grenzübergang Marienborn durch. Eine junge Frau, die wohl offensichtlich zu den Betreuerinnen gehört, gibt uns mit einem slawischen Akzent Antwort. Ich kann es natürlich mal wieder nicht lassen und frage sie, woher sie kommt. Als sie Rumänien sagt, lege ich sofort los: „De unde sunteti in Romania? Am fost doua ani in Republica Moldova. Am locuit si lucrat in Chisinau la Academia de Stiinte…!“ Ihr fällt fast die nicht vorhandene Prothese raus, und es ist eine Freude, mal wieder mit jemand Rumänisch zu sprechen, zu fragen, woher in Rumänien sie kommt, und zu erzählen, dass ich zwei Jahre in Chisinau gelebt und gearbeitet habe. Sie erzählt von ihrem Mann, ihrem Studium in Dortmund, ihrer Rückkehr nach Rumänien und der Jobmöglichkeit jetzt bei den Asylbewerbern. Dors schaut etwas ungläubig, freut sich aber mit mir.

Kurz danach sind wir auch schon auf dem Bundesautobahnparkplatz, auf dem noch viele der Gebäude im Original erhalten sind. Dors erzählt davon, wie er als 15-Jähriger mit seinem Vater auf der Transitstrecke nach Berlin unterwegs war, und zeigt mir die Stelle, wo sie alles auspacken mussten, alles Schikane und sehr einschüchternd. Das war System von oben. Ich gehe zu dem Laufband, auf dem die Pässe und Kfz-Papiere transportiert wurden. Ich erinnere mich an Sonntag, den 12. November 1989, als wir mit meiner damaligen Frau Ute und den drei Kindern im Alter von sechs und zwei Jahren und drei Monaten nach Berlin gefahren sind, um meinen Bruder Klaus und seine Familie zu besuchen. Es war eine eigenartige Stimmung. Schon im Westen kamen uns auf der gegenüberliegenden Fahrbahn Kolonnen von DDR-Fahrzeugen entgegen. Etwas, was man sich vorher nie hätte vorstellen können. Der Ton der DDR-Grenzsoldaten war merklich moderater – oder habe ich mir das im Nachhinein etwa nur eingebildet? In West-Berlin am Brandenburger Tor war es ein Feeling wie ein politisches Woodstock. Menschen auf der Mauer sitzend, trinkend, feiernd, Bilder wie von einem anderen Stern …, auch das Hallo und die Überraschung, als wir dann endlich gegen halb sieben in Pankow zum Abendessen kamen, völlig unerwartet, da die Telefon- und Telegrammleitungen in diesen Tagen, die Weltgeschichte geschrieben haben, total blockiert waren. Am 15. November habe ich dann noch mit zwei anderen Kolleginnen meiner Schule drei Busse organisiert und wir sind in 30 Stunden praktisch ohne Schlaf mit 150 Schüler/innen nach Berlin gefahren und haben uns z. T. als Mauerspechte betätigt. Geschichtsunterricht live …

Vor dem Museumsgebäude treffen wir eine Gruppe von Fachoberschüler/innen, die gerade an einer Führung teilnehmen. Die Führerin erzählt anschaulich und engagiert, ein Teilnehmer wird aufgefordert, sein Handy wegzulegen und ich …, ich werde aufgefordert zu erzählen, wie das am 9. November war. Ich merke, ich gehöre so langsam zu den seltenen Exemplaren, die die Zeit vor, während und nach der Wende bewusst mitbekommen haben. Man wird alt. Wir schauen uns noch gemeinsam das Museum mit seinen vielen Exponaten an, auf ein spontanes Gespräch mit der Museumsleitung über didaktische Fragestellungen verzichte ich …, will Dors nicht damit nerven.

Mir wird bewusst, dass wir uns auf der Höhe von Magdeburg befinden, ca. 40 Km entfernt. Es ist das Jahr 1965, ich höre den Soldatensender 999, einen Propagandasender der DDR, der in der Burg bei Magdeburg stationiert ist. Zu Pfingsten wird die gesamtdeutsche fortschrittliche Arbeiterjugend nach Magdeburg eingeladen. Friedensfreunde aus der Bundesrepublik sind willkommen, brauchen vorher kein Visum zu beantragen. Wie schon berichtet, fahre ich von Hann. Münden nach Bebra/Herleshausen und werde dort zuerst mal vom Bundesgrenzschutz befragt, verhört, was ich denn in Magdeburg wolle und ob mein Vater überhaupt damit einverstanden sei. Ich war 16 Jahre alt. Mein Vater war zum Glück telefonisch erreichbar und so durfte ich fahren. Wie bereits erwähnt, war dies mein erster Vermerk bei den Sicherheitsorganen der BRD … – nicht zu vergessen meine Aktivitäten gegen die Notstandsgesetze.

Nachdem ich also meine Großmutter und Verwandte in Heiligenstadt mit meiner Kreidler Florett besuchte hatte, fuhr ich durch den kalten und regnerischen Harz nach Magdeburg. Eigentlich unvorstellbar heute. Plötzlich hieß es, dass die westdeutschen Friedensfreunde, ich vermute im Nachhinein, dass es sich bei den meisten der 20 Anwesenden um Mitglieder der 1956 verbotenen KPD gehandelt haben muss, zu einer Gesprächsrunde mit dem Genossen Walter Ulbricht kommen sollten. „Nu, wie sieht es mit dem Kampf der Arbeiterklasse in Westdeutschland aus?“, so muss es wohl gewesen sein. Andächtig stehe ich im Abstand von wenigen Metern neben dem Genossen Generalsekretär und lausche seinen Ausführungen … ( https://de.wikipedia.org/wiki/Walter_Ulbricht).

Orts- und Zeitwechsel: gut vier Jahre später. Sauerland, Bildungsstätte. Seminar. Fähnrich in Kassel bei der Bundeswehr. Auftrag, dem vor wenigen Monaten aus dem Amt geschiedenen Bundespräsidenten Heinrich Lübke mit einer kleinen Abordnung von Soldaten einen Glückwunsch im Namen der Bundeswehr auszusprechen. Am 14. Oktober 1969 sitze ich bei Heinrich Lübke, an den genauen Ort kann ich mich nach nahezu fünf Jahrzehnten nicht mehr erinnern (Birgits Großtante wohnte in Enkhausen und die wußte, dass H. Lübke seine letzten Jahre dort verbracht hat), zuhause auf dem Sofa und wir gratulieren ihm zu seinem 75. Geburtstag. Es fällt ihm schwer, Worte des Dankes zu finden … Er bemüht sich, aber wir merken, dass er wirklich krank ist. Seit diesem Zeitpunkt habe ich keinen der weit verbreiteten Witze über Heinrich Lübke mehr gemacht, er war krank, heute würde man es wohl fortschreitende Zerebralsklerose nennen ..seine Rolle als Baumeister von KZs im Dritten Reich war mir da noch nicht so bewußt . (https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_L%C3%BCbke).

Von Marienborn fahren wir mit unseren beiden E-Bikes über Beendorf, Schwanefeld, Saalsdorf, Gehrendorf nach Oebisfelde. Unterwegs versuchen wir uns an den Pflaumen, die aber noch nicht ganz reif sind. Wir kommen mit einem ca. 50-jährigem Spaziergänger ins Gespräch, für den die frühere deutsche Teilung kein Thema mehr ist. Früher war eigentlich alles im Großen und Ganzen in Ordnung und heute …, heute geht es uns gut.

Wir glauben nicht, dass wegen Bauarbeiten die Aller-Brücke gesperrt ist, und nehmen den direkten Weg in die nächste Ortschaft. Pustekuchen. Die Straße endet bei einer großen Baustelle. Zurück und 10 Kilometer Umleitung fahren? Zwei Brückenbauer erklären uns, dass es hier nicht weitergehe, es sei denn …, ja, da wäre ein kleiner Steg, da sei neulich zwar schon einer baden gegangen … . Im Trippelschritt, darauf vertrauend, dass das Wasser schon nicht so tief ist, bringen wir Fahrrad und Gepäck sicher rüber. Die Bauarbeiter beschweren sich über die die „faulen Rumänen“, die als Sub-Sub-Arbeitnehmer – als Eisenbieger und Betonarbeiter – mitgeholfen haben. Bevor wir uns nach Sachsen-Anhalt über den Fluss begeben können, kommen uns zwei ‚Grenzgänger‘ entgegen: ein etwa 12-jähriges Mädchen mit Kopftuch und ihr ein paar Jahre jüngerer Bruder, vermutlich Kinder von Asylbewerbern. Sie werden hinter der Baustellenabsperrung im Westen von einer Frau in den Fünfzigern mit dem Auto erwartet. „Beeilt euch …!“ – Ein Beispiel für die Willkommenskultur in der alten Bundesrepublik …

In Oebisfelde fällt mir als erstes das Plakat des gerade durchziehenden Klein-Zirkus auf,  Veranstaltung 18:00 Uhr. Ich erinnere mich an die Saisons 1957 und 1958, als mein Vater Lehrer der Zirkuskinder beim Zirkus Busch Roland war. Ein  Zirkuswagen mit einem kleinen Klassenzimmer für fünf Schüler/innen: Belita und Arlene – italienische Akrobatnummer auf dem Fahrrad (der Onkel war Silvio Franceso), Charly Ruppert (seine Eltern hatten eine Bärennummer) und natürlich Ossi, der Sohn des Direktors, der nachmittags und abends als 7-Jähriger mit einem großen Elefanten in der Manege stand …, und ich zwischendrin. Spielen im Gradin, unter den Sitzreihen, alle Tage an einem anderen Ort, aber von Füssen (Schloss Neuschwanstein) bis Hamburg (Heiliggeistfeld – St. Pauli) habe ich alles mal kurz gesehen …

Bei einem Stopp bricht mein Fahrradständer ab. Hätte ich mal nur die schwerere Packtasche von Ortlieb auf die rechte, äußere Seite gepackt! Hätte, hätte: Fahrradkette.

Dors und ich finden nach einigen erfolglosen Versuchen noch ein wirklich schönes, gerade eröffnetes Hotel am Markt und gehen abends in eine Pizzeria um die Ecke zum Essen. Das Essen ist vorzüglich, der Wein zu süß, das entspreche aber dem lokalen Geschmack, sagt zumindest der sizilianische Besitzer, der schon über 10 Jahre im Osten ist. Seine Frau kommt, wie sich herausstellt, aus Kirgisien. „Otkuda wi? Ya bil 10 mezezov Moskwe“ – na ja, wenn schon, denn schon! Rumänisch hat an diesem Tag wohl nicht gereicht …

Ach ja, fast hätte ich es vergessen! Heute vor 40 Jahren sind die Truppen des Warschauer Vertrages, im Westen sagte man Pakt, in die CSSR einmarschiert und haben dem sich anbahnenden politischen Umbruch ein gewaltsames Ende bereitet. 20 Jahre später hat es dann mit der Öffnung der Grenzen in Ungarn geklappt.

Tag 36 (22.08.16):   Von Oebisfelde nach Salzwedel

Km: 1125 –1196

Halb acht Frühstück, Dors sei Dank. Habe mich mittlerweile daran gewöhnt, früh aufzustehen. Manchmal schreibe ich nach dem Frühstück noch ein paar Zeilen für das Tagebuch, komme dann erst so gegen 10 Uhr morgens los, aber im Prinzip hänge ich immer mehrere Tage hinterher. Abends bin ich in der Regel zu kaputt. Ein Glück, dass seit dem Harz die große Hitze vorbei ist.

In einem Landhandel versuche ich einen neuen Fahrrad-Ständer zu bekommen. Die Auswahl ist nicht groß und außerdem müsste erst die abgebrochene Schraube ausgebohrt und vielleicht auch das Gewinde nachgeschnitten werden. Ich will unbedingt zum Bahnhof Oebisfelde, weil ich einige Male über diesen Zug-Grenzübergang gefahren bin. Am  Bahnhof kommen wir mit einem freundlichen, gesprächsbereiten Bundesbahner ins Gespräch. Er kennt sich gut aus, hat in der 2. Hälfte der 80er Jahre TUI-Reisezüge mit Urlauber/innen von Westdeutschland nach Polen auf der Ostseite begleitet. Zu damaligen Zeiten eine besondere Auszeichnung, in solchen Zügen eingesetzt zu werden. Es ging ihm gut vor, während und nach der Wende. Auch wohl dadurch, dass er die Möglichkeit hatte, Wohneigentum zu renovieren und zu vermieten. Hinzu kam, dass er nahtlos von der Reichsbahn in ein Bundesbahnbeschäftigungsverhältnis übernommen wurde. Angesprochen auf die unterschiedlichen Mentalitäten, den unterschiedlichen Arbeitsethos, den ich bereits mit Thomas in Gerstungen diskutiert habe, bestätigt er die Ansicht, dass ehemalige DDR-Reichsbahner eine größere Bereitschaft zeigen, in Vertretungsfragen einzuspringen. Hinzu kommt, dass mittlerweile in Hannover auch Ossis Fahrdienstleiter seien. Ein weiteres persönliches Detail: In seiner Jugend in den siebziger Jahren als 15- und 16-Jähriger sei er mit Kumpels öfters bei Brome zu seiner Tante in den Westen schwarz über die Grenze gegangen und … auf demselben Weg unter dem Zaun zurückgekehrt.

Wir fahren durch das Naturschutzgebiet Drömling und sind begeistert von der Schwanenfamilie, die mit ihrem Nachwuchs in Reih und Glied wie an einer Perlenschnur aufgereiht, langsam, aber zielstrebig Fersengeld gibt, als wir sie in einem Kanal beobachten. Das relativ ursprünglich belassene Sumpfgebiet wird durch mittlerweile oft ausgetrocknete Gräben durchzogen. Ein Bauer mit seinem Traktor überholt uns.

Kurz vor 13 Uhr kommen wir in Klötze an einer Bäckerei vorbei (alles noch selbst gemacht), die bis um ein Uhr geöffnet hat. Eine Viertelstunde bleibt uns noch. Mit Müh und Not bekommen wir einen Capuccino. Auf die Frage, wie weit es noch bis zum „Westen“ sei, bekomme ich von der Mittvierzigerin eine schnippische Antwort: „Weiß ich nicht, ich komme nicht von hier, wohne in 20 Km Entfernung.“ Der Elfmeter hat gesessen. Die 1,5-Liter-Flasche Wasser wird mir dann aber doch vollgefüllt.  Eine ältere Dame, vermutlich die Seniorchefin, beäugt uns mißtrauisch, ebenso ihr Sohn, der Bäcker.

In Böckwitz gibt es ein Landwirtschafts- und Grenzmuseum. Der Museumsmitarbeiter, Mitte 50, HSV-Fan, weiß zwar nichts von der Fan-Freundschaft zwischen HSV und Arminia Bielefeld, dafür fand er das Leben in der früheren DDR in Ordnung. „Uns ging es gut, wir hatten genug zu essen und zu trinken.“ Eigentlich ist ab 13 Uhr das Museum geschlossen, aber wir dürfen uns umsehen. Eintritt jeweils drei Euro, ohne Karte. Er trinkt seinen Kaffee unter der Remise und unterhält sich bereitwillig mit uns über die gute, alte DDR-Zeit und die arbeitsmäßigen Verwerfungen in den 90er Jahren. Wir fahren vielleicht dreihundert Meter weiter und merken es kaum: ein Ortsschild. Zicherie. Wir sind wieder im Westen, in Niedersachsen. So schnell und unkompliziert kommt man heute, nahezu drei Jahrzehnte nach der Öffnung der Grenzen, von West nach Ost und zurück. Wenn man bedenkt, dass die Häuser, die Menschen in Ost und West vielleicht 50 bis 100 Meter durch Mauer und Grenzzäune jahrzehntelang getrennt waren! Was hat diese Teilung in den Köpfen und Herzen der Menschen bewirkt?

In Brome suchen wir die kleine Enklave, die von DDR-Seite in das Gebiet der Bundesrepublik hereinragte. Wir finden sie, Wendischbrome, allerdings nicht das Haus des Eisenbahners aus Oebisfelde, der angab, von dort immer seiner Tante im Westen zugewunken zu haben. Vielleicht haben wir es auch nicht richtig verstanden …

Ziel für heute ist das niedersächsische Schnega. Es geht weiter über Nettgau Richtung Norden. Es ist mal wieder warm am frühen Nachmittag. Wir irren ein wenig durch sandige bzw. kopsteingeplasterte Feldwege umher und kommen gegen drei nachmittags in ein ganz kleines Dorf, Hanum, das durch seine imposante Kirche bestimmt wird. Es gibt eine bäuerliche Pension. Es ist drei Uhr nachmittags. Ich bin kaputt, habe keine Lust mehr. Dors ist noch relativ fit und wir entscheiden uns, im nächsten Ort eine Pension, ein Gasthaus zu suchen. Wir merken gar nicht, dass es nur wenige hundert Meter in den Westen sind. Der ehemalige Osten hat uns gefangen, ist einfach für uns als 4/4 – oder 3/4 Wessis viel interessanter.

Pustekuchen. Im nächsten Ort, in Jübar, sind zwei Gasthäuser, eins davon, „Zur Linde“, ist zum Glück geöffnet. Wir gehen in die „Linde“ hinein und bekommen erstmal was zu trinken. Ich bestelle für mich eine große Flasche Wasser und einen Apfelsaft. Schnell ausgetrunken. Dors versucht es mit einem großen Alsterwasser. Eine Übernachtungsmöglichkeit haben sie leider nicht, aber WLAN, was uns weiter hilft. Na ja, der sächsisch-anhaltinische Ministerpräsident hat vor kurzem hier übernachten können, aber er war auch angemeldet und hat mit den Unternehmern des Landkreises einen netten, informativen Abend verbracht … Nach dem 10. vergeblichen Telefonanruf, z. T. mit Unterstützung der freundlichen Gastleute, entscheiden wir uns, es im relativ weit entfernten Salzwedel zu versuchen. Erfolgreich, aber es sind noch knappe 30 Km bis dorthin.

28 Km laut Navi ist eigentlich gar keine Entfernung mehr für uns, mit E-Bike unter Einberechnung einer kurzen Pause ca. eineinhalb Stunden Fahrzeit. Wir fahren in ein Dorf nach Dors‘ Navi. Eine Frau fährt plötzlich hinterher und warnt uns, dass dieser Feldweg für Fahrräder nur sehr schlecht befahrbar sei. Dors und ich, wir schauen uns verdutzt, sprachlos an und bedanken uns bei dieser wildfremden Frau aus der Altmark.

Der Rest ist schnell erzählt: Wir spulen in dem etwas welligen Gelände mit den sehr großen Ackerflächen unsere Kilometer runter, zumeist und zum Glück auf Fahrradwegen . Über Elleneberg, Wallstawe und Eversdorf geht es Richtung Salzwedel. An einem der vielen Kriegerdenkmäler – es scheint, dass die Namenstafeln alle noch nicht so alt sind, also erst nach der Wende (wieder) angebracht – unter einem Baum mache wir eine letzte Pause: Wasser, Studentenfutter und Feigen, die Dors mitgebracht hat. Tut gut und gibt verbrauchte Energie zurück. Die Akkus reichen wahrscheinlich auch noch so (knapp). In Salzwedel befindet sich das Hotel einige Kilometer südlich der Stadt, wenige Meter von einer großen Kreuzung entfernt. Tankstelle inbegriffen. Das Essen schmeckt gut, im Hotel.

Tag 37 (23.08.18): Von Salzwedel nach Binde/Arendsee

Km: 1193 – 1231

Morgens nach dem Frühstück muss ich erst nochmal eine dreiviertel Stunde meine Tagebucheintragungen vervollständigen. Dors wartet schon vor dem Haus. Von einer Angestellten erhalten wir den Tipp, es in einem Hotel in Gorleben mit der nächsten Übernachtung zu versuchen. Wir haben allerdings das Ziel, heute Abend in Binde bei Jürgen Starck, einem BUND-Aktivisten, zu übernachten. Wir fahren zunächst auf einer kleinen, ehemaligen Landstraße (einer schönen Allee mit altem Baumbestand) in die Hansestadt, die wenige Kilometer von der ehemaligen Grenze in Sachsen-Anhalt liegt.

Ich brauche einen Friseur: Der Bart muss gestutzt werden. Das letzte Mal geschah dies in Heiligenstadt vor mehr als zwei Wochen. Dors will bei seinem Fahrrad das letzte Firmware-Update von Bosch aufspielen lassen, vergeblich. Auf dem Weg zum Friseur komme ich an der „Volksstimme“ vorbei, überlege kurz und schon frage ich nach einem Redakteur, der ja einen kurzen Bildbericht über unsere Reise in die Lokalzeitung bringen könnte. Es klappt, ein junger Mann kommt. Es stellt sich heraus, dass er sein erstes Bundesligaspiel auf der Alm bei Arminia in Bielefeld gesehen hat, den 5:0 Pokal-Sieg Arminias gegen Lok Stendal am vergangenen Sonntag ebenfalls. Mal abwarten, ob der Fotobericht tatsächlich veröffentlicht wird.

Wir entscheiden uns, heute zunächst ins Wendland, also in den Westen zu fahren, bevor wir nach Binde zu Jürgen und Traudi Starck fahren, zu denen ich, vermittelt durch das Grüne-Band-Projektbüro in Nürnberg schon vorher per Mail Kontakt hatte. Auf unserer Tour zu Dietrich Schütze in Tettau am Tag drei haben wir bewusst, aber schweren Herzens auf den Besuch der KZ-Gedenkstätte Laura in der Nähe von Probstzella aus Zeitgründen verzichtet, was sich im Verlauf des Tages und den Problemen mit den Akkus als richtig herausgestellt hatte. Jetzt machen wir aber einen kleinen Umweg und verlassen Salzwedel in Richtung Ritze. Direkt an einer Brücke gelegen, besuchen wir die Gedenkstätte für 244 im Jahr 1945 auf einem Todesmarsch umgekommene KZ-Häftlinge, die dort in einem Gemeinschaftsgrab bestattet sind.

Ich erinnere mich an meine eigenen Forschungen zum Ende der Weimarer Republik und zur Geschichte des 3. Reichs, z. B. die Dissertation zu „Widerstand und Verfolgung in Darmstadt und der Provinz Starkenburg“, die 1985 nach langen Auseinandersetzungen von der Hessischen Historischen Kommission veröffentlicht und in Darmstadt/Marburg erschienen ist, auch an die Besuche im ehemaligen KZ Buchenwald, das 1938 nach dem November-Pogrom errichtet wurde. In der zweiten Hälfte der 70er Jahre war die Aufarbeitung der NS-Diktatur, des Faschismus in der DDR für mich vorbildlich im Gegensatz zum langen Verschweigen, dem Reduzieren auf den militärischen Widerstand des 20. Juli 1944 in der alten Bundesrepublik. Angesichts der rechtsextremistischen Entwicklung in den neuen Bundesländern in den 90er Jahren frage ich mich allerdings, ob es dem staatlich verordneten Antifaschismus der DDR wirklich gelungen ist, in die Köpfe und Herzen der vor allem jungen Menschen durchzudringen. Damit sollen die Absichten zur Aufarbeitung der deutschen Geschichte, auch als Vermächtnis des Potsdamer Abkommens, prinzipiell nicht in Frage gestellt werden, aber vielleicht wurde auch in Teilen der DDR-Jugend die Teilnahme an solchen Gedenktagen etc. als Zwang angesehen und führte so eher zum Gegenteil.

Wir fahren ins niedersächsische Wendland. Dors berichtet von seiner Teilnahme an Protesten gegen die Lagerung des Atommülls in Gorleben Ende der 70er bzw. Anfang der 80er Jahre. In Volzendorf fahren wir die Dorfstraße entlang. Uns fallen die gelben, überkreuzten Bretter auf, die sich an den Häusern, an Scheunen oder an Gartenzäunen befinden. Also doch, der Widerstand ist noch sichtbar, obwohl die gelbe Farbe manchmal schon sehr verblasst erscheint. An einem großen Bauernhof, vermutlich bewohnt von einer Kommune, halten wir an und versorgen uns mit Äpfeln, die in der Hofeinfahrt gegen eine Spende ausliegen. Ein alter VW-Bulli mit Berliner Kennzeichen erinnert daran, dass wohl noch vor der Wendezeit viele Berliner Alternative ins Wendland gekommen sind, um gegen die Atomindustrie aktiv zu werden.

Ich erinnere mich, wie ich bei den letzten Castortransporten vor einigen Jahren kurzfristig überlegt habe, dem Beispiel meines Sohnes Christian zu folgen und auch die Gleise zu blockieren. Ich muss mir eingestehen, dass die drängenden Umweltfragen erst in den letzten Jahren wirklich in mein politisches Bewusstsein gelangt sind und ich bereit bin, in dieser Richtung aktiv zu werden. Meine Schwerpunkte waren bzw. sind eher soziale Fragen oder auch die Beschäftigung mit der Geschichte, der geschichtlichen Aufarbeitung des Endes der Weimarer Republik, der Nazi-Diktatur, insbesondere des Holocaust, wenn ich an das multimediale Forschungsprojekt über Georg und Wilma Iggers denke.

Wir wollen nach Lemgow, sind aber etwas irritiert, weil auf der Navi-Karte zwar unser Ziel steht, aber nirgends finden wir, dort angekommen, das erwartete Ortsschild. Wir fahren über Predöhl und Trabuhn nach Schweskau. „Gibt es bei euch hier im Dorf eine Kneipe oder einen Supermarkt?“ frage ich zwei Männer mittleren Alters, die gerade eine Wand streichen. Bald wird geheiratet, da soll die Fassade schön aussehen. „Nee, ein Gasthaus gibt es heute nicht mehr, früher ja, aber wenn ihr einen Kaffee wollt, könnt ihr zu A. gehen, da vorne erste Straße links und dann gleich rechts.“ Ok. Wir werden von einem kleffenden Hund erwartet. Kein Problem. Hunde, die bellen, beißen nicht. Außerdem kommt Frauchen, Frau A., auch schon aus dem Haus und beäugt uns erstmal kritisch. Ja, doch, einen Kaffee könnten wir kriegen, aber sonst gibt es nichts.

Dors holt mit dem Fahrrad Kuchen, natürlich eingepackten, aus dem Dorf-Supermarkt, der auch schon bessere Zeiten gesehen hat. Ich versuche mich mit dem Hund anzufreunden, was mir aber auch nicht so richtig gelingt. Erst als Frau A. mit der Kanne Filterkaffee kommt, wird er etwas ruhiger. Ist halt genau wie Frauchen und wir selbst auch schon etwas in die Tage gekommen. Wir erfahren von unserer Gastgeberin, dass es Lemgow als Ort gar nicht gibt, sondern dass 12 Dörfer im Wendland unter diesem Namen zusammengeschlossen sind. Sie ist auch ein Flüchtling aus dem Osten, allerdings schon seit den frühen 50er Jahren und war lange hier in Schweskau verheiratet. Ihr Mann und sie hatten eine gutgehende Wirtschaft, die sie aber vor mehreren Jahren aufgegeben haben.

Sie berichtet auch von ihrem Mann, der bei der Bundeswehr gearbeitet habe, auf einem großen Fernmeldeturm, der heute noch sichtbar ist im Wendland. Sie haben dort den Osten abgehört. Von der Protestbewegung gegen das Atomlager in Gorleben hält sie nicht viel, besonders nicht von den jungen Frauen, die damals mit ihren kleinen Kindern voran marschiert sind …Wir machen ein Erinnerungsfotos und verabschieden uns herzlich. Ich glaube, Frau A. hat sich gefreut, sich mit anderen, ihr sympathischen Menschen einmal über ihr Leben zu unterhalten. Mit den Einheimischen wäre das so als Zugereiste manchmal immer noch etwas schwierig. Und, ach ja, unser Ziel Binde kennt sie auch. Sie fährt immer über die Grenze dorthin zum Friseur.

Dors entdeckt plötzlich einen Pirol. Dieser gelb-schwarze Vorgel ist wohl mittlerweile eine Seltenheit und vom Aussterben bedroht. (https://www.nabu.de/imperia/md/nabu/images/arten/tiere/voegel/pirol/150324-nabu-pirol-hans-pollin.jpeg). Er zeigt ihn mir und ich merke, wie einseitig doch meine Bildung ist. Ein Glück, dass Dors mich begleitet. Was hätte er nicht noch alles auf dieser Reise am Grünen Band entdeckt, an dem ich einfach unwissend, mich konzentrierend auf Geschichte, Politik und Menschen, vorbeigefahren bin?

Kurz nach der ehemaligen Grenze hat es mich bzw. besser gesagt mein Fahrrad in der Altmark erwischt: die gesamte Belastung, die Feldwege, die Schotter-, Wurzel- und Geröllstrecken auf den mehr als 1.200 Kilometern bisher hat der Gepäckträger, auf dem ca. 25 kg lasten, nicht länger ausgehalten. Auf der linken Seite ist die Schraube, die den Gepäckträger mit dem Rahmen verbindet, abgebrochen. Er hängt auf ‚halb sieben‘, an Weiterfahren über den holprigen Feldweg ist nicht zu denken. Ein Glück, dass Dors mich begleitet. Er hat für solche technische Probleme immer eine Lösung. Während ich dilettantisch mit einem meiner elastischen Gepäckgurte versuche, die Verlagerung auf die rechte Seite zu bewerkstelligen, holt er kurz entschlossen seine Kabelbinder raus und mit vieren davon wird der abgebrochene Gepäckträger notdürftig befestigt. Wir fahren auf Eiern und sehr vorsichtig die letzten Kilometer nach Binde zu Familie Starck. Zum Glück weiß ich, dass der Sohn eine Fahrradwerkstatt hat …

Wir werden von Jürgen Starck und seiner Frau Traudi herzlich begrüßt. Doch zunächst gilt mein Interesse mehr ihrem Sohn Christian, der eine alternative Fahrradwerkstatt betreibt, als gelernter Fahrradmechaniker ist er auf die individuelle Herstellung von Fahrrädern spezialisiert (https://www.radkultur-starck.de/), nur am Rande verdient er sein Brot auch mit Reparaturen. Eigentlich hat er etwas anderes vor, aber er erkennt unsere, meine Notlage. Nach einer guten Stunde habe ich mein mittlerweile sehr geschätztes E-Bike wieder: Schraube herausgebohrt, neues Gewinde, Gepäcktrager wieder richtig angebaut, das gleiche Prozedere für das vorherige Problem plus ein neuer Fahrradständer, Kette geölt, Gangschaltung eingestellt … Ich bin ihm sehr dankbar und hoffe, dass ich ohne weiteren Reparaturen bis zur Ostsee komme.

Jürgen und Traudi – angesichts der Vielfalt ihrer umwelt-politischen Aktivitäten ist es zu schwierig, sie mit einem Wort zu charakterisieren – betreiben den Haselnusshof (https://www.bund.net/fileadmin/user_upload_bund/publikationen/gruenes_band/gruenes_band_haselnusshof_binde.pdf).  Ein sehr liebevoll, ökologisch und vielleicht auch anthroposophisch angelegter Garten begeistern Dors und mich. Es ist zwar trocken, aber die vielen Obstbäume etc. sprechen für sich. Ich bin etwas voreilig und brutal und angele mir die „Lille Villa“, ein schwedisches Holzhäuschen mit Bett, Mückenschutz, Kommode, Teppichen und einer kleinen Veranda, auf der sich ein Sofa, ein Tisch und ein paar Rohrsessel befinden. Dors hat als Alternative einen alten Bauwagen in 20 Meter Entfernung bekommen, der innen mit einem provisorischen Bett ausgestattet ist. Am meisten begeistert uns aber die Dusche, die wir nach diesem Tag so richtig genießen. Ein Holzviereck mit ausgelegten Brettern zum Draufstehen, eine Dusche, die gespeist wird durch Wasser, das von einem Solarpanel, das sich außen befindet, aufgewärmt ist. Die anschließende Dusche ist herrlich, fast so wie früher im Atlantik auf dem Zeltplatz von Le Gurp, nahe der Gironde. Die Toilette können wir im Haus benutzen, aber ich entscheide mich für die harte, ökologische Variante: das Plumpsklo mit Sägespänen.

Nachdem das Fahrrad repariert ist und Dors und ich uns frisch gemacht haben, erzählt uns Jürgen Starck sehr ausführlich seine Lebensgeschichte und seine umweltpolitischen Aktivitäten in der DDR und BRD. Geboren 1950 im brandenburgischen Freienstein im Kreis Wittstock in der Nähe von Potsdam, ist er hauptsächlich aktiv in den 80er Jahren in der DDR-Umwelt‑ und Friedensbewegung in den Jahren vor der politischen Wende 1989. Man merkt ihm auch an, dass er stolz auf seine handwerklichen Fähigkeiten ist, auf seine Ausbildung und Berufserfahrung als Fernmeldetechniker, die er zu DDR-Zeiten zu nutzen wusste. Er berichtet von einem Vater und der persönlichen und politischen Prägung durch ihn, der aufgrund seiner Zeit in der Kriegsgefangenschaft ein Pazifist geworden ist. „Zur Fahne“ musste er trozdem in der DDR. In der 2. Hälfte der 90er Jahre sind Traudi, Christian und er ins Wendland gekommen, bevor sie dann 2004 sich wieder im Osten, in Binde, einem Ortsteil von Arendsee, angesiedelt und den Bauernhof renoviert und modernisiert haben. Dazwischen lagen immer längere Aufenthalte in Schweden, wo beide auf ökologischen Höfen gearbeitet haben. Es ist spannend, ihm zuzuhören. Ein Querdenker, der sich im Interesse der Umwelt auch schon mit dem örtlichen Bürgermeister angelegt hat, als es um die Erweiterung einer großen Schweinemastanlage ging.

Nach einem sehr schmackhaften Essen, von Traudi und Jürgen zubereitet, mit allem, „was der Garten so hergibt“, fragen wir Jürgen, ob er mit uns an die ehemalige Grenze, das Grüne Band, fahren kann. Es ist schon spät, fast acht Uhr abends. Am nächsten Tag hat er wegen anderer Verpflichtungen keine Zeit. Mit dem Fahrrad schaffen wir das nicht mehr, also lädt er uns in seinen VW-Polo ein. Stolz erzählt er uns, dass wir hier die Fenster noch mit der Hand selber hoch‑ und runterkurbeln können … Wir fahren durch Arendsee und ungefähr 500 Meter nach der Badeanstalt biegen wir halblinks in einen Waldweg ein, der uns zu seinem ‚Lieblingsort‘ bringt, wenn es um die Erklärung des Grünen Bandes, der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze und der Geschichte von Ost und West geht, zum historischen Grenzpunkt Klocksberg/Wirlspitze. Jürgen hält das Auto an, wir steigen aus und gehen auf einen ca. 100 m breiten, nur mit geringem Pflanzenwuchs versehenen Streifen, man könnte sagen eine größere Waldschneise, die im rechten Winkel die Nachbildung des tatsächlichen Grenzverlaufs sehr gut veranschaulicht.

Unser BUND-Vertreter erteilt uns in der aufkommenden Dämmerung eine Geschichtsstunde allererster Güte. Er zieht mit den Füßen eine Linie zwischen den Grenzpfosten aus Beton, holt seine selbst gebastelten Fähnchen heraus (UdSSR, USA, Frankreich, UK sowie die der beiden deutschen Staaten). Dann erklärt er auf einfache, aber sehr eindrückliche Weise mit Hilfe der Fähnchen die deutsch-deutsche Geschichte vom Ende des 2. Weltkrieges 1945 bis hin zum Jahr 1990. Ich beobachte ihn – nur staunend, als ehemaliger Politiklehrer, der dieses Fach mehr als drei Jahrzehnte unterrichtet hat, nur bewundernd,- wie er die Gründung der BRD im Mai 1949, die der DDR im Oktober 1949, Mauerbau, Grenzgestaltung etc. plastisch und einprägsam veranschaulicht. Es gefällt mir auch, dass er sehr differenziert an die tatsächlichen Verhältnisse an der Staatsgrenze West bzw. der Zonengrenze vom Westen aus gesehen beschreibt und beurteilt.

Wir sprechen auch über die Aufklärungs‑, man könnte auch Spionageaktivitäten auf beiden Seiten sagen. Die Rolle der DDR-Fernaufklärer, die bis auf einen Schritt ihren bundesdeutschen Kollegen vom Bundesgrenzschutz gegenüber treten durften, welch eine absurde, heute nicht mehr vorstellbare, aber doch reale Situation. Wir erinnern uns an das Gespräch mit Frau A. aus Lemgow, die von der Bundeswehrtätigkeit ihres Mannes auf dem Abhörturm im Wendland berichtete. Später stellt uns Jürgen Starck noch den Link zu der Webseite eines bundesrepublikanischen Experten, der über die Geschichte, Struktur und Aktivitäten der Fernaufklärung der Bundeswehr und des BGS eine Dokumentation erstellt hat (www.manfred-bischoff.de). Manfred  Bischoff war selbst von 1977 bis 1993 Fernmeldeaufklärer auf dem Thurauer Berg und lauschte in den Osten.

Es ist wohltuend, mit einem historisch interessierten, politisch aktiven Zeitzeugen der deutschen Teilung und Wiedervereinigung in solch einer differenzierten Art und Weise diskutieren zu können. Ich denke, dass dazu nicht nur die bei Fluchtversuchen aus der DDR Getöteten und Schwerverletzten gehören, sondern auch die, wenn auch in viel geringerer Anzahl, von vom Westen aus erschossenen und verletzten DDR-Grenzsoldaten ins Bewusstsein gerückt werden sollten. Die erst kürzlich ausgestrahlte ZDF-Fernsehfilmserie „Tannbach“ scheint diese Ansätze einer differenzierten Betrachtung der Lage und Aktivitäten dies und jenseits der deutsch-deutschen Grenze aufzunehmen.

Natürlich hofft Jürgen als begeisterter Umweltschützer, dass der nur noch sehr selten vorkommende Ziegenmelker (https://de.wikipedia.org/wiki/Ziegenmelker_(Art)) sich vielleicht heute Abend noch akustisch bemerkbar macht. Er ist sich nicht sicher, als er entsprechende Laute dieses seltenen Vogels hört, ob es ein Jungtier ist oder nicht. Dors äußert sich dazu auch gleich fachmännisch. Ich bleibe lieber stumm. Von Ornithologie habe ich keine Ahnung. Durch die Nacht fahren wir noch ins Wendland zu einem ökologischen Bauernhof, auf dessen Hof sich ein Milchautomat, teilweise finanziert von der EU, befindet. 6 Liter frische Biomilch für 6 Euro. Wie hat sich das Leben in den letzten sechs Jahrzehnten verändert!? Früher in Röhrig auf dem Eichsfeld habe ich in einer Kanne immer die Milch vom Bauern geholt und war ganz stolz, wenn beim Schleudern über dem Kopf keine Milch ausgelaufen war.

Nachts um drei wache ich auf. Es fängt an zu regnen. Ich genieße die Regentropfen auf meiner Haut. Ich stelle schnell mein Fahrrad in den Schuppen, kann aber lange nicht mehr einschlafen. Der Haselnusshof und seine Bewohner und deren Geschichte wollen mir nicht aus dem Kopf gehen …

 

Tag 38 (24.08.18):  Von Binde/Arendsee nach Gorleben

Km: 1231 – 1285

Zum Frühstück haben unsere Gastgeber in der guten Stube ein tolles Frühstück mit selbst gemachten Marmeladen etc. aufgefahren. Ich bin mal wieder geplättet und weiß nicht, wo ich anfangen soll, zumal auch die Brötchen aus einem Bio-Laden kommen. Jürgen berichtet noch von der Vielzahl seiner umwelt-pädagogischen Aktivitäten am Grünen Band, seien es nun Schulklassen, Rentnergruppen oder Weltenbummler, wie z. B. Mario Goldstein, der im Auftrag des BUND dieses Jahr auch bei ihm vorbeigekommen ist. In diesem Jahr seien es schon 30 gewesen, ergänzt er später.

Nach dem Frühstück verabschieden wir uns sehr herzlich, Christian wird aus seiner Werkstatt geholt für einen Schnappschuss und natürlich seine Tochter bzw. die Enkeltochter, ein wahrer Sonnenschein. Ihre Lieblingsantwort: „na klaar!“ Das Transparent vom Grünen Band darf auf dem Foto natürlich auch nicht fehlen.

Am Arendsee fahren wir am malerischen Süd-Ufer entlang. Es ist ca. 9 Uhr und einige Rentner/innen machen mit und ohne ihre vierbeinigen Begleiter einen Morgenspaziergang. Wir treffen auf einen Mann, vielleicht Mitte sechzig, mit dem wir über eine halbe Stunde ein sehr reflektiertes Gespräch über das Leben in der DDR, die Wendezeit und die letzten Jahrzehnte im vereinten Deutschland führen. Er kennt Ost und West, war zu DDR-Zeiten Lehrer an einer Berufsschule und ist dann kurz nach der Wende Mercedes-Verkäufer in Magdeburg geworden. Er berichtet von den Schwierigkeiten, sich dem westlich-kapitalistischen System anzupassen, den Verwerfungen, die viele DDR-Bürger nach 1989 miterleben mussten. Zum Glück hatte er persönlich aus seiner Zeit als Rallyefahrer noch Kontakt zu einem Kollegen, der bereits in den 80er Jahren in die BRD geflüchtet war und ihm das Einmaleins des Autoverkaufens im Westen erklärt und ihn rechtzeitig über alle No-Goes unterrichtet hatte.

Dors braucht Bargeld und ich möchte Bananen und die Lokalzeitung. Wir fahren vom Seeufer in den Ort. Es ist Freitagvormittag. Die Rentner/innen kaufen ein, die Männer in meinen Augen z.T. in sehr legerer Kleidung (Trainingshosen, Sportunterhemd). Fast wie in alten Tagen. Dors meint, dass dies wohl nicht nur eine spezifische Kleidung von DDR-Urlaubern gewesen sei, auch in kleineren Dörfern und Städtchen in Frankreich sei solch ein Aufzug bis heute gang und gäbe. ‑ Die Salzwedler Volksstimme hat keinen Bericht gebracht.

Wir fahren am Grenzbesichtigungspunkt von gestern Abend vorbei, wollen aber Kilometer machen und halten nicht nochmal an. Der gestrige Vortrag war beeindruckend. Wir halten uns Richtung Norden und kommen über Gollensdorf, Drösede und Aulosen zu einer Gedenkstätte, wo sich das geschliffene Dorf  Stresow befindet. Alle Häuser wurden platt gemacht und die Bewohner zwangsweise umgesiedelt. Hier sehen wir auch wieder die Grenzzäune. An einem befindet sich eine Gesichtsmaske aus Ton. Weit geöffnete Augen und Mund vermitteln den Eindruck von Entsetzen und Schreien. Ein älterer Mann, nur bekleidet mit einem Tuch, geht an uns vorüber zum See, um dort nackt zu schwimmen.

Es sind nur noch wenige Kilometer, bis wir, auf dem Deich entlang fahrend, nach Schnackenburg kommen und dort am Hafen in das Grenzlandmuseum gehen. Ein Mann, wohl über 80 Jahre alt, gibt uns bereitwillig Auskunft. „Nein, viel Kontakt mit den Leuten drüben gibt es nicht. Wir sind ja hier in Niedersachsen. Außerdem sei nach 1990 die Schifffahrt erheblich zurückgegangen. Das kleine, mit sehr vielen DDR-Exponaten ausgestattete Museum ist interessant. Nur die Schulklassen, die würden immer weniger kommen. Und wenn, dann würden die Mädchen der 8. und 9. Klasse auf dem Boden sitzen und Zigaretten rauchen. Ich denke, sie werden eher Zigaretten gedreht haben. Unabhängig davon scheinen zwei Mittfünfziger sich sehr gut mit den DDR-Militaria auszukennen. „Weißt du noch …?“ ­‑ „ Das ist doch die …!“ ‑ „Die hatten wir auch!“. Manchmal frage ich mich, welche Funktion diese Grenzlandmuseen entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze mittlerweile haben. Eine Form der Ostalgie für frühere Mitglieder der Grenztruppen, eine Möglichkeit, die DDR als verbrecherische Diktatur darzustellen und somit vielleicht auch von der Zeit zwischen 1933 und 1945 abzulenken? Ich weiß es nicht, bin mir unsicher. Ich erinnere mich an das Gespräch mit der jungen Leiterin des Grenzmuseums in Teistungen bei Duderstadt: Demokratische Werte vermitteln sei die Hauptaufgabe. Wir gehen und bedanken uns bei dem Herrn der Museumsaufsicht. Er liest die neueste Ausgabe seiner Vertriebenenzeitung.

In einer kleinen Außengastronomie bestellen wir uns etwas zu trinken und zu essen. Dors nimmt einen Kuchen, ich Matjesfilets mit Bratkartoffeln. Irgendwie esse ich gefühlt schon 5 Wochen Bratkartoffeln, spätestens seit Thüringen, aber sie schmecken immer wieder. Die Zwiebeln der etwas mickrigen Heringe stoßen mir bei der Weiterfahrt unangenehm auf, Sodbrennen lässt grüßen. Ich spüre die kritischen Blicke eines Mannes, der uns in Stresow nach den E-Bikes, insbesondere dem i:sy von Dors, gefragt hat, Akkudauer, Preis etc. Als wir uns zur Abfahrt bereit machen, spüre ich wieder den etwas kritischen, vielleicht auch neidischen Blick. Ich komme mir etwas vor wie der reiche Wessi, der sich im Prinzip aber nichts darauf einbildet, mit einem Mittelklasse E-Bike Baujahr 2017 unterwegs zu sein. Wieso denke ich nur an die Diskussion mit dem älteren Mann an der Werra, der von dem nach der Wende aufkommenden Neid im Dorf berichtet hatte …?

Wir fahren auf westlicher Seite immer relativ nah am Deich die Elbe entlang und müssen auf den letzten Metern zur Erhebung Höhbeck und dem dortigen, luftigen Aussichtsturm eine richtige Steigung über ca. 500 Meter hinauf. Dank Turbo-Modus trotz des schweren Gepäcks alles machbar. Oben in luftiger Höhe hat man einen weiten Blick in die Altmark, auf die Elbe und das Wendland. Ca. eineinhalb Stunden nach Schnackenburg, der kleinsten niedersächsischen Stadt, haben wir Gorleben, den Standort des umstrittenen Atom-Zwischenlagers, erreicht. Das Hotel hat den Charme eines Industriegebäudes, allerdings sind die Zimmer wohl mit Plüsch (z. T. in roter Farbe) eingerichtet. Hat das was damit zu tun, dass früher eine Nachtbar im Hotel war?

Am Abend bekommen wir im Gasthaus an der Hauptstraße gerade noch etwas zu essen. Das Buffet steht noch bereit. All you can eat für 14,99 €. Dors und ich schlagen richtig zu. Ich frage die Kellnerin, ob das Gemüse verstrahlt sei. Antwort: „Das Essen ist genau so strahlend wie wir.“ – Der Elfmeter hat gesessen. Diskussion beendet.

Tag 39 (25.08.18):  Von Gorleben nach Hitzacker

Km:  1285  –  1335

Das Frühstück ist etwas lieblos zusammengestellt. Brot gibt es aus der großen Plastiktüte. Dors meint, es kommt aus einem panimaju-po-russki Laden. Egal, wir werden freundlich aufgefordert, uns doch ein Lunchbrot mitzunehmen. Ich bin mit dem Wirt allein und verstehe endlich, weshalb die großen Holzfässer, in denen man übernachten kann, die Namen Diego und Dante tragen. Gestern hatte ich noch gefragt, ob er Werder Bremen Fan sei, was verneint wurde. Heute erfahre ich, dass seine kubanisch-deutschen Söhne so heißen, die gestern so richtig schön auf dem Trampolin etc. gespielt haben. Wir sprechen über die kubanische Realität, die wohl doch etwas anders als die kubanische Touristen-Realität aussieht.

 Von den Protesten gegen das Atom-Zwischenlager hält der Wirt nichts, so nach dem Motto: die Grünen kriegen ja noch nicht mal mehr als drei Jahre Regierungstätigkeit gebacken … Wir packen unsere Sachen und fahren dann doch zum Atommüllzwischenlager (https://de.wikipedia.org/wiki/Atomm%C3%BClllager_Gorleben). Nach einmal Fragen in einem kleinen Industriegebiet haben wir die richtige Landstraße gefunden und stehen in gebührendem Abstand vor einem großen Eingangstor mit Pförtnerhäuschen und großen quadratischen Industriegebäuden. Es ist halb zehn Uhr morgens, es nieselt ein wenig. Dem Pförtner winke ich zu, so nach dem Motto „Guten Morgen“, und er winkt zurück. Wie Revoluzzer, die gleich zum Sturm ansetzen, sehen wir wirklich nicht aus, eher wohl wie zwei alte Männer, die an die Stätten ihrer politisch-ökologischen Aktivitäten vor 30 bis 40 Jahren zurückkommen … Die Fahrräder haben keine Kennzeichen, er kann keine Daten weitergeben … und auch beim Gastwirt brauchten wir keine persönlichen Angaben hinterlassen.

Ein paar hundert Meter weiter befindet sich die Beluga, ein großes Greeenpeace-Aktionsschiff, als Blickfang aufgebahrt in Sichtweite des zweiten Lagers, in dem sich auch der Salzstock befindet (https://www.greenpeace.de/themen/uber-uns/beluga-i-das-herzstuck-von-greenpeace-deutschland). Nein, Besichtigungen könne man schon seit 3 Jahren nicht mehr machen, sagt uns der Pförtner am Eingang zum Salzstock, aber ein paar Schritte weiter am Zaun sei eine Infotafel angebracht. Wir ziehen es vor, uns die umfangreichen Infotafeln in der Nähe des Protest-Schiffes anzuschauen. Wie jung war Angela Merkel als Bundesumweltministerin eigentlich? In der offenen Holzhütte finden wir weitere Infos und an einem Baum befindet sich ein kleines Hinweisschild, dass sich jeden Sonntag um 13 Uhr Umweltaktivisten zu einem gemeinsamen Spaziergang hier treffen. Ich bin nun froh, dass wir uns die eine Stunde Zeit für diesen Umweg auf unserer Route entlang der Elbe genommen habe. Ich spüre hier wieder bundesrepublikanische Geschichte, den Hauch der Anti-Atom-Proteste der 80er und 90er Jahre, die an mir irgendwie vorbei gegangen sind, weil ich wohl schon zu sehr darauf bedacht war, meine historischen Forschungen über die Nazi-Zeit abzuschließen, beruflich Fuß zu fassen und eine Familie zu gründen, nach all den bis dahin unruhigen Jahren in ruhigeres, auch ökonomisch besser abgesichertes Fahrwasser zu gelangen. Aktives Gewerkschaftsmitglied und zeitweiliger Personalrat: ja. Aber ansonsten bin ich politisch gesehen etwas auf Tauchstation gegangen. Vielleicht angesichts der weit verbreiteten Lehrerarbeitslosigkeit, den damit verbundenen sozialen und materiellen Ängsten Anfang der achtziger Jahre sowie den 1983, 1987 und 1989 geborenen Kindern verständlich.

Auf dem Weg nach Langendorf kommen wir an einem etwa zehn Meter hohen Aussichtsturm vorbei, den wir besteigen und von dem man eine herrliche Aussicht über das Biosphärenreservat Elbe, das Wendland und die Altmark hat. Als wir wieder losfahren wollen, kommt es zu einer der merkwürdigsten und vielleicht heikelsten Situationen dieser Reise.
Ich lasse mal lieber Dors‘ Erinnerungen sprechen, die er einen Tag später niedergeschrieben hat:

Aussichtsturm bei Langendorf. 29484 Langendorf. https://goo.gl/maps/wQzmkCpjHD12.
Als wir gestern, noch nichts Böses ahnend, den Turm verlassen hatten und uns den Räder näherten, um weiter zu fahren, bemerkten wir ein sonderbares Gefährt, das langsam unter den tief hängenden Zweigen der Bäume heran fuhr. Es erreichte uns ein dreirädriges Liege-Bike mit Anhänger, einem eckigen Alu-Kastenanhänger, auf dem die Nationalitätenkennzeichen mehrerer Länder kleben. Als das Gefährt auf uns zukam, sahen wir einen jungen Mann an Bord, es war ein etwa 35-jähriger hochgewachsener Radfahrer mit nacktem Oberkörper, der uns mit ausgestreckter rechter Hand und etwas müdem „Sieg-Heil“-Ruf begrüßte, wobei er mürrisch vor sich hin blickte. Er zog an uns vorbei und stellte sein Gefährt ab. Henner passte dieser Gruß natürlich ebenso wenig wie mir, aber während ich mich etwas zurückhielt, begann er auf Englisch mit dem Typen ein Gespräch zu suchen. Aber er hat keine Chance, denn der antwortete nur: „fuckoff all your damn generation“. Henners Hinweise auf die politische Haltung unserer Generation wirkten überhaupt nicht. Der Mensch schien einfach einen Lattenschuss zu haben. Er war ganz offensichtlich nur darauf aus zu beleidigen: „fuckoff all you damn nazis“, er sprach ausgerechnet von uns als der Nazi-Generation.

Henner ging fast der Draht aus der Mütze, und ich hatte Mühe, ihn zurückzuhalten. Letztlich zogen wir es vor, ihn dort stehen zu lassen und fortzufahren.

Während der Weiterfahrt konnten wir kaum von diesem Typen lassen. Sein Auftritt beschäftigte uns lange Zeit. Wir fragten uns, woher er kam und was hinter seinen abartigen Äußerungen stand. Erst nach Stunden ging er uns langsam aus dem Kopf.

Dors hat recht gehabt, auch mich hat diese vollkommen unerwartete Frechheit und Provokation eines relativ jungen Ausländers noch lange danach beschäftigt. Ich war froh, dass Dors dabei gehabt zu haben, sonst hätte es vielleicht richtig geknallt.

Kurz vor der neuen Elbebrücke bei Dömitz fängt es richtig an zu regnen und wir stellen uns mit in eine Reihe anderer Mitradler in die Unterführung einer im Krieg zerstörten Eisenbahnbrücke. Wenige Meter von uns ist ein Schäfer gerade beschäftigt, die Lämmer auszusortieren und auf einen Anhänger zu verfrachten, ich vermute für die Fahrt zum Schlachthof. Er benutzt dazu eine Beinschlinge und einen Elektroschocker. Ein Lamm ist wohl widerspenstig  („Blödes Arschloch!“). Ich denke an die Lammkoteletts, die mir sonst immer so gut schmecken…

Wir gelangen auf die Bundesstraße 191 und überqueren die Elbe, um uns gleich danach links Richtung Dorfrepublik Rüterberg, wieder relativ nah am Fluss, in einer unberührten Landschaft gen Nord-Westen zu bewegen. Rüterberg befand sich in einer Enklave, in einem an drei Seiten von der Elbe umgebenen 500 Meter-Sperrgebiet. Unzufrieden über das im Oktober gerade ausgetauschte Sicherungstor – wesentlich schwerer in der Ausführung als das vorherige –, verlangten die Einwohner nach einer Bürgerversammlung, die ihnen für den 8. November 1989 gewährt wurde. Bei dieser Zusammenkunft, einen Tag vor der völlig unerwarteten Grenzöffnung, riefen die 90 anwesenden Dorfbewohner nach Schweizer Vorbild eine eigene Republik aus. Eine Sensation für die damaligen politischen Machtverhältnisse, vermute ich. Heute noch sieht man einen Beobachtungsturm, in dem man auch privat übernachten kann, sowie Grenzbefestigungsanlagen am Ausgang des Dorfes. (https://de.wikipedia.org/wiki/R%C3%BCterberg#Dorfrepublik_R%C3%BCterberg)

Die Bevölkerung hat sich mittlerweile stark verändert. Die Frau, die das kleine Café mit selbstgebackenem Kuchen betreibt, ist eine von vielen Menschen aus der alten Bundesrepublik. Oft kommen sie aus Hamburg oder aus Berlin, es hat sie nach der Wende hier in die ehemalige DDR verschlagen, weil das Leben hier ruhiger ist, gut möglich auch, weil viele alte Immobilien mit historischem Flair und großem Renovierungsbedarf preiswert zur Verfügung standen.

Es geht weiter an der Elbe entlang. Wir vermeiden die Fahrt auf dem Deich. Es ist zu windig. Wir haben zu kämpfen und ziehen den gut asphaltierten Weg am Deich vor. Gegen 15.00 Uhr sehen wir am anderen Flussufer Hitzacker, das wir uns eigentlich anschauen wollten. Der Fährbetrieb ist aufgrund des Niedrigwassers der Elbe eingestellt. Pustekuchen. Wir entschließen uns weiterzufahren, zumal wir bisher auch erst knapp 40 km gemacht haben. Im nächsten Ort, besser gesagt bei der nächsten Ansammlung von Gehöften, versuchen wir eine Übernachtung zu bekommen. Wieder Pustekuchen. Es ist Samstag, Wochenende und anscheinend noch Hochsaison. Zwei Gäste empfehlen uns, es doch in Hitzacker zu versuchen, ein Privatmann würde uns mit einem kleinen Boot übersetzen. Der Akku von Dors neigt sich dem Ende zu, also sicher ist sicher, wir fahren zurück. Unserem Gegenüber gelang es, den Fährmann an die Strippe zu bekommen, der – als wir an den Anleger zurückkommen – uns bereits erwartet, und wir lassen uns in einem relativ kleinen Boot, vielleicht 7 x 2 Meter, umgebaut zur Fahrrad- und Fußgängerfähre, von einem hemdsärmeligen Mann übersetzen. Natürlich nur gegen eine Spende, es ist ja kein offizieller Fährbetrieb. Wir sind froh.

In Hitzacker scheint es gerade ein Kultur- oder Musikfestival zu geben. Auf der Insel, der historischen Altstadt, tanzen Männer und Frauen, meist in Trachten, nach mittelalterlichen Klängen. Wir versuchen eine Unterkunft zu finden, es klappt im 2. oder 3. Anlauf etwas außerhalb von den besseren Leuten. Ein Bio-Hotel, schon etwas in die Jahre gekommen, aber mit einem vollen Fahrradkeller, Luftkompressor etc. Wir sind froh ein Dach über dem Kopf für diese Nacht zu haben.

Am späten Nachmittag gehen wir zu Fuß in die Stadt, genießen den Blick vom Berg auf die Elbe und schauen uns das Musikspektakel in der Innenstadt ein. Ich merke, dass ich nach der langen Zeit im ehemaligen Osten hier plötzlich in einer anderen Welt bin. Die Frauen, in der Mehrzahl 50 plus, sind mit bunten, alternativen,  z. T. altertümlich erscheinenden Designerkleidern ausgestattet. Frau des Chefarztes aus Hamburg mit Freundin in der Kulturprovinz … Es ist mir irgendwie fremd, nicht meine Welt, aber doch irgendwie vertraut. Wie vielfältig ist bisher meine Reise durch die Mitte Deutschlands, entlang der ehemaligen Grenze gewesen, von der hemdsärmeligen Bauerntochter am ersten Abend unserer Reise, die sich zur Betriebsrätin in der Porzellanindustrie hochgearbeitet hat, bis nun zu den Damen aus besseren Häusern …

Etwas zu essen zu finden ist angesichts der vielen Touristen in der Stadt nicht so einfach. Wir landen schließlich in einem türkischen Imbiss, der proppenvoll ist. Man könnte meinen, dass es hier Freibier gibt. Trotz des Andrangs bedient als einzige Servierkraft die junge Frau hinter dem Tresen mit einer Seelenruhe, in fehlerfreiem, tadellosen Deutsch die lange Schlange der Kunden, während ein Kollege hinten in der Küche Pizzen zubereitet. Das Publikum ist sehr gemischt: von spanischen Austauschstudenten bis hin zum 50jährigen Einheimischen, der sich mit seinem im Rollstuhl sitzenden Vater an einen Tisch setzt. Ich merke, es ist mir alles vertraut, ich bin hier im Westen… Diese Vertrautheit stellt sich auch in der italienischen Eisdiele ein: „due esspressi i due vecchia romagna!“. Wir ziehen uns den italienischen Brandy (mehrere Gläser, so dass zwischenzeitlich der radebrechende Kellner meint, uns an den Preis für ein Glas erinnern zu müssen: „quatro Euro!“) rein und diskutieren über unsere bisherigen Eindrücke, seit Dors wieder zur Grenzgängertour hinzu gestoßen ist. Wir philosophieren über unser Leben und das anderer Menschen. Etwas beschwingt treten wir den Heimweg an und steigen die Treppen auf den Berg hoch.

Tag 40 (26.08.18): Von Hitzacker nach Zarrentin

KM:  1335 – 1416

Frühstück gibt es erst um acht, eigentlich viel zu spät für Dors, der unter seniler Bettflucht leidet. Kurz vor acht schickt er mir eine WhatsApp, dass er schon oben im FS-Raum auf mich wartet … Im Gegensatz zu gestern ein Frühstück vom Feinsten, frisches Obst etc.  Der Fährmann ist ab 9 Uhr morgens erreichbar. Als wir zur Fährstelle kommen, hat er schon die erste Fuhre mit Fahrrad-Touristen übergesetzt. Wir sind die einzigen Fahr-“Gäste“. Mit dem burschikosen „Du“ kann er was anfangen und erzählt aus seinem Leben: Geboren Anfang der 50er Jahre in der kleinen Enklave, die bis 1945 zur Provinz Hannover gehörte, in der ersten Hälfte der 70er Jahre durch die Elbe geflüchtet, hat er zunächst jahrzehntelang im Westen als Kraftfahrer gearbeitet, nach der Wende das elterliche Gehöft zurück erhalten, es dann verkauft und schließlich ein anderes Gebäude zu seinem Haus hergerichtet. Es ist das pralle ost-west-östliche Leben, aus dem er erzählt. Seine Enkel sagen zu ihm: „Opa, du bist ja ein richtiger Wossi.“ – Diese Worte machen mich nachdenklich. Bin ich nicht auch eigentlich ein Wossi, ein Wanderer zwischen zwei Welten, der an seinem Lebensende zu seinen DDR-Wurzeln zurückkehrt, sich zumindest darüber wieder bewusst wird? Wie hatte Achim in Hohegeiß gesagt? –  „Einmal Ossi, immer Ossi?“

Die wenigen Minuten auf dem Strom vergehen viel zu schnell. Wieder eins der vielen Geschenke auf dieser Reise … Dors fragt fachkundig nach, wie er das mit der Hydraulik der Laderampe hinbekommen hat. „Alles vom Schrott oder aus alten Baumaschinen geholt und zusammengebastelt!“ Wir verabschieden uns und geben ihm eine Spende. Er freut sich. Ich sage zu ihm: „Mach‘s gut und halt die Ohren steif“ – Er erwidert nur: „Ja, das ist aber auch noch das einzige, was steif wird.“ – Mitten aus dem prallen Leben!

Oben auf dem Damm werden wir von vier jungen Männern erwartet. Sie machen sich etwas lustig über unsere E-Bikes. Als sie die bisherigen Stationen der Reise hören, ändert sich ihre Einstellung etwas. Sie sind so zwischen 30 und 40 Jahre alt, sind zu Fuß unterwegs und haben die Nacht im Zelt auf einer Elbwiese verbracht. In den Westen sind sie dabei nicht abgehauen, ist ja heute auch nicht mehr notwendig. Irgendwie erinnere ich mich an meine eigenen Touren, als ich noch jünger war: die Nacht im Weinberg auf der Insel Elba, total zerstochen von Mücken, oder später, als ich schon in Herford lebte, die Nacht auf einer Ruine in der Nähe von Rinteln während der Rucksackwanderung im Weserbergland von Porta Westfalica nach Hameln. Lang ist es her und kommt auch nicht wieder zurück …

Es ist klar: Dors wird (leider) heute wieder nach Ostwestfalen zurückfahren. Ich muss sehen, dass ich die gestern nicht gefahrenen Kilometer nachhole. Es ist immer noch windig. Wir bewundern die Fahrradfahrer, die mit Gepäck und ohne Akku-Unterstützung elbabwärts fahren. Ab und zu, wenn wir auf dem Deich fahren müssen, haben wir einen herrlichen Blick auf die Elbe und die angrenzenden, mittlerweile wieder saftig grünen Wiesen. Ein bayrisches Musketier kommt uns mit seinem Mountain-Bike und wenig Gepäck entgegen. Breite Reifen und volles Rohr voraus. Mit Rückenwind zum Glück. Er macht so ca. 100 km am Tag, so lange es flach ist, vermute ich.

Bei Bleckede ist die Fähre auch nicht in Betrieb. Wir fahren weiter nach Boizenburg, das keinen besonderen Charme verbreitet. Dors will nach Lauenburg und dann von dort mit der Bahn zurück fahren. Oberhalb der Werft geht es bergauf aus der Stadt heraus. An der Straße bzw. dem Fahrradweg sind von Schüler/innen zu unterschiedlichen Themen bemalte Stellwände zu sehen. Sie rufen auf zu Vielfalt, Toleranz und Frieden. Ich freue mich. Auf der Höhe angekommen, machen wir Pause und sehen eine Gedenktafel und einen Gedenkstein für in den letzten Jahren umgekommene KZ-Häftlinge, die in der Werft arbeiten mussten und in einem Außenlager des KZ-Neuengamme untergebracht waren.

In Richtung Lauenburg kommen wir nach wenigen Minuten zum ehemaligen Grenzübergang an der Fernstraße 4, der Interzonenstraßenverbindung zwischen Hamburg und West-Berlin, genauer gesagt an der ersten Kontrolle ca. 5 Km vor dem eigentlichen Übergang. Ein kleiner Grenzturm mit ein paar Info-Tafeln, die sich im Erdgeschoss befinden. Audios bieten einen anschaulichen Eindruck von der Situation an der Grenze. Eine Aufladestation für E-Autos ist in der Nähe, nicht aber für E-Bikes. Wir gehen ins Checkpoint Harry (http://www.checkpointharry.de/) und fragen nach einer Auflademöglichkeit für unsere Akkus. Kein Problem. Ebenso ein deftiges Mittagessen mit Burgunderbraten, Rotkohl und Salzkartoffeln. Wir schlagen uns im Osten nochmal richtig voll, bevor Dors sich im Westen wieder auf vornehmlich vegetarische Kost umstellt. An den Nachbartischen sitzen wirklich gut genährte Menschen. Ich denke nur an Kotelett mit Sättigungsbeilage in Preisstufe 2 für 2,65 M und das Bier für 43 Pfennige … Welch ein Kontrast zu dem gestrigen Hitzacker-Publikum! Als wir unsere aufgeladenen Akkus wieder aus der Gaststube holen, fallen uns die vielen DDR-Exponate auf, Uniformteile, Fotos, und es ist das erste Mal, dass ich eine Original DDR-Verfassung neben anderen Schriften ausliegen sehe.

Mit einem weinenden Auge nehme ich Abschied von Dors und gehe dann über die Straße in die ehemalige Küchenbaracke des KZ-Außenlagers. Die Museumsaufsicht erzählt mir stolz, wie sie sich im Laufe der Jahre in die Geschichte des Lagers eingearbeitet hat. Bis auf ihren Urlaub ist sie immer am Wochenende hier. Nach der Wende ist in Boizenburg alles platt gemacht worden, kaum noch Fabriken, auf der Hauptstraße ist heute auch nichts mehr los, aber ihren Sohn in Kiel, einen studierten Astro-Physiker, hat sie neulich besucht. Es scheint mir, dass es ihr wie so vielen ehemaligen DDR-Bürgern meiner Generation geht: eine Mischung aus Bedauern über die Verluste nach der Wende und gleichzeitig ein Frohsein über Reisemöglichkeiten und andere Annehmlichkeiten.

Es ist halb vier und ich werde heute noch bis Zarrentin am Schaalsee fahren, also zwei von Stefan Esser vorgeschlagene Etappen zu einer verbinden. Schließlich habe ich mich ja mit meiner Tochter Elena morgen Abend in Hamburg zum Fußballspiel HSV – Arminia Bielefeld verabredet und mir vorgenommen vorher, Montag, bis Ratzeburg zu kommen. Ich fahre über Nostorf, Schwanheide und Langelehsten Richtung Zarrentin. Ich komme nach Leisterförde an einem kleinen Grenzmuseum vorbei, das sehr gut die DDR-Genzanlagen veranschaulicht. Schüler/innen aus Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern haben bei der Errichtung mitgeholfen. An der Eingangstür gibt es einen politisch-pädagogischen Hinweis: Die friedliche Revolution von 1989 habe gezeigt, dass es auch heute darauf ankommt, sich gegen „Regierung und Staatsmedien“ einzusetzen. Ist der Verfasser der Meinung, dass die durch die SED gelenkten DDR-Medien mit den heutigen öffentlich-rechtlichen gleichzusetzen sind? – Spricht hier etwa die AFD?

Als ich die Autobahn A 24 überquere, sehe ich einen Trucker in kurzer Hose und Unterhemd, wie er sich gerade etwas zu essen bruzzelt. Ich erinnere mich an meine Zeit bei der Spedition Koch (Neuss) und meine Zeit als Fernfahrer im Frankreichverkehr. Es war im Dezember 1977. Ich halte auf meiner Rückfahrt von Paris auf der Autobahnraststätte Metz oben auf dem Berg an und kaufe noch ein paar Flaschen Wein in der Tankstelle ein. Als ich nach zehn Minuten zurückkomme, traue ich meinen Augen nicht mehr. Der gesamte Sattelschlepper inklusive vollgeladenem Auflieger stand nicht mehr an seinem Platz. Er war ca. 10 m von alleine auf dem Parkplatz in Richtung Autobahnfahrstreifen zurückgerollt. Ich hatte vergessen, die Handbremse anzuziehen, vielleicht weil mir das Gelände als eben erschien. Zum großen Glück wurde ein Reifen des Sattelschleppers von der Kante einer kleinen Grüninsel gestoppt. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn der herrenlose, vollgeladene Laster weiter auf die Autobahn gerollt wäre! Ich wäre meines Lebens nicht mehr froh geworden. Ein weiteres Mal nach dem Erlebnis mit dem Bären im Zirkus, bei dem ich einen Schutzengel hatte oder wie man es sonst nennen will.

In Zarrentin bin ich zunächst vom Schaalsee in der Abendsonne beeindruckt. Einige Hotels sind schon ausgebucht bzw. zu teuer. Mit Glück finde ich noch eine Unterkunft in einer Gaststätte/Pension, die auch noch den Charme der früheren DDR verströmt. Ein kleiner Einkaufsladen, ein junges, tätowiertes Paar kauft sich gerade große Gummibärchen oder so was Ähnliches, ein Mann noch schnell ein paar Bier für den Abend und im Gastzimmer an der Theke sitzen ein paar Experten, die erstmal blauen Dunst in die Luft pusten. Egal. Ich bin froh, ein sauberes Zimmer zu einem vernünftigen Preis im Anbau bekommen zu haben. Die Speise- und Getränkekarte hat es später in sich: 0,2 l Bier für 1,20 Euro, der Schnaps für 80 Cent. Ich traue meinen Augen nicht und fühle mich in  alte DDR-Zeiten versetzt. Ich bestelle mir ein Bauernfrühstück, der mit einem Riesensalatteller serviert wird, und habe zu kämpfen. Dem Ehepaar aus Oldenburg geht es genauso.

Als ich nach dem Essen noch einen Verdauungsspaziergang am Schaalsee mache und den aufgehenden Mond beobachte, der sich im Wasser spiegelt, merke ich, wie ich irgendwie auf Eiern gehe. Diese Doppeletappe mit ordentlich Gegenwind am Anfang hat es in sich gehabt. 80 KM  sind trotz E-Bike eine Herausforderung. Wieder ein Tag, über den ich froh bin, dass ich ihn erleben durfte.

Tag 41 (27.08.18):  Von Zarrentin nach Ratzeburg (Hamburg)

Km: 1416 – 1462

Ich weiß nicht, womit ich es verdient habe, aber ich erhalte mal wieder ein vorzügliches Frühstück. Dabei bekomme ich von der Senior-Chefin für meine Anrede mit „junge Frau!“ einen Elfmeter verpasst. Sie beklagt sich über die ganzen Auflagen heute, Gewerbeaufsichtsamt, Schornsteinfeger, IHK, GEMA etc. Es würde am Ende des Monates kaum etwas übrig bleiben. Auf meinen Hinweis, dass die Preise mit  z.  B.  1,20 € für ein kleines Bier auch wirklich sehr niedrig seien, antwortet sie mit ihrer Philosphie, dass die Gastwirtschaft für alle da sein sollte, sozusagen eine Kommunikationsmöglichkeit für alle, ob reich oder arm, jung oder alt. Da denke ich mir: wie im englischen Pub in Rochdale, wo wir früher oft eingekehrt sind, wenn wir internationale Projekttreffen dort hatten. Es scheint mir, dass sie noch sehr den alten DDR-Zeiten nachtrauert: die Hütte war immer voll mit den Soldaten der naheliegenden Kaserne. Gutes Fleisch gab es zwar nicht, das ging alles in den Westen, aber die Gäste wurden satt und die Gastwirtschaft lief gut. Heute seien kostspielige Investionen in ein Gästehaus notwendig und dieser heiße Sommer sei schlichtweg eine wirtschaftliche Katastrophe gewesen, weil bei den Temperaturen keiner in ihrem Wirtszimmer, sondern unten am See in der Außengastronomie gesessen habe. Ich verzichte auf die „junge Frau“ und wir verabschieden uns herzlich.

Am Schaalsee, leicht erhöht, liegt das Palhuus, das Informationszentrum des Biosphärenreservats. Es lädt zum Bleiben und Staunen ein, aber ich verzichte aufgrund des Zeitdrucks auf einen längeren Aufenthalt, bekomme von der freundlichen Mitarbeiterin aber noch eine Landkarte geschenkt, die mich bis zur Ostsee begleiten soll.

Ich entscheide mich mal wieder für die harte Tour und versuche, über kleine Trampelpfade entlang des Sees Richtung Norden zu kommen. Es ist alles sehr naturbelassen, bis ich dann doch auf der Landstraße weiter fahren muss, zum Glück mit Fahrradweg. In Techin versuche ich nochmals im ‚Urwald‘, merke aber nach dem dritten querliegenden Baum, dass das Umfahren oder Drüberheben doch keine Dauerlösung für die nächsten zwei Stunden ist. Ich fahre zurück ins Dorf und gelange dann auf die Halbinsel Stintenberg. Eine Brücke dort in den Westen gibt es nicht. Das Café im Brückenhaus ist auch schon seit mehreren Monaten geschlossen. Schade, aber verständlich. Touristen sind kaum zu sehen.

Mittlerweile nieselt es auch schön, der Natur passt das gut und ich kann mal wieder meine rote Regen- und Windjacke anziehen. In Kneese, das zu Sandfeld gehört, halte ich an einer Pension an, einem großen Gebäude, in dem sich früher ein Forsthaus befand, und gehe nach langem Zögern doch herein. Man merkt, es ist alles etwas alternativ ausgestattet, im ursprünglichen Zustand belassen oder auch wieder hergestellt, wie z. B. die Deckenmalerei. Nur im Nachbarraum gibt es ein WLAN. Die freundliche Wirtin kommt aus Hamburg und ist Pauli-Fan, als ich ihr erzähle, dass ich heute Abend noch nach Hamburg zum HSV-Arminia-Spiel will. Der selbstgebackene Kuchen schmeckt sehr gut. Es nieselt zwar noch, aber ich fahre los. Mein Fahrradhelm wird mir hinterher gebracht. Wo war ich bloß mit meinen Gedanken? Forsthaus. Holzweg 56, Heiligenstadt? Die alte Malerin, der ich mit ihrem Hund kurz danach begegne, kommt aus Hamburg und hat dort vor geschätzen „hundert Jahren“ die Kunstschule besucht. Als Hamburgerin, als Wessi, mit den einheimischen Menschen aus Mecklenburg-Vorpommern in Kontakt zu kommen stellt sich seit Jahrzehnten als schwierg dar. Liegt es daran, dass sie aus dem Westen kommt oder Künstlerin ist? – Vielleicht auch beides.

In Dutzow biege ich ab und überquere den Lankower See. Ich bin wieder im Westen und begebe mich später dann parallel zur B 208 nach Ratzeburg. Netto und Penny lassen grüßen. In einem kleinen angeschlossenen Bäckerladen leiste ich mir eine Tasse Kaffee mit Milch und ein Stück Kuchen (Angebot für 1,99 €). Draußen hole ich mein Notebook heraus und versuche, mit meinem Tagebuch voranzukommen. Eine ältere Frau im Rollstuhl setzt sich zu mir. Ich hole ihr auch eine Tasse Kaffee. Eine weitere ältere, wohl kranke Frau wird von einem Kranken-Taxi mit ihrem Einkauf abgeholt.

Beim nächsten Stück Kuchen, das ich mir hole, übersehe ich draußen die Bordsteinkante und lege mich der ganzen Länge nach hin. Kommentar der Frau im Rollstuhl: „Da haben Sie aber wirklich Glück gehabt.“. Sie hat recht. Es wäre fatal gewesen, zwei Tage vor der geplanten Ankunft an der Ostsee die Reise wegen einer Verletzung abrechen zu müssen … Ich schreibe weiter.

Die Fahrt bis zum Bahnhof in Ratzeburg zieht sich hin. Eine Ausländerin mit Kind nickt nur bei der Frage, wo der Bahnhof ist. Die Richtung sei richtig. Es regnet mittlerweile und ich kann den Ratzeburger See nicht wirklich genießen. Die Bahnfahrt nach Hamburg führt mich zuerst Richtung Süden, nach Buchen. Die nächste Station ist Mölln, das mich an den schrecklichen Brandanschlag auf ein von einer türkischen Familie bewohntes Haus im Jahr 1994 erinnert. Mehrere Tote. Ein Fanal, gegen die fremdenfeindliche und rassistische Verblendung von Einzelnen aufzustehen. Rostock-Lichtenhagen 1991 und die damaligen Brandanschläge unter dem Gejohle der Anwohner waren ein Vorläufer, in Solingen sollte sich kurze Zeit danach dieses feige und menschenverachtende Vorgehen wiederholen.

In Buchen verpasse ich den planmäßigen Zug nach Hamburg um wenige Sekunden. Ein hagerer, südländischer Mann zieht die Schultern hoch und vermittelt mir: „Da haben wir wohl Pech gehabt.“ – Ich nicke. Eine ganze Stunde warten und es regnet. Das Wartehäuschen auf dem Bahnsteig bietet einen gewissen Schutz gegen den Regen. Der Mann und ich kommen in ein Gespräch. „De unde sunteti?“ – Also Rumänien, aus einer Stadt, durch die Ellen und ich 2015 auf dem Rückweg von Moldawien gefahren sind. Er lebt mit seiner Familie in Hamburg und arbeitet auf einer Baustelle (construtia) in Ratzeburg. Ich mache mir so meine Gedanken über den Empfang von Sozialhilfe und der gleichzeitigen Ausbeutung als illegal Beschäftigter einer Sub-Sub-Firma …

Mein Fahrrad mit Gepäck zieht Aufmerkmerksamkeit auf sich. Eine Frau um die 50 erzählt mir davon, wie sie mit ihrem Mann im Verlauf eines Jahres einmal um die Welt gereist ist. Das Fahrrad immer dabei, in Kanada, USA, Australien etc. weite Strecken darauf zurückgelegt. Ob die beiden in Ulan Bataar in der Mongolei auch Galsan Tschinag als Führer hatten, können wir nicht mehr ganz feststellen. Galsan, der Schamane seines Stammes, der Tuwiner, ist Chamisso-Preisträger und hat eine enorme Sprachgewalt mit seinen vielen Veröffentlichungen in deutscher Sprache entwickelt. Ich hatte 1994 bei meiner Bahn-Rückreise mit der Transsib von China Gelegenheit, mit ihm zusammen seinen Stamm in der mongolischen Steppe zu besuchen. Es ist interessant ihren Erlebnissen zuzuhören, ebenso wie dem Mann Anfang 30, der jetzt gerade von einer dreimonatigen Nordeuropa-Fahrradreise zurückkommt und Freunde in Hamburg besucht. 6.500 km, bis zum Polarkreis mit kaum Gepäck, draußen übernachtet. Nur die Harten kommen in den Garten …

Als ich in Hamburg aus dem Zug steige, merke ich wieder den Unterschied zwischen der alten Bundesrepublik und den neuen Bundesländern, zwischen  Westen und Osten. Es ist nicht nur das Großstadtgewusel, sondern beeindruckend sind vor allem die Menschen aus aller Herren Länder, ich fühle mich wie ein Fisch, der im Wasser schwimmt, habe keine Berührungsängste, vielleicht weil ich auch früher als Student viel getrampt bin, später dann insgesamt fünf Jahre im Ausland gelebt, studiert und gearbeitet habe (UdSSR, USA, Moldawien). Irgendwie habe ich im Laufe der Jahrzehnte gelernt, Menschen nicht nur nach ihrer Hautfarbe, Kleidung und Sprache zu beurteilen, sondern nach ihrem Verhalten. Das heißt nicht, das mir bei dem Macho-Gehabe von einigen ausländischen Jugendlichen nicht der Hut hoch geht und ich nicht entsprechend reagiere, wenn z. B. eine Frau mittleren Alters von einem ca. 20-jährigen Migranten angemacht wird. Seiner Ausrede, es sei doch nur freundlich gemeint gewesen, habe ich im Herforder Aa-Wiesen-Park klar und eindeutig widersprochen und ihm gesagt, dass er das in Zukunft sein lassen solle.

Elena holt mich vor SATURN ab und wir fahren mit dem Fahrrad zu ihr nach Hause. Es geht insgesamt fast genau so schnell wie mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Zu dritt, unter Mithilfe von Stefan, ihrem Freund, tragen wir die beiden Fahrräder und mein Gepäck in den 2. Stock in ihre Wohnung. Es wird ein wenig eng, aber so sind die Fahrräder sicher.

Noch gerade rechtzeitig kommen wir zum Fußballspiel ins HSV-Stadion. Für den Arminia-Block haben wir keine Plätze mehr bekommen, aber fast direkt daneben. Instinktiv gebe ich meinem Sitznachbarn, einem jungen Mann mit Migrationshintergrund die Hand und setze mich neben die Gruppe der HSV-Supporter. Das Spiel selbst ist nach dem Fehler des Arminia-Torwarts in der 9. Minuten schnell erzählt: bemüht, aber unter dem Strich eine 0:3-Klatsche bekommen. Was mir allerdings auffällt ist, dass die türkisch-deutschen (?) Jungs nicht nur gut drauf waren, sondern in der Halbzeit im Gegensatz zu Stefan und mir kein Bier, sondern nur Cola tranken. Den Schlüssel des neuen Mercedes hat einer von ihnen als Siegestrophäe um den Hals gehängt. Aus Frust habe ich den etwas schwergewichtigen, älteren HSV-Fan nach Spielschluss die Hand gedrückt und ihn etwas aus dem Gleichgewicht gebracht. Ja, man kann’s halt nicht lassen.
Zuhause will Elena mir noch Gute Nacht sagen, aber ich liege schon auf dem Schlafsofa und bin eingenickt. Komaschlafen … Erst um halb zwei kann ich mich wirklich aufraffen, aufzustehen, mich auszuziehen und ins Bett zu legen. Ich merke, dass ich wirklich auf der letzten Rille fahre … Es wird Zeit, dass ich bald an der Ostsee ankomme.
Morgens erinnere ich mich nur an einen wirren Traum.

Tag 42 (28.08.18):  Von Ratzeburg (Hamburg) nach Dassow

Km: 1462 – 1526

Um sieben Uhr ist die Nachtruhe vorbei. Schnell noch ein kurzes Frühstück und dann wieder das ganze Gepäck inklusive der zwei E-Bikes die zwei Treppen runtergetragen und unten vor der Tür alles wieder schön verzurrt. Elena hat einen großen Rucksack dabei. Das ist etwas leichter. Nach einer knappen Viertelstunde durch Hamburger Grünanlagen und gut ausgebaute Fahrradwege kommen wir zum Bahnhof. In letzter Minute schaffen wir noch unseren Regionalzug Richtung Buchen. Umsteigen klappt ohne Probleme, ca. gegen halb zehn sind wir dann in Ratzeburg. Nur diesmal regnet es nicht in Strömen.

Zum Glück gibt es gegenüber dem Bahnhof eine Bäckerei – was hat man nur früher gemacht, als es noch diese Vielzahl der Außengastronomie, Backshops, Bistros etc. gab? Der Cappucino weckt meine Lebensgeister. Eigentlich war es keine gute Idee, gestern meine Reise am Grünen Band zu unterbrechen und in die Großstadt zu fahren, obwohl es ein Erlebnis war, mit Elena und Stefan ins HSV-Stadion zu gehen. Irgendwie ist die Luft raus und ich muss mich wieder neu motivieren – das Ziel, die Ostsee, das Ende der Tour ist in Sichtweite.

Unten auf der Insel sehen wir ein historisches Segel- bzw. Ruderboot mit entsprechender Besatzung. Fotografieren? Kein Problem. Kurze Zeit danach kommt schon die Klasse, die das Schiff für den heutigen Tag gebucht hat, anmarschiert. Ich versuche herauszukriegen, wer die Lehrperson ist, und erinnere mich an die vielen Klassenfahrten, die ich im Laufe der Jahrzehnte gemacht habe, z. B. nach Rom, nach Kroatien oder ins frühere KZ Auschwitz. Es war immer eine große Erleichterung, wenn nichts passiert ist, alle munter und gesund geblieben sind und man auf der Rückfahrt in aller Ruhe ein Bier trinken konnte. Ein bisschen wehmütig schaue ich der Schulklasse beim Ablegen des Bootes hinterher, freue mich aber auch, dass ich in den letzten Jahren noch die Möglichkeit hatte, Flüchtlinge im Fach Deutsch im Beruf zu unterrichten. Einmal Pädagoge, immer Pädagoge.

Elena und ich beschließen, uns den Ratzeburger Dom anzuschauen, ein imposantes Gebäude aus dem 12. Jahrhundert. Irgendwie habe ich immer das Bedürfnis, in einer mir fremden Stadt in die Kirche zu gehen, ganz egal ob katholisch, evangelisch, oder in anderen Ländern z. B. in orthodoxe oder muslimische Gotteshäuser. Da, wo es möglich ist, stecke ich immer drei Kerzen an. Wir beide sind sehr beeindruckt von der Größe der Kirche, dem einfallenden Licht und der Orgel sowie auch von dem Kreuzgang.

Parallel zum Ratzeburger See fahren wir an schönen Häusern vorbei nach Bäk, um dann nach einigem Hin und Her nach Schlagsdorf ins Grenzhus, einem Museum mit angeschlossenem Außengelände, zu kommen. Für mich ist es geschätzt wohl das zehnte Grenz-Museum, das ich auf meiner Reise besuche, während Elena, die das Jahr 1989 als Kleinkind nicht mehr in Erinnerung hat, schon immer mal in dieses Museum gehen wollte.

Am Eingang diskutieren lautstark und deutlich hörbar einige Besucher/innen aus den neuen Bundesländern die Flüchtlingsproblematik, beschweren sich über neue Wohnungen, die Migranten und nicht die deutsche, einheimische Bevölkerung bekommen hätten. Es wird auf Frau Merkel geschimpft. Sie an die Wand zu stellen, wie in der Nähe von Osterwieck gefordert, so weit geht es nicht. Ich frage mich, was die Gründe für diesen oft hervortretenden Sozialneid sind. Oder mache ich es mir zu einfach? Ach ja, der tödliche Messerangriff auf einen Deutschen in Chemnitz, begangen vor zwei Tagen von Asylbewerbern, ist wohl der Auslöser. Die weit verbreiteten Ängste innerhalb der Bevölkerung sowohl in den neuen als auch in den alten Bundesländern sollten meiner Meinung nach Ernst genommen und die Täter bestraft werden, allerdings von Gerichten und nicht von einem Mob, der meint, er sei ‚das Volk‘.

Die Ausstellung scheint nach modernen museumsdidaktischen Gesichtspunkten zusammen gestellt zu sein, auch das Außengelände ist ein Ort zum Nachdenken, steht allerdings auch nicht im ausgesprochenen Kontrast zu der Tatsache, dass viele DDR-Bürger aus dem Grenzgebiet, mit denen ich gesprochen habe, im Großen und Ganzen zufrieden mit ihrem Leben, das auch gute Seiten hatte, waren. Es scheint, dass in dem Ort ein Straßenname aus sozialistischen Zeiten überlebt hat: „Neubauer Straße“. Ergebnis der Landreform, Enteignung der Großgrundbesitzer im Jahre 1946. In einem Gebäude auf der anderen Straßenseite wird gerade eine Werkstatt für den DDR-Motorroller Schwalbe eingerichtet. Es scheint „in“ zu sein, sich mit alten DDR-Fahrzeugen fortzubewegen. Vielleicht auch ein Stück Wiedererlangung der verloren gegangenen Heimat oder der eigenen Lebensbiographie …?

Über Utecht und Schattin mit schönem Ausblick auf den Ratzeburger See fahren wir gen Norden nach Herrnburg. Vor der Kirche beratschlagen wir das weitere Vorgehen. Ein Frau mittleren Alters auf der anderen Seite der Straße frage ich, wie weit es noch in den Westen sei. Ungläubig, widerwillig, gibt sie mir zur Antwort, dass es den nicht mehr gebe. Nach Lübeck seien es noch wenige Kilometer. Kurz vor der Grenze bekommen wir aber von einer älteren Frau, die auf dem Fahrrad unterwegs ist, bereitwillig Auskunft: „ Da vorne gleich, da sehen Sie auch ein Schild.“ Glück gehabt.

Nach Lübeck reinfahren möchte ich nicht mehr. Dort war ich mit Elena schon vor zwei Jahren und habe neben dem Museum der Schriftstellerfamilie Mann das Willi-Brandt-Museum besucht. Willy Brandt hatte für mich in den Sechziger Jahren als ehemaliger Widerstandskämpfer, Emigrant und Vertreter einer neuen Ostpolitik eine hohe moralisch-politische Ausstrahlung, weshalb ich auch wenige Monate vor der Bundestagswahl 1969 noch als Zeitsoldat in die SPD eingetreten bin. Allerdings fand ich es mehr als bedauerlich, dass er im Januar 1972 den so genannten Radikalenerlass als Bundeskanzler unterzeichnet hat. Ein Grund für mich in Darmstadt 500 Unterschriften dagegen zu sammeln, aus Protest  aus der SPD auszutreten und mich dem Marxistischen Studentenbund, der der DKP nahestand, anzuschließen. Willi Brandt hatte den Radikalenerlass später selbst als politischen Fehler angesehen. Damit war aber die Überprüfung von zehntausenden Beschäftigten im öffentlichen Dienst, seien es nun Lehrer, Postbeamte oder Putzfrauen, nicht mehr rückgängig zu machen. Es stimmte mich traurig, dass in der Ausstellung dazu kein Wort zu finden war. Schade.

Nachdem wir kurz über der Grenze im Westen waren, ging es wieder in den Osten zurück. Na ja, große äußerliche Unterschiede gibt es wohl nicht, außer vielleicht dass direkt hinter der früheren deutsch-deutschen Grenze in Herrnburg schöne Neubaugebiete entstanden sind, in denen nun wohl nicht wenige Lübecker wohnen. Über Lüdersdorf und Schönberg wollen wir nach Dassow, also so nah an die Ostseeküste wie möglich, damit wir uns am Morgen nicht abhetzen brauchen. In Schönberg fragen wir mal wieder eine ältere Frau nach dem Weg nach Dassau. Ungläubig hören sich die Frau und ihre Tochter die Geschichte meiner Reise an, geben uns dann aber einen guten Hinweis, wie wir über ein Naturschutzgebiet in den Ortsteil Holm gelangen können. Sie bedauern, uns nicht zu einem Getränk einladen zu können. Sie haben noch eine Familienfeier. Als ich ihnen mein Alter sage, fordert die Tochter uns auf, gleich ihre 78-jährige Mutter vorne in einen Fahrradkorb zu setzen und mitzunehmen. Anscheinend ist die Mutter wohl auch noch sehr unternehmenslustig.

Die Fahrt nach Dassow/Holm zieht sich in die Länge. Zwischendurch, bei einem leichten Anstieg, packt mich noch mal der Ehrgeiz und ich trete richtig in die Pedalen. Als Elena mich wieder einholt, sage ich ihr, dass das natürlich Blödsinn von mir war. Ich meine, wohl immer noch zwanzig, dreißig, vierzig oder fünfzig Jahre alt zu sein. Die Zeiten des Sich-Beweisens, des Erfolgsstrebens, des Gegen-Sich-Hartseins sollten doch so langsam an der Schwelle zum achten Lebensjahrzehnt vorbei sein.  Oder? Ich sag nur Männer, alte Männer. Und in derselben Nacht bezahle ich dafür …

Im Naturschutzgebiet in der Nähe von Groß- und Klein-Bünsdorf machen wir auf einer Bank eine Pause. Es ist sechs, eine friedliche Stimmung. Die Stimmung ist so friedlich, dass ich erstmal einen zehnminütigen Erholungsschlaf mache. Ich merke, dass ich echt auf der letzten Rille fahre … Elena hat Verständnis dafür, dass ich nicht so kommunikativ bin.

Das Hotel Jägerhof in Holm versprüht gerade keinen so großen Charme. Wir sind froh, es nach langem Suchen überhaupt gefunden zu haben. Es ist wohl eher, wie der Name schon sagt, auch auf Waidleute ausgerichtet. Die Zimmer im barackenähnlichen Anbau sind sauber, aber schlicht. Unsere beiden Fahrräder nehmen wir sicherheitshalber mit in die Zimmer, zwar wird es nun eng, aber sicher ist sicher. Das Essen ist dafür wieder schmackhaft, ob nun vegetarisch für Elena oder ein Mecklenburger Rippenbraten mit Backpflaumen für mich. Die dicke Soße gibt mir aber den Rest. Ich bin groggy. Mit der Unterhaltung ist es bei mir nicht mehr weit her. Ich finde das am letzten Abend meiner Reise schade, zumal meine Tochter mich begleitet. Und ich hätte uns eigentlich ein gediegeneres Ambiente, so wie ich es während dieser Reise öfters vorgefunden habe, gewünscht.

Um neun gehen wir schlafen. Um viertel nach zwölf wache ich vor Schmerzen auf, mal wieder ein Krampf im rechten Bein! Ich könnte vor Schmerzen schreien, darf es aber nicht, weil Elena im Nachbarzimmer schläft und ich sie nicht wach machen will. Es werden harte zehn Minuten, bis ich wieder einschlafen kann. Die Strafe folgt (fast) auf dem Fuße …

Ich bin nur froh, dass es morgen geschafft ist …

Tag 43 (29.08.18): Von Dassow nach Priwall / Travemünde (Ostsee)   –   Ende

Km: 1526-1541

Heute ist der letzte Tag meiner Grenzgängertour 2018. Um acht Uhr frühstücken wir, ich ein letztes Mal auf dieser Reise. Ich erzähle von meinen Schmerzen in der Nacht. Elenas Matratze hatte auch schon bessere Zeiten erlebt. Beim Frühstück frage ich Elena nach ihren bisherigen Eindrücken, die trotz der Schwierigkeiten mit der Unterkunft durchweg positiv sind, vor allem der gestrige Besuch des Grenzmuseums in Schlagsdorf. Ich fange mal wieder an über deutsche Teilung, Nachkriegsgeschichte, Mauerbau 1961, Wendezeit zu dozieren und bin mir nicht sicher, ob ich über ihren Kopf hinweg rede.

Auf der Bundestraße 105 müssen wir eine kurze Strecke ohne Fahrradweg fahren. Ich hoffe, dass hier auf den letzten ‚gefährlichen‘ Metern nichts passiert.  Glück gehabt, wie so an manchen Stellen während der Fahrradtour, an denen der Autoverkehr mir doch etwas zu nahe gekommen ist.

In Dassow biegen wir kurz von der Hauptstraße ab, um einen Blick auf die Kirche zu werfen. Geschlossen. Dafür kommen wir aber mit einem Rentner ins Gespräch, der auf den Hufschmied wartet, der aus Lübeck herüber kommen soll. Seit mehr als vierzig Jahre lebt er schon alleine, die Ehe ist geschieden worden.  Er gehört wohl auch der Generation an, die möglicherweise im Innersten ihres Herzens der „guten, alten“ DDR-Zeit nachhängt. Wie so oft auf dieser Reise höre ich, dass vor 1989 ja auch nicht alles schlecht gewesen sei, alle genug zu essen gehabt hätten und, na ja, mit den Bananen und Apfelsinen wäre es halt etwas schwierig gewesen. Er erzählt eine Flüchtlingsgeschichte: ein Republikflüchtling sei durch Travemünder Fischer, auf einem Stein im Wasser sitzend, gerettet worden. Der Sohn sei bei der Bundeswehr als Zeitsoldat gewesen. Das wäre ja auch im Vergleich zu seiner eigenen Zeit als Wehrpflichtiger bei der DDR-Armee nichts Richtiges gewesen, viel zu lasch … Ein Lübecker Auto hält an, sein Besuch kommt.

Der Weg nach Priwall, der Endstation meiner nun mehr als sechswöchigen Reise entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze, ist gut ausgeschildert. In Johannstorf biegen wir aber von der Landstraße ab und fahren über Feld- und Waldwege nach Volkstorf, wo gerade ein ehemaliges adliges, imposantes Gutsgebäude außen renoviert wird. Von Bauarbeitern ist nichts zu sehen. Es scheint, als ob die Zeit stehen geblieben ist.

Nach Volkstorf mit teilweise schönen, neuen Häusern mit Blick auf den Dassower See fahren wir über abgeerntete Felder und haben den Westen, das Ziel schon fest im Blick. Ein letztes Mal geht es durch einen etwas urwaldähnlichen Wald auf einem schmalen Trail voran. Die Spannung steigt. Bald ist das Ziel erreicht. Wir lassen Pötenitz rechts liegen und sehen plötzlich die Ostsee vor uns. Ein schmaler Strandweg führt direkt darauf zu. Die Kamera wird ausgepackt, eine paar (vorletzte) Bilder gemacht. Elena holt ihr Handy raus und filmt uns beide auf dem Weg zum Strand. Beim Schieben der Fahrräder durch den Sand ans Wasser merken wir, dass wir an einem FKK-Strand gelandet sind. Ich hoffe nur, wir stören hier nicht zu sehr …

Ich ziehe meine lange Hose aus und wate in das etwas steinige Ostseewasser, bis ich sandigen Boden unter meinen Füßen habe und ein paar Runden schwimmen kann. Im Westen sehe ich Travemünde. Ein großes Fährschiff kommt gerade rein. Ein junges Pärchen macht freundlicherweise ein paar Erinnerungsfotos von uns bzw. von mir.
1.541 Kilometer in exakt 100 Stunden Fahrzeit haben am 43. Tag meiner Reise ihr glückliches Ende gefunden. Sechs Wochen sind eine lange Zeit….

Ich lasse ein letztes Mal die unterschiedlichen Stationen, die Menschen, die Gespräche, die Landschaften, die Grenzanlagen, den Brocken, das Eichsfeld Revue passieren. Ich empfinde Freude, dass alles gut gegangen ist bei mir und meinen Begleiter/innen, eine große Dankbarkeit dafür, dass ich diese mich sehr bewegende Reise durch die deutsch-deutsche Geschichte und damit auch meine eigene Lebensgeschichte machen durfte. Vielleicht ist es auch ein wenig Stolz, dass ich die körperlichen Anstrengungen und psychischen Herausforderungen wenige Monate vor meinem 70. Geburtstag gut und zehn Jahre nach einer schrecklichen medizinischen Diagnose überstanden habe. Ich hole die zwei Fläschen Sekt aus der Packtasche, die ich wohlweislich schon vor einigen Tagen gekauft habe. Es geht wie bei der Siegerfeier der Formel 1 zu. Wir bespritzen uns mit dem Rotkäppchen-Sekt aus dem NETTO in Ratzeburg. Auch der Rest von Bernhard Fahrigs selbstgebrautem Wildkirschen-Schnaps muss dran glauben.

Wir setzen uns an den Dünenrand in den Sand. Mein Blick geht von Ost nach West und zurück, zu den Möwen, die über mir fliegen. Elena holt das Handy heraus und fragt mich:
„Papa, wie war deine Reise insgesamt, erzähl doch mal …!“
Ich spreche ein letztes Mal über meine Motivation für diese Reise, die Erlebnisse, die vielen positiven und sehr wenigen negativen, die Freude und Dankbarkeit …, die nächsten Pläne. Zwischendurch stocke ich, es kommen mir ab und an Tränen der Erleichterung …

Es ist geschafft!

(c) Heinrich Pingel

Herford, 07. Oktober 2018

Kontakt: heinrich_pingel@t-online.de