Tag 36 (22.08.18): Von Oebisfelde nach Salzwedel

Oebisfelde: Dors beim Ständer-Reparaturversuch

Bahnhof Oebisfelde: Grenzübergang für Interzonenzüge

Oebisfelde: ehemalige Grenzkontrollgebäude. Graffitis: Beweis für die neue Zeit.

Schwanenfamilie im Drömling

Ein Blick für die unberührte Natur – ausgetrocknete Entwässerungsgräben

Kunst am Bau: Hier wohnt – bestimmt – ein Fliesenleger

Grenzmuseum Böckwitz: DDR-Ahnengalerie

Europastein zwischen Böckwitz und Zicherie

Naturschäden bei Brome

Jübar: Gasthof zur Linde. Keine Übernachtung für uns. Soo berühmt waren wir nicht …

Auf dem Weg nach Salzwedel: Blick über weite (LPG-) Felder

Ankunft in Salzwedel: Es darf hochgeschleppt werden…

Tag 36 (22.08.16):   Von Oebisfelde nach Salzwedel

Km: 1125 –1196

Halb acht Frühstück, Dors sei Dank. Habe mich mittlerweile daran gewöhnt, früh aufzustehen. Manchmal schreibe ich nach dem Frühstück noch ein paar Zeilen für das Tagebuch, komme dann erst so gegen 10 Uhr morgens los, aber im Prinzip hänge ich immer mehrere Tage hinterher. Abends bin ich in der Regel zu kaputt. Ein Glück, dass seit dem Harz die große Hitze vorbei ist.

In einem Landhandel versuche ich einen neuen Fahrrad-Ständer zu bekommen. Die Auswahl ist nicht groß und außerdem müsste erst die abgebrochene Schraube ausgebohrt und vielleicht auch das Gewinde nachgeschnitten werden. Ich will unbedingt zum Bahnhof Oebisfelde, weil ich meine, einige Male über diesen Zug-Grenzübergang gefahren zu sein, oder war es bei meinen Bahnfahrten doch Helmstedt/Marienborn. Am  Bahnhof kommen wir mit einem freundlichen, gesprächsbereiten Bundesbahner in Kontakt. Er kennt sich gut aus, hat in der 2. Hälfte der 80er Jahre TUI-Reisezüge mit Urlauber/innen von Westdeutschland nach Polen auf der Ostseite begleitet. Zu damaligen Zeiten eine besondere Auszeichnung, in solchen Zügen eingesetzt zu werden. Es ging ihm gut vor, während und nach der Wende. Auch wohl dadurch, dass er die Möglichkeit hatte, Wohneigentum zu renovieren und zu vermieten. Hinzu kam, dass er nahtlos von der Reichsbahn in ein Bundesbahn-Beschäftigungsverhältnis übernommen wurde.

Angesprochen auf die unterschiedlichen Mentalitäten, den unterschiedlichen Arbeitsethos, den ich bereits mit Thomas in Gerstungen diskutiert habe, bestätigt er die Ansicht, dass ehemalige DDR-Reichsbahner eine größere Bereitschaft zeigen, in Vertretungsfragen einzuspringen. Hinzu kommt, dass mittlerweile in Hannover auch Ossis Fahrdienstleiter seien. Ein weiteres persönliches Detail: In seiner Jugend in den siebziger Jahren als 15- und 16-Jähriger sei er mit Kumpels öfters bei Brome zu seiner Tante in den Westen schwarz über die Grenze gegangen und … auf demselben Weg unter dem Zaun zurückgekehrt.

Wir fahren durch den Naturpark Drömling und sind begeistert von der Schwanen-Familie, die mit ihrem Nachwuchs in Reih und Glied wie an einer Perlenschnur aufgereiht, langsam, aber zielstrebig Fersengeld gibt, als wir sie in einem Kanal beobachten. Das relativ ursprünglich belassene Sumpfgebiet wird durch mittlerweile oft ausgetrocknete Gräben durchzogen. Ein Bauer mit seinem Traktor überholt uns.

Kurz vor 13 Uhr kommen wir in Klötze an einer Bäckerei vorbei („alles noch selbst gemacht“), die bis um ein Uhr geöffnet hat. Eine Viertelstunde bleibt uns noch. Mit Müh und Not bekommen wir einen Capuccino. Auf die Frage, wie weit es noch bis zum „Westen“ sei, bekomme ich von der Mittvierzigerin eine schnippische Antwort: „Weiß ich nicht, ich komme nicht von hier, wohne in 20 Km Entfernung.“ Der Elfmeter hat gesessen. Die 1,5-Liter-Flasche Wasser wird mir dann aber doch vollgefüllt.  Eine ältere Dame, vermutlich die Seniorchefin, beäugt uns misstrauisch, ebenso ihr Sohn, der Bäcker.

In Böckwitz gibt es ein Landwirtschafts- und Grenzmuseum. Der Museums-Mitarbeiter, Mitte 50, HSV-Fan, weiß zwar nichts von der Fan-Freundschaft zwischen HSV und Arminia Bielefeld, dafür fand er das Leben in der früheren DDR in Ordnung. „Uns ging es gut, wir hatten genug zu essen und zu trinken.“ Eigentlich ist ab 13 Uhr das Museum geschlossen, aber wir dürfen uns umsehen. Eintritt jeweils drei Euro, ohne Karte. Er trinkt seinen Kaffee unter der Remise und unterhält sich bereitwillig mit uns über die gute, alte DDR-Zeit und die arbeitsmäßigen Verwerfungen in den 90er Jahren.

Wir fahren vielleicht dreihundert Meter weiter und merken es kaum: ein Ortsschild. Zicherie. Wir sind wieder im Westen, in Niedersachsen. So schnell und unkompliziert kommt man heute, nahezu drei Jahrzehnte nach der Öffnung der Grenzen, von West nach Ost und zurück. Wenn man bedenkt, dass hier die Häuser, die Menschen in Ost und West vielleicht 50 bis 100 Meter durch Mauer und Grenzzäune jahrzehntelang getrennt waren! Was hat diese Teilung in den Köpfen und Herzen der Menschen bewirkt?

In Brome suchen wir die kleine Enklave, die von DDR-Seite in das Gebiet der Bundesrepublik hereinragte. Wir finden sie, Wendischbrome, allerdings nicht das Haus des Eisenbahners aus Oebisfelde, der angab, von dort immer seiner Tante im Westen zugewunken zu haben. Vielleicht haben wir es auch nicht richtig verstanden …

Ziel für heute ist das niedersächsische Schnega. Es geht weiter über Nettgau Richtung Norden. Es ist mal wieder warm am frühen Nachmittag. Wir irren ein wenig durch sandige bzw. kopsteingeplasterte Feldwege umher und kommen gegen drei nachmittags in ein ganz kleines Dorf, Hanum, das durch seine imposante Kirche bestimmt wird. Es gibt eine bäuerliche Pension. Es ist drei Uhr nachmittags. Ich bin kaputt, habe keine Lust mehr. Dors ist noch relativ fit und wir entscheiden uns, im nächsten Ort eine Pension, ein Gasthaus zu suchen. Wir merken gar nicht, dass es nur wenige hundert Meter bis in den Westen sind. Der ehemalige Osten hat uns gefangen, ist einfach für uns als 4/4 – oder 3/4 Wessis viel interessanter.

Pustekuchen. Im nächsten Ort, in Jübar, sind zwei Gasthäuser, eins davon, „Zur Linde“, ist zum Glück geöffnet. Wir gehen in die „Linde“ hinein und bekommen erstmal was zu trinken. Ich bestelle für mich eine große Flasche Wasser und einen Apfelsaft. Schnell ausgetrunken. Dors versucht es mit einem großen Alsterwasser. Eine Übernachtungsmöglichkeit haben sie leider nicht, aber WLAN, was uns weiter hilft. Na ja, der sächsisch-anhaltinische Ministerpräsident hat vor kurzem hier übernachten können, aber er war auch angemeldet und hat mit den Unternehmern des Landkreises einen netten, informativen Abend verbracht … Nach dem 10. vergeblichen Telefonanruf, z. T. mit Unterstützung der freundlichen Gastleute, entscheiden wir uns, es im relativ weit entfernten Salzwedel zu versuchen. Erfolgreich, aber es sind noch knappe 30 Km bis dorthin.

28 Km laut Navi ist eigentlich gar keine Entfernung mehr für uns, mit E-Bike unter Einberechnung einer kurzen Pause ca. eineinhalb Stunden Fahrzeit. Wir fahren in ein Dorf nach Dors‘ Navi. Eine Frau fährt plötzlich hinterher und warnt uns, dass dieser Feldweg für Fahrräder nur sehr schlecht befahrbar sei. Dors und ich, wir schauen uns verdutzt, sprachlos an und bedanken uns bei dieser wildfremden Frau aus der Altmark.

Der Rest ist schnell erzählt: Wir spulen in dem etwas welligen Gelände mit den sehr großen Ackerflächen unsere Kilometer runter, zumeist und zum Glück auf Fahrradwegen . Über Elleneberg, Wallstawe und Eversdorf geht es Richtung Salzwedel. An einem der vielen Kriegerdenkmäler – es scheint, dass die Namenstafeln alle noch nicht so alt sind, also erst nach der Wende (wieder) angebracht – unter einem Baum mache wir eine letzte Pause: Wasser, Studentenfutter und Feigen, die Dors mitgebracht hat. Tut gut und gibt verbrauchte Energie zurück. Die Akkus reichen wahrscheinlich auch noch so (knapp). In Salzwedel befindet sich das Hotel einige Kilometer südlich der Stadt, wenige Meter von einer großen Kreuzung entfernt. Tankstelle inbegriffen. Das Essen schmeckt gut, im Hotel.

Tag 37 (23.08.18): Von Salzwedel durchs Wendland nach Binde / Arendsee

Schattenspendende Alleen: alte Landstraße nach Salzwedel

Stadttor in Salzwedel

Fachwerkidylle in Salzwedel

Gedenkstätte Ritzer Brücke in der Nähe von Salzwedel / Ritze

Gedenktafel Ritzer Brücke: Mord an 244 KZ-Häftlingen im April 1945

Alt-68er im Urlaub im Wendland. Den 2 CV konnte man herrlich mit Vollgas in die Kurven fahren ohne rauszufliegen.

Obstangebot im alternativen Wendland

Ländliche Atom-Protest-Idylle

Pause im Wendland

Trutzige Wehrkirche in „Lemgow“

Domizil für Dors: ein umgebauter alter Bauwagen mit Bettprovisorium

Schwedische Lile Villa von Traudi und Jürgen Starck

Dors und Jürgen an der Infohütte Klocksberg

mit Jürgen Starck an seinem „Lieblingsplatz“ zum Erklären der deutsch-deutschen Geschichte

Jürgen Starck bei seiner phänomänalen Geschichtsstunde

So kauft man heute frische Bio-Vollmilch vom Bauern: am Automaten!

Tag 37 (23.08.18): Von Salzwedel nach Binde/Arendsee

Km: 1193 – 1231

Morgens nach dem Frühstück muss ich erst nochmal eine dreiviertel Stunde meine Tagebucheintragungen vervollständigen. Dors wartet schon vor dem Haus. Von einer Angestellten erhalten wir den Tipp, es in einem Hotel in Gorleben mit der nächsten Übernachtung zu versuchen. Wir haben allerdings das Ziel, heute Abend in Binde bei Jürgen Starck, einem BUND-Aktivisten, zu übernachten. Wir fahren zunächst auf einer kleinen, ehemaligen Landstraße (einer schönen Allee mit altem Baumbestand) in die Hansestadt, die wenige Kilometer von der ehemaligen Grenze in Sachsen-Anhalt liegt.

Ich brauche einen Friseur: Der Bart muss gestutzt werden. Das letzte Mal geschah dies in Heiligenstadt vor mehr als zwei Wochen. Dors will bei seinem Fahrrad das letzte Firmware-Update von Bosch aufspielen lassen, vergeblich. Auf dem Weg zum Friseur komme ich an der „Volksstimme“ vorbei, überlege kurz und schon frage ich nach einem Redakteur, der ja einen kurzen Bildbericht über unsere Reise in die Lokalzeitung bringen könnte. Es klappt, ein junger Mann kommt. Es stellt sich heraus, dass er sein erstes Bundesligaspiel auf der Alm bei Arminia in Bielefeld gesehen hat, den 5:0 Pokal-Sieg Arminias gegen Lok Stendal am vergangenen Sonntag ebenfalls. Mal abwarten, ob der Fotobericht tatsächlich veröffentlicht wird.

Wir entscheiden uns, heute zunächst ins Wendland, also in den Westen zu fahren, bevor wir nach Binde zu Jürgen und Traudi Starck fahren, zu denen ich, vermittelt durch das Grüne-Band-Projektbüro in Nürnberg schon vorher per Mail Kontakt hatte. Auf unserer Tour zu Dietrich Schütze in Tettau am Tag drei haben wir bewusst, aber schweren Herzens auf den Besuch der KZ-Gedenkstätte Laura in der Nähe von Probstzella aus Zeitgründen verzichtet, was sich im Verlauf des Tages und den Problemen mit den Akkus als richtig herausgestellt hatte. Jetzt machen wir aber einen kleinen Umweg und verlassen Salzwedel in Richtung Ritze. Direkt an einer Brücke gelegen, besuchen wir die Gedenkstätte für 244 im Jahr 1945 auf einem Todesmarsch umgekommene KZ-Häftlinge, die dort in einem Gemeinschaftsgrab bestattet sind.

Ich erinnere mich an meine eigenen Forschungen zum Ende der Weimarer Republik und zur Geschichte des 3. Reichs, z. B. die Dissertation zu „Widerstand und Verfolgung in Darmstadt und der Provinz Starkenburg“, die 1985 nach langen Auseinandersetzungen von der Hessischen Historischen Kommission veröffentlicht und in Darmstadt/Marburg erschienen ist, auch an die Besuche im ehemaligen KZ Buchenwald, das 1938 nach dem November-Pogrom errichtet wurde. In der zweiten Hälfte der 70er Jahre war die Aufarbeitung der NS-Diktatur, des Faschismus in der DDR für mich vorbildlich im Gegensatz zum langen Verschweigen, dem Reduzieren auf den militärischen Widerstand des 20. Juli 1944 in der alten Bundesrepublik. Angesichts der rechtsextremistischen Entwicklung in den neuen Bundesländern in den 90er Jahren frage ich mich allerdings, ob es dem staatlich verordneten Antifaschismus der DDR wirklich gelungen ist, in die Köpfe und Herzen der vor allem jungen Menschen durchzudringen. Damit sollen die Absichten zur Aufarbeitung der deutschen Geschichte, auch als Vermächtnis des Potsdamer Abkommens, prinzipiell nicht in Frage gestellt werden, aber vielleicht wurde auch in Teilen der DDR-Jugend die Teilnahme an solchen Gedenktagen etc. als Zwang angesehen und führte so eher zum Gegenteil.

Wir fahren ins niedersächsische Wendland. Dors berichtet von seiner Teilnahme an Protesten gegen die Lagerung des Atommülls in Gorleben Ende der 70er bzw. Anfang der 80er Jahre. In Volzendorf fahren wir die Dorfstraße entlang. Uns fallen die gelben, überkreuzten Bretter auf, die sich an den Häusern, an Scheunen oder an Gartenzäunen befinden. Also doch, der Widerstand ist noch sichtbar, obwohl die gelbe Farbe manchmal schon sehr verblasst erscheint. An einem großen Bauernhof, vermutlich bewohnt von einer Kommune, halten wir an und versorgen uns mit Äpfeln, die in der Hofeinfahrt gegen eine Spende ausliegen. Ein alter VW-Bulli mit Berliner Kennzeichen erinnert daran, dass wohl noch vor der Wendezeit viele Berliner Alternative ins Wendland gekommen sind, um gegen die Atomindustrie aktiv zu werden.

Ich erinnere mich, wie ich bei den letzten Castortransporten vor einigen Jahren kurzfristig überlegt habe, dem Beispiel meines Sohnes Christian zu folgen und auch die Gleise zu blockieren. Ich muss mir eingestehen, dass die drängenden Umweltfragen erst in den letzten Jahren wirklich in mein politisches Bewusstsein gelangt sind und ich bereit bin, in dieser Richtung aktiv zu werden. Meine Schwerpunkte waren bzw. sind eher soziale Fragen oder auch die Beschäftigung mit der Geschichte, der geschichtlichen Aufarbeitung des Endes der Weimarer Republik, der Nazi-Diktatur, insbesondere des Holocaust, wenn ich an das multimediale Geschichtsprojekt „Zwei Seiten der Geschichte“ des Vereins Brücken Bauen – Verein zur Förderung von interkultureller Verständigung (Herford) über die beiden Holocaust-Überlebenden Wilma und Georg Iggers denke.

Wir wollen nach Lemgow, sind aber etwas irritiert, weil auf der Navi-Karte zwar unser Ziel steht, aber nirgends finden wir, dort angekommen, das erwartete Ortsschild. Wir fahren über Predöhl und Trabuhn nach Schweskau. „Gibt es bei euch hier im Dorf eine Kneipe oder einen Supermarkt?“ frage ich zwei Männer mittleren Alters, die gerade eine Wand streichen. Bald wird geheiratet, da soll die Fassade schön aussehen. „Nee, ein Gasthaus gibt es heute nicht mehr, früher ja, aber wenn ihr einen Kaffee wollt, könnt ihr zu Frau A. gehen, da vorne erste Straße links und dann gleich rechts.“ Ok. Wir werden von einem kläffenden Hund erwartet. Kein Problem. Hunde, die bellen, beißen nicht. Außerdem kommt Frauchen, Frau A., auch schon aus dem Haus und beäugt uns erstmal kritisch. Ja, doch, einen Kaffee könnten wir kriegen, aber sonst gibt es nichts.

Dors holt mit dem Fahrrad Kuchen, natürlich eingepackten, aus dem Dorf-Supermarkt, der auch schon bessere Zeiten gesehen hat. Ich versuche mich mit dem Hund anzufreunden, was mir aber auch nicht so richtig gelingt. Erst als Frau A. mit der Kanne Filterkaffee kommt, wird er etwas ruhiger. Ist halt genau wie Frauchen und wir selbst sind auch schon etwas in die Jahre gekommen. Wir erfahren von unserer Gastgeberin, dass es Lemgow als Ort gar nicht gibt, sondern dass 12 Dörfer im Wendland unter diesem Namen zusammengeschlossen sind. Sie ist auch ein Flüchtling aus dem Osten, allerdings schon seit den frühen 50er Jahren und war lange hier in Schweskau verheiratet. Ihr Mann und sie hatten eine gut gehende Wirtschaft, die sie aber vor mehreren Jahren aufgegeben haben.

Sie berichtet auch von ihrem Mann, der bei der Bundeswehr gearbeitet habe, auf einem großen Fernmeldeturm, der von der Bundeswehr als Aufklärungsturm betrieben wurde und heute noch sichtbar ist im Wendland. Sie haben dort den Osten abgehört. Von der Protestbewegung gegen das Atomlager in Gorleben hält sie nicht viel, besonders nicht von den jungen Frauen, die damals mit ihren kleinen Kindern voran marschiert sind …Wir machen ein Erinnerungsfotos und verabschieden uns herzlich. Ich glaube, Frau A. hat sich gefreut, sich mit anderen, ihr sympathischen Menschen einmal über ihr Leben zu unterhalten. Mit den Einheimischen wäre das so als Zugereiste manchmal immer noch etwas schwierig. Und, ach ja, unser Ziel Binde kennt sie auch. Sie fährt immer über die Grenze dorthin zum Friseur.

Dors entdeckt plötzlich einen Pirol. Dieser gelb-schwarze Vogel ist wohl mittlerweile eine Seltenheit und vom Aussterben bedroht.  Er zeigt ihn mir und ich merke, wie einseitig doch meine Bildung ist. Ein Glück, dass Dors mich begleitet. Was hätte er nicht noch alles auf dieser Reise am Grünen Band entdeckt, an dem ich einfach unwissend, mich konzentrierend auf Geschichte, Politik und Menschen, vorbeigefahren bin?

Kurz nach der ehemaligen Grenze hat es mich bzw. besser gesagt mein Fahrrad in der Altmark erwischt: die gesamte Belastung, die Feldwege, die Schotter-, Wurzel- und Geröllstrecken auf den mehr als 1.200 Kilometern bisher hat der Gepäckträger, auf dem ca. 25 kg lasten, nicht länger ausgehalten. Auf der linken Seite ist die Schraube, die den Gepäckträger mit dem Rahmen verbindet, abgebrochen. Er hängt auf ‚halb sieben‘, an Weiterfahren über den holprigen Feldweg ist nicht zu denken. Ein Glück, dass Dors mich begleitet. Er hat für solche technische Probleme immer eine Lösung. Während ich dilettantisch mit einem meiner elastischen Gepäckgurte versuche, die Verlagerung auf die rechte Seite zu bewerkstelligen, holt er kurz entschlossen seine Kabelbinder raus und mit vieren davon wird der abgebrochene Gepäckträger notdürftig befestigt. Wir fahren auf Eiern und sehr vorsichtig die letzten Kilometer nach Binde, einem Ortsteil von Arendsee,  zu Familie Starck. Zum Glück weiß ich, dass der Sohn eine Fahrradwerkstatt hat …

Wir werden von Jürgen Starck und seiner Frau Traudi herzlich begrüßt. Doch zunächst gilt mein Interesse mehr ihrem Sohn Christian, der eine alternative Fahrradwerkstatt betreibt, als gelernter Fahrradmechaniker ist er auf die individuelle Herstellung von Fahrrädern spezialisiert, nur am Rande verdient er sein Brot auch mit Reparaturen und dem Verleihen von Fahrrädern. Eigentlich hat er etwas anderes vor, aber er erkennt unsere, meine Notlage. Nach einer guten Stunde habe ich mein mittlerweile sehr geschätztes E-Bike wieder: Schraube herausgebohrt, neues Gewinde, Gepäckträger wieder richtig angebaut, das gleiche Prozedere für das vorherige Problem plus ein neuer Fahrradständer, Kette geölt, Gangschaltung eingestellt … Ich bin ihm sehr dankbar und hoffe, dass ich ohne weiteren Reparaturen bis zur Ostsee komme.

Jürgen und Traudi – angesichts der Vielfalt ihrer umwelt-politischen Aktivitäten ist es zu schwierig, sie mit einem Wort zu charakterisieren – betreiben den Haselnusshof.  Ein sehr liebevoll, ökologisch und vielleicht auch anthroposophisch angelegter Garten begeistern Dors und mich. Es ist zwar trocken, aber die vielen Obstbäume etc. sprechen für sich. Ich bin etwas voreilig und brutal und angele mir die „Lille Villa“, ein schwedisches Holzhäuschen mit Bett, Mückenschutz, Kommode, Teppichen und einer kleinen Veranda, auf der sich ein Sofa, ein Tisch und ein paar Rohrsessel befinden. Dors hat als Alternative einen alten Bauwagen in 20 Meter Entfernung bekommen, der innen mit einem provisorischen Bett ausgestattet ist. Am meisten begeistert uns aber die Dusche, die wir nach diesem Tag so richtig genießen. Ein Holzviereck mit ausgelegten Brettern zum Draufstehen, eine Dusche, die gespeist wird durch Wasser, das von einem Solarpanel, das sich außen befindet, aufgewärmt ist. Die anschließende Dusche ist herrlich, fast so wie früher im Atlantik auf dem Zeltplatz von Le Gurp, nahe der Gironde. Die Toilette können wir im Haus benutzen, aber ich entscheide mich für die harte, ökologische Variante: das Plumpsklo mit Sägespänen.

Nachdem das Fahrrad repariert ist und Dors und ich uns frisch gemacht haben, erzählt uns Jürgen Starck sehr ausführlich seine Lebensgeschichte und seine umweltpolitischen Aktivitäten in der DDR und BRD. Geboren 1950 im brandenburgischen Freyenstein im Kreis Wittstock in der Nähe von Potsdam, ist er hauptsächlich aktiv in den 80er Jahren in der DDR-Umwelt‑ und Friedensbewegung in den Jahren vor der politischen Wende 1989. Man merkt ihm auch an, dass er stolz auf seine handwerklichen Fähigkeiten ist, auf seine Ausbildung und Berufserfahrung als Fernmeldetechniker, die er zu DDR-Zeiten zu nutzen wusste. Er berichtet von einem Vater und der persönlichen und politischen Prägung durch ihn, der aufgrund seiner Zeit in der Kriegsgefangenschaft ein Pazifist geworden ist. „Zur Fahne“ musste er trotzdem in der DDR. In der 2. Hälfte der 90er Jahre sind Traudi, ihr gemeinsamer Sohn Christian und er ins Wendland gekommen, bevor sie dann 2004 sich wieder im Osten, in Binde, einem Ortsteil von Arendsee, angesiedelt und den Bauernhof renoviert und modernisiert haben. Dazwischen lagen immer längere Aufenthalte in Schweden, wo beide auf ökologischen Höfen gearbeitet haben. Es ist spannend, ihm zuzuhören. Ein Querdenker, der sich im Interesse der Umwelt auch schon mit dem örtlichen Bürgermeister angelegt hat, als es um die Erweiterung einer großen Schweinemastanlage ging.

Nach einem sehr schmackhaften Essen, von Traudi und Jürgen zubereitet, mit allem, „was der Garten so hergibt“, fragen wir Jürgen, ob er mit uns an die ehemalige Grenze, das Grüne Band, fahren kann. Es ist schon spät, fast acht Uhr abends. Am nächsten Tag hat er wegen anderer Verpflichtungen keine Zeit. Mit dem Fahrrad schaffen wir das nicht mehr, also lädt er uns in seinen VW-Polo ein. Stolz erzählt er uns, dass wir hier die Fenster noch mit der Hand selber hoch‑ und runterkurbeln können … Wir fahren durch Arendsee und ungefähr 500 Meter nach der Badeanstalt biegen wir halblinks in einen Waldweg ein, der uns zu seinem ‚Lieblingsort‘ bringt, wenn es um die Erklärung des Grünen Bandes, der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze und der Geschichte von Ost und West geht, zum historischen Grenzpunkt Klocksberg/Wirlspitze. Jürgen hält das Auto an, wir steigen aus und gehen auf einen ca. 100 m breiten, nur mit geringem Pflanzenwuchs versehenen Streifen, man könnte sagen eine größere Waldschneise, die im rechten Winkel die Nachbildung des tatsächlichen Grenzverlaufs sehr gut veranschaulicht.

Unser BUND-Vertreter erteilt uns in der aufkommenden Dämmerung eine Geschichtsstunde allererster Güte. Er zieht mit den Füßen eine Linie zwischen den Grenzpfosten aus Beton, holt seine selbst gebastelten Fähnchen heraus (UdSSR, USA, Frankreich, UK sowie die der beiden deutschen Staaten). Dann erklärt er auf einfache, aber sehr eindrückliche Weise mit Hilfe der Fähnchen die deutsch-deutsche Geschichte vom Ende des 2. Weltkrieges 1945 bis hin zum Jahr 1990. Ich beobachte ihn – nur staunend, als ehemaliger Politiklehrer, der dieses Fach mehr als drei Jahrzehnte unterrichtet hat, nur bewundernd,- wie er die Gründung der BRD im Mai 1949, die der DDR im Oktober 1949, Mauerbau, Grenzgestaltung etc. plastisch und einprägsam veranschaulicht. Es gefällt mir auch, dass er sehr differenziert an die tatsächlichen Verhältnisse an der Staatsgrenze West bzw. der Zonengrenze vom Westen aus gesehen beschreibt und beurteilt.

Wir sprechen auch über die Aufklärungs‑, man könnte auch Spionageaktivitäten auf beiden Seiten sagen. Die Rolle der DDR-Fernaufklärer, die bis auf einen Schritt ihren bundesdeutschen Kollegen vom Bundesgrenzschutz gegenüber treten durften, welch eine absurde, heute nicht mehr vorstellbare, aber doch reale Situation. Wir erinnern uns an das Gespräch mit Frau A. aus Lemgow, die von der Bundeswehrtätigkeit ihres Mannes auf dem Abhörturm im Wendland berichtete. Später stellt uns Jürgen Starck noch den Link zu der Webseite eines bundesrepublikanischen Experten, der über die Geschichte, Struktur und Aktivitäten der Fernaufklärung der Bundeswehr und des BGS eine Dokumentation erstellt hat. Manfred  Bischoff war selbst von 1977 bis 1993 Fernmeldeaufklärer auf dem Thurauer Berg und lauschte in den Osten.

Es ist wohltuend, mit einem historisch interessierten, politisch aktiven Zeitzeugen der deutschen Teilung und Wiedervereinigung in solch einer differenzierten Art und Weise diskutieren zu können. Ich denke, dass dazu nicht nur die bei Fluchtversuchen aus der DDR Getöteten und Schwerverletzten gehören, sondern auch die, wenn auch in viel geringerer Anzahl, von vom Westen aus erschossenen und verletzten DDR-Grenzsoldaten ins Bewusstsein gerückt werden sollten. Die erst kürzlich ausgestrahlte ZDF-Fernsehfilmserie „Tannbach“ scheint diese Ansätze einer differenzierten Betrachtung der Lage und Aktivitäten dies und jenseits der deutsch-deutschen Grenze aufzunehmen.

Natürlich hofft Jürgen als begeisterter Umweltschützer, dass der nur noch sehr selten vorkommende Ziegenmelker sich vielleicht heute Abend noch akustisch bemerkbar macht. Er ist sich nicht sicher, als er entsprechende Laute dieses seltenen Vogels hört, ob es ein Jungtier ist oder nicht. Dors äußert sich dazu auch gleich fachmännisch. Ich bleibe lieber stumm. Von Ornithologie habe ich keine Ahnung. Durch die Nacht fahren wir noch ins Wendland zu einem ökologischen Bauernhof, auf dessen Hof sich ein Milch-Automat, teilweise finanziert von der EU, befindet. 6 Liter frische Biomilch für 6 Euro. Wie hat sich das Leben in den letzten sechs Jahrzehnten verändert!? Früher in Röhrig auf dem Eichsfeld habe ich in einer Kanne immer die Milch vom Bauern geholt und war ganz stolz, wenn beim Schleudern über dem Kopf keine Milch ausgelaufen war.

Nachts um drei wache ich auf. Es fängt an zu regnen. Ich genieße die Regentropfen auf meiner Haut. Ich stelle schnell mein Fahrrad in den Schuppen, kann aber lange nicht mehr einschlafen. Der Haselnusshof, seine Bewohner und deren Geschichte wollen mir nicht aus dem Kopf gehen …

 

Tag 38 (24.08.18): Von Binde / Arendsee nach Gorleben

Haselnusshof: Abschiednehmen von der Starck-Familie – Helena: „na klaar!“

Dors vor dem Haselnusshof mit Hinweis auf die Fahrradwerkstatt

Idylle am Arendsee

Kontrastprogramm …

Video Arendsee

Dorfkirche auf dem Weg nach Stresow

Erinnerung an das geschleifte Dorf Stresow

… ohne Worte: Stresow 1

… ohne Worte: Stresow 2

ein „trautes“ Paar ?

Grenzübersicht in Schnackenburg

Grenzmuseum Schnackenburg: der Trabi – ein DDR-Kultfahrzeug

Wieder im Wendland …

Brückenkopf Höhbeck: Blick vom Aussichtsturm auf die Elb-Auen

Blick auf die Elbe

Gorleben: ein leckeres, „strahlendes“ Buffet am Abend

Tag 38 (24.08.18):  Von Binde/Arendsee nach Gorleben

Km: 1231 – 1285

Zum Frühstück haben unsere Gastgeber in der guten Stube ein tolles Frühstück mit selbst gemachten Marmeladen etc. aufgefahren. Ich bin mal wieder geplättet und weiß nicht, wo ich anfangen soll, zumal auch die Brötchen aus einem Bio-Laden kommen. Jürgen berichtet noch von der Vielzahl seiner umwelt-pädagogischen Aktivitäten am Grünen Band, seien es nun Schulklassen, Rentnergruppen oder Weltenbummler, wie z. B. Mario Goldstein, der im Auftrag des BUND dieses Jahr auch bei ihm vorbeigekommen ist. In diesem Jahr seien es schon 30 gewesen, ergänzt er später.

Nach dem Frühstück verabschieden wir uns sehr herzlich, Christian wird aus seiner Werkstatt geholt für einen Schnappschuss und natürlich seine Tochter bzw. die Enkeltochter Helena, ein wahrer Sonnenschein. Ihre Lieblingsantwort: „na klaar!“ Das Transparent vom Grünen Band darf auf dem Foto natürlich auch nicht fehlen.

Am Arendsee fahren wir am malerischen Süd-Ufer entlang. Es ist ca. 9 Uhr und einige Rentner/innen machen mit und ohne ihre vierbeinigen Begleiter einen Morgenspaziergang. Wir treffen auf einen Mann, vielleicht Mitte sechzig, mit dem wir über eine halbe Stunde ein sehr reflektiertes Gespräch über das Leben in der DDR, die Wendezeit und die letzten Jahrzehnte im vereinten Deutschland führen. Er kennt Ost und West, war zu DDR-Zeiten Lehrer an einer Berufsschule und ist dann kurz nach der Wende Mercedes-Verkäufer in Magdeburg geworden. Er berichtet von den Schwierigkeiten, sich dem westlich-kapitalistischen System anzupassen, den Verwerfungen, die viele DDR-Bürger nach 1989 miterleben mussten. Zum Glück hatte er persönlich aus seiner Zeit als Rallyefahrer noch Kontakt zu einem Kollegen, der bereits in den 80er Jahren in die BRD geflüchtet war und ihm das Einmaleins des Autoverkaufens im Westen erklärt und ihn rechtzeitig über alle No-Goes unterrichtet hatte.

Dors braucht Bargeld und ich möchte Bananen und die Lokalzeitung. Wir fahren vom Seeufer in den Ort. Es ist Freitagvormittag. Die Rentner/innen kaufen ein, die Männer in meinen Augen z.T. in sehr legerer Kleidung (Trainingshosen, Sportunterhemd). Fast wie in alten Tagen. Dors meint, dass dies wohl nicht nur eine spezifische Kleidung von DDR-Urlaubern gewesen sei, auch in kleineren Dörfern und Städtchen in Frankreich sei solch ein Aufzug bis heute gang und gäbe. ‑ Die Salzwedler Volksstimme hat keinen Bericht gebracht.

Wir fahren am Grenzbesichtigungs-Punkt von gestern Abend vorbei, wollen aber Kilometer machen und halten nicht nochmal an. Der gestrige Vortrag von Jürgen Starck war beeindruckend. Wir halten uns Richtung Norden und kommen über Gollensdorf, Drösede und Aulosen zu einer Gedenkstätte, wo sich das geschliffene Dorf  Stresow befindet. Alle Häuser wurden platt gemacht und die Bewohner zwangsweise umgesiedelt. Hier sehen wir auch wieder die Grenzzäune. An einem befindet sich eine Gesichtsmaske aus Ton. Weit geöffnete Augen und Mund vermitteln den Eindruck von Entsetzen und Schreien. Ein älterer Mann, nur bekleidet mit einem Tuch, geht an uns vorüber zum See, um dort nackt zu schwimmen.

Es sind nur noch wenige Kilometer, bis wir, auf dem Deich entlang fahrend, nach Schnackenburg kommen und dort am Hafen in das Grenzlandmuseum gehen. Ein Mann, wohl über 80 Jahre alt, gibt uns bereitwillig Auskunft. „Nein, viel Kontakt mit den Leuten drüben gibt es nicht. Wir sind ja hier in Niedersachsen. Außerdem sei nach 1990 die Schifffahrt erheblich zurückgegangen. Das kleine, mit sehr vielen DDR-Exponaten ausgestattete Museum ist interessant. Nur die Schulklassen, die würden immer weniger kommen. Und wenn, dann würden die Mädchen der 8. und 9. Klasse auf dem Boden sitzen und Zigaretten rauchen. Ich denke, sie werden eher Zigaretten gedreht haben. Unabhängig davon scheinen zwei Mittfünfziger sich sehr gut mit den DDR-Militaria auszukennen. „Weißt du noch …?“ ­‑ „ Das ist doch die …!“ ‑ „Die hatten wir auch!“. Manchmal frage ich mich, welche Funktion diese Grenzlandmuseen entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze mittlerweile haben. Eine Form der Ostalgie für frühere Mitglieder der Grenztruppen, eine Möglichkeit, die DDR als verbrecherische Diktatur darzustellen und somit vielleicht auch von der Zeit des Nationalsozialismus zwischen 1933 und 1945 abzulenken? Ich weiß es nicht, bin mir unsicher. Ich erinnere mich an das Gespräch mit der jungen Leiterin des Grenzmuseums in Teistungen bei Duderstadt: Demokratische Werte vermitteln sei die Hauptaufgabe. Wir gehen und bedanken uns bei dem Herrn der Museums-Aufsicht. Er liest die neueste Ausgabe seiner Vertriebenenzeitung.

In einer kleinen Außengastronomie bestellen wir uns etwas zu trinken und zu essen. Dors nimmt einen Kuchen, ich Matjesfilets mit Bratkartoffeln. Irgendwie esse ich gefühlt schon 5 Wochen Bratkartoffeln, spätestens seit Thüringen, aber sie schmecken immer wieder. Die Zwiebeln der etwas mickrigen Heringe stoßen mir bei der Weiterfahrt unangenehm auf, Sodbrennen lässt grüßen. Ich spüre die kritischen Blicke eines Mannes, der uns in Stresow nach den E-Bikes, insbesondere dem i:sy von Dors, gefragt hat, Akkudauer, Preis etc. Als wir uns zur Abfahrt bereit machen, spüre ich wieder den etwas kritischen, vielleicht auch neidischen Blick. Ich komme mir etwas vor wie der reiche Wessi, der sich im Prinzip aber nichts darauf einbildet, mit einem Mittelklasse E-Bike Baujahr 2017 unterwegs zu sein. Wieso denke ich nur an die Diskussion mit dem älteren Mann an der Werra, der von dem nach der Wende aufkommenden Neid im Dorf berichtet hatte …?

Wir fahren auf westlicher Seite immer relativ nah am Deich die Elbe entlang und müssen auf den letzten Metern zur Erhebung Höhbeck und dem dortigen, luftigen Aussichtsturm eine richtige Steigung über ca. 500 Meter hinauf. Dank Turbo-Modus trotz des schweren Gepäcks alles machbar. Oben in luftiger Höhe hat man einen weiten Blick in die Altmark, auf die Elbe und das Wendland. Ca. eineinhalb Stunden nach Schnackenburg, der kleinsten niedersächsischen Stadt, haben wir Gorleben, den Standort des umstrittenen Atom-Zwischenlagers, erreicht. Das Hotel hat den Charme eines Industriegebäudes, allerdings sind die Zimmer wohl mit Plüsch (z. T. in roter Farbe) eingerichtet. Hat das was damit zu tun, dass früher eine Nachtbar im Hotel war?

Am Abend bekommen wir im Gasthaus an der Hauptstraße gerade noch etwas zu essen. Das Buffet steht noch bereit. All you can eat für 14,99 €. Dors und ich schlagen richtig zu. Ich frage die Kellnerin, ob das Gemüse verstrahlt sei. Antwort: „Das Essen ist genau so strahlend wie wir.“ – Der Elfmeter hat gesessen. Diskussion beendet.

 

Tag 39 (25.08.18): Von Gorleben nach Hitzacker

Übernachtungsmöglichkeiten in Holzfässern: haben Diego und Dante hier geschlafen?

(Atom-) Zwischenlager Gorleben: ein wenig Euphemismus

Atom-Zwischenlager: gut geschützt

Gorleben: GREENPEACE-Protestschiff Beluga

Informationstafeln der Atom-Gegner

Protest im Wald

Symbolisches Atomfass

Bergwerk mit verhindertem Atom-Endlager

Anti-Atomproteste seit den 80er Jahren

Aussichtsturm bei Langenberg: Schöne Aussicht auf Elbaue, aber auch Auseinandersetzung mit ausländischem Radfahrer („damn Nazi!“)

Elbe: Wolkenstimmung bei Dömitz

Dorfrepublik Rüterberg: schön restauriertes Haus

Dorfrepublik Rüterberg: Blick auf die Elbe

Dorfrepublik Rüterberg: Kaffee und Kuchen

Dorfrepublik Rüterberg: Früherer Eingang in das Sperrgebiet

… immer auf dem Deich lang…

Hitzacker: wir kommen, dank des privaten Fährmanns

Private Elbfähre: unser Fährmann

Tag 39 (25.08.18):  Von Gorleben nach Hitzacker

Km:  1285  –  1335

Das Frühstück ist etwas lieblos zusammengestellt. Brot gibt es aus der großen Plastiktüte. Dors meint, es kommt aus einem panimaju-po-russki Laden. Egal, wir werden freundlich aufgefordert, uns doch ein Lunchbrot mitzunehmen. Ich bin mit dem Wirt allein und verstehe endlich, weshalb die großen Holzfässer, in denen man übernachten kann, die Namen Diego und Dante tragen. Gestern hatte ich noch gefragt, ob er Werder Bremen Fan sei, was verneint wurde. Heute erfahre ich, dass seine kubanisch-deutschen Söhne so heißen, die gestern so richtig schön auf dem Trampolin etc. gespielt haben. Wir sprechen über die kubanische Realität, die wohl doch etwas anders als die kubanische Touristen-Realität aussieht.

 Von den Protesten gegen das Atommüll-Zwischenlager hält der Wirt nichts, so nach dem Motto: die Grünen kriegen ja noch nicht mal mehr als drei Jahre Regierungstätigkeit gebacken … Wir packen unsere Sachen und fahren dann doch zum Atommüll-Zwischenlager. Nach einmal Fragen in einem kleinen Industriegebiet haben wir die richtige Landstraße gefunden und stehen in gebührendem Abstand vor einem großen Eingangstor mit Pförtner-Häuschen und großen quadratischen Industriegebäuden. Es ist halb zehn Uhr morgens, es nieselt ein wenig. Dem Pförtner winke ich zu, so nach dem Motto „Guten Morgen“, und er winkt zurück. Wie Revoluzzer, die gleich zum Sturm ansetzen, sehen wir wirklich nicht aus, eher wohl wie zwei alte Männer, die an die Stätten ihrer politisch-ökologischen Aktivitäten vor 30 bis 40 Jahren zurückkommen … Die Fahrräder haben keine Kennzeichen, er kann keine Daten weitergeben … und auch beim Gastwirt brauchten wir keine persönlichen Angaben hinterlassen -cash in de tesch, vielleicht?

Ein paar hundert Meter weiter befindet sich die Beluga, ein großes Greeenpeace-Aktionsschiff, als Blickfang aufgebahrt in Sichtweite des zweiten Lagers, in dem sich auch der Salzstock befindet. „Nein, Besichtigungen könne man schon seit 3 Jahren nicht mehr machen“, sagt uns der Pförtner am Eingang zum Salzstock, aber ein paar Schritte weiter am Zaun sei eine Infotafel angebracht. Wir ziehen es vor, uns die umfangreichen Infotafeln in der Nähe des Protest-Schiffes anzuschauen. Wie jung war Angela Merkel als Bundesumweltministerin eigentlich? In der offenen Holzhütte finden wir weitere Infos und an einem Baum befindet sich ein kleines Hinweisschild, dass sich jeden Sonntag um 13 Uhr Umweltaktivisten zu einem gemeinsamen Spaziergang hier treffen. Ich bin nun froh, dass wir uns die eine Stunde Zeit für diesen Umweg auf unserer Route entlang der Elbe genommen habe. Ich spüre hier wieder bundesrepublikanische Geschichte, den Hauch der Anti-Atom-Proteste der 80er und 90er Jahre, die an mir irgendwie vorbei gegangen sind, weil ich wohl schon zu sehr darauf bedacht war, meine historischen Forschungen über die Nazi-Zeit abzuschließen, beruflich Fuß zu fassen und eine Familie zu gründen, nach all den bis dahin unruhigen Jahren in ruhigeres, auch ökonomisch besser abgesichertes Fahrwasser zu gelangen. Aktives Gewerkschaftsmitglied und zeitweiliger Personalrat, Mitglieder der VVN-Bund der Antifaschisten: Ja, aber ansonsten bin ich politisch gesehen etwas auf Tauchstation gegangen. Vielleicht angesichts der weit verbreiteten Lehrerarbeitslosigkeit, den damit verbundenen sozialen und materiellen Ängsten Anfang der achtziger Jahre sowie den 1983, 1987 und 1989 geborenen Kindern verständlich.

Auf dem Weg nach Langendorf kommen wir an einem etwa zehn Meter hohen Aussichtsturm vorbei, den wir besteigen und von dem man eine herrliche Aussicht über das Biosphärenreservat Elbe, das Wendland und die Altmark hat. Als wir wieder losfahren wollen, kommt es zu einer der merkwürdigsten und vielleicht heikelsten Situationen dieser Reise.
Ich lasse mal lieber Dors‘ Erinnerungen sprechen, die er einen Tag später niedergeschrieben hat:

Aussichtsturm bei Langendorf. 29484 Langendorf. https://goo.gl/maps/wQzmkCpjHD12.
Als wir gestern, noch nichts Böses ahnend, den Turm verlassen hatten und uns den Räder näherten, um weiter zu fahren, bemerkten wir ein sonderbares Gefährt, das langsam unter den tief hängenden Zweigen der Bäume heran fuhr. Es erreichte uns ein dreirädriges Liege-Bike mit Anhänger, einem eckigen Alu-Kastenanhänger, auf dem die Nationalitätenkennzeichen mehrerer Länder kleben. Als das Gefährt auf uns zukam, sahen wir einen jungen Mann an Bord, es war ein etwa 35-jähriger hochgewachsener Radfahrer mit nacktem Oberkörper, der uns mit ausgestreckter rechter Hand und etwas müdem „Sieg-Heil“-Ruf begrüßte, wobei er mürrisch vor sich hin blickte. Er zog an uns vorbei und stellte sein Gefährt ab. Henner passte dieser Gruß natürlich ebenso wenig wie mir, aber während ich mich etwas zurückhielt, begann er auf Englisch mit dem Typen ein Gespräch zu suchen. Aber er hat keine Chance, denn der antwortete nur: „fuckoff all your damn generation“. Henners Hinweise auf die politische Haltung unserer Generation wirkten überhaupt nicht. Der Mensch schien einfach einen Lattenschuss zu haben. Er war ganz offensichtlich nur darauf aus zu beleidigen: „fuckoff all you damn nazis“, er sprach ausgerechnet von uns als der Nazi-Generation. Henner ging fast der Draht aus der Mütze, und ich hatte Mühe, ihn zurückzuhalten. Letztlich zogen wir es vor, ihn dort stehen zu lassen und fortzufahren.

Während der Weiterfahrt konnten wir kaum von diesem Typen lassen. Sein Auftritt beschäftigte uns lange Zeit. Wir fragten uns, woher er kam und was hinter seinen abartigen Äußerungen stand. Erst nach Stunden ging er uns langsam aus dem Kopf.

Dors hat recht gehabt, auch mich hat diese vollkommen unerwartete Frechheit und Provokation eines relativ jungen Ausländers noch lange danach beschäftigt. Ich war froh, dass Dors dabei gehabt zu haben, sonst hätte es vielleicht richtig geknallt.

Kurz vor der neuen Elbbrücke bei Dömitz fängt es richtig an zu regnen und wir stellen uns mit in eine Reihe anderer Mitradler in die Unterführung einer im Krieg zerstörten Eisenbahnbrücke. Wenige Meter von uns ist ein Schäfer gerade beschäftigt, die Lämmer auszusortieren und auf einen Anhänger zu verfrachten, ich vermute für die Fahrt zum Schlachthof. Er benutzt dazu eine Beinschlinge und einen Elektroschocker. Ein Lamm ist wohl widerspenstig  („Blödes Arschloch!“). Ich denke an die Lammkoteletts, die mir sonst immer so gut schmecken…

Wir gelangen auf die Bundesstraße 191 und überqueren die Elbe, um uns gleich danach links Richtung Dorfrepublik Rüterberg, wieder relativ nah am Fluss, in einer unberührten Landschaft gen Nord-Westen zu bewegen. Rüterberg befand sich in einer Enklave, in einem an drei Seiten von der Elbe umgebenen 500 Meter-Sperrgebiet. Unzufrieden über das im Oktober gerade ausgetauschte Sicherungstor – wesentlich schwerer in der Ausführung als das vorherige –, verlangten die Einwohner nach einer Bürgerversammlung, die ihnen für den 8. November 1989 gewährt wurde. Bei dieser Zusammenkunft, einen Tag vor der völlig unerwarteten Grenzöffnung, riefen die 90 anwesenden Dorfbewohner nach Schweizer Vorbild eine eigene Republik aus. Eine Sensation für die damaligen politischen Machtverhältnisse, vermute ich. Heute noch sieht man einen Beobachtungsturm, in dem man auch privat übernachten kann, sowie Grenzbefestigungsanlagen am Ausgang des Dorfes.

Die Bevölkerung hat sich mittlerweile stark verändert. Die Frau, die das kleine Café mit selbstgebackenem Kuchen betreibt, ist eine von vielen Menschen aus der alten Bundesrepublik. Oft kommen sie aus Hamburg oder aus Berlin, es hat sie nach der Wende hier in die ehemalige DDR verschlagen, weil das Leben hier ruhiger ist, gut möglich auch, weil viele alte Immobilien mit historischem Flair und großem Renovierungsbedarf preiswert zur Verfügung standen.

Es geht weiter an der Elbe entlang. Wir vermeiden die Fahrt auf dem Deich. Es ist zu windig. Wir haben zu kämpfen und ziehen den gut asphaltierten Weg am Deich vor. Gegen 15.00 Uhr sehen wir am anderen Flussufer Hitzacker, das wir uns eigentlich anschauen wollten. Der Fährbetrieb ist aufgrund des Niedrigwassers der Elbe eingestellt. Pustekuchen. Wir entschließen uns weiterzufahren, zumal wir bisher auch erst knapp 40 km gefahren sind. Im nächsten Ort, besser gesagt bei der nächsten Ansammlung von Gehöften, versuchen wir eine Übernachtung zu bekommen. Wieder Pustekuchen. Es ist Samstag, Wochenende und anscheinend noch Hochsaison. Zwei Gäste empfehlen uns, es doch in Hitzacker zu versuchen, ein Privatmann würde uns mit einem kleinen Boot übersetzen. Der Akku von Dors neigt sich dem Ende zu, also sicher ist sicher, wir fahren zurück. Unserem Gegenüber gelang es, den Fährmann an die Strippe zu bekommen, der – als wir an den Anleger zurückkommen – uns bereits erwartet, und wir lassen uns in einem relativ kleinen Boot, vielleicht 7 x 2 Meter, umgebaut zur Fahrrad- und Fußgängerfähre, von einem hemdsärmeligen Mann übersetzen. Natürlich nur gegen eine Spende, es ist ja kein offizieller Fährbetrieb. Wir sind froh.

In Hitzacker scheint es gerade ein Kultur- oder Musikfestival zu geben. Auf der Insel, der historischen Altstadt, tanzen Männer und Frauen, meist in Trachten, nach mittelalterlichen Klängen. Wir versuchen eine Unterkunft zu finden, es klappt im 2. oder 3. Anlauf etwas außerhalb, in dem Stadtgebiet, wo die „besseren Leute“ wohnen. Ein Bio-Hotel, schon etwas in die Jahre gekommen, aber mit einem vollen Fahrradkeller, Luftkompressor etc. Wir sind froh ein Dach über dem Kopf für diese Nacht zu haben.

Am späten Nachmittag gehen wir zu Fuß in die Stadt, genießen den Blick vom Berg auf die Elbe und schauen uns das Musik-Spektakel in der Innenstadt ein. Ich merke, dass ich nach der langen Zeit im ehemaligen Osten hier plötzlich in einer anderen Welt bin. Die Frauen, in der Mehrzahl 50 plus, sind mit bunten, alternativen,  z. T. altertümlich erscheinenden Designerkleidern ausgestattet. Frau des Chefarztes aus Hamburg mit Freundin in der Kulturprovinz … Es ist mir irgendwie fremd, nicht meine Welt, aber doch irgendwie vertraut. Wie vielfältig ist bisher meine Reise durch die Mitte Deutschlands, entlang der ehemaligen Grenze gewesen, von der hemdsärmeligen Bauerntochter am ersten Abend unserer Reise, die sich zur Betriebsrätin in der Porzellan-Industrie hochgearbeitet hat, bis nun zu den Hamburger Damen aus besseren Häusern …?

Etwas zu essen zu finden ist angesichts der vielen Touristen in der Stadt nicht so einfach. Wir landen schließlich in einem türkischen Imbiss, der proppenvoll ist. Man könnte meinen, dass es hier Freibier gibt. Trotz des Andrangs bedient als einzige Servierkraft die junge Frau hinter dem Tresen mit einer Seelenruhe, in fehlerfreiem, tadellosen Deutsch die lange Schlange der Kunden, während ein Kollege hinten in der Küche Pizzen zubereitet. Das Publikum ist sehr gemischt: von spanischen Austauschstudenten bis hin zum 50jährigen Einheimischen, der sich mit seinem im Rollstuhl sitzenden Vater an einen Tisch setzt. Ich merke, es ist mir alles vertraut, ich bin hier im Westen… Diese Vertrautheit stellt sich auch in der italienischen Eisdiele ein: „due esspressi i due vecchia romagna!“. Wir ziehen uns den italienischen Brandy (mehrere Gläser, so dass zwischenzeitlich der radebrechende Kellner meint, uns an den Preis für ein Glas erinnern zu müssen: „quatro Euro!“) rein und diskutieren über unsere bisherigen Eindrücke, seit Dors wieder zur Grenzgängertour hinzu gestoßen ist. Wir philosophieren über unser Leben und das anderer Menschen. Etwas beschwingt treten wir den Heimweg an und steigen die Treppen auf den Berg hoch.

 

 

Tag 40 (26.08.18): Von Hitzacker nach Zarrentin

Hitzacker, die Musikstadt, am frühen Sonntagmorgen

Fährmann, hol über …!

Denkpyramide in der Nähe von Vockey: Steine aus geschliffenen Häusern

frischer Blumenschmuck in der Schutzhütte mit Infotafeln

Auf dem Elbe-Deich gegenüber von Bleckede: ordentlich Gegenwind

Hinweistafeln zum Grenzverlauf

Das Tor zur Freiheit …?

Sind das niedersächsische Pferdeköpfe oder sachsen-anhaltinische?

Enkel, Vater und Großvater (unischtbar) lassen am Sonntagmorgen einen Drachen steigen: genug Wind ist ja da …

Boizenburg (fast) in Sicht: die Einsamkeit des Fahrradfahrers bei Gegenwind

Boizenburg: Gemälde von Grundschüler/innen

Gedenkstein „Zwölf Apostel“ mit Blick auf die Elbe in Boizenburg

„Checkpoint Harry“ an der ehemaligen F 5 (Transitstrecke Hamburg-Berlin)

Harrys Imbiss: mit „sozialistischen“ Fliesen-Grüßen

Ein letztes, gemeinsames, deftiges Essen (Bratkartoffeln …)

KZ-Außenstelle Neuengamme: ehemalige Küchenbaracke, jetzt Seminarraum

Grenzmuseum bei Leisterförde, errichtet mit Unterstützung von Schüler/innen aus Ost und West

Aufruf zu Protesten gegen Regierung und Staatsmedien vor und nach 1989 …?

A 24: Autobahnraststätte Gudow: lang, lang ist es her, … dass ich sonntagsabends losfuhr…

Zarrentin: Blick auf den Schaalsee in der Abendsonne

Tag 40 (26.08.18): Von Hitzacker nach Zarrentin

KM:  1335 – 1416

Frühstück gibt es erst um acht, eigentlich viel zu spät für Dors, der unter seniler Bettflucht leidet. Kurz vor acht schickt er mir eine WhatsApp, dass er schon oben im FS-Raum auf mich wartet … Im Gegensatz zu gestern ein Frühstück vom Feinsten, frisches Obst etc.  Der Fährmann ist ab 9 Uhr morgens erreichbar. Als wir zur Fährstelle kommen, hat er schon die erste Fuhre mit Fahrrad-Touristen übergesetzt. Wir sind die einzigen Fahr-“Gäste“. Mit dem burschikosen „Du“ kann er was anfangen und erzählt aus seinem Leben: Geboren Anfang der 50er Jahre in der kleinen Enklave, die bis 1945 zur Provinz Hannover gehörte, in der ersten Hälfte der 70er Jahre durch die Elbe geflüchtet, hat er zunächst jahrzehntelang im Westen als Kraftfahrer gearbeitet, nach der Wende das elterliche Gehöft zurück erhalten, es dann verkauft und schließlich ein anderes Gebäude zu seinem Haus hergerichtet. Es ist das pralle ost-west-östliche Leben, aus dem er erzählt. Seine Enkel sagen zu ihm: „Opa, du bist ja ein richtiger Wossi.“ – Diese Worte machen mich nachdenklich. Bin ich nicht auch eigentlich ein Wossi, ein Wanderer zwischen zwei Welten, der an seinem Lebensende zu seinen DDR-Wurzeln zurückkehrt, sich zumindest darüber wieder bewusst wird? Wie hatte Achim in Hohegeiß gesagt? –  „Einmal Ossi, immer Ossi?“

Die wenigen Minuten auf dem Strom vergehen viel zu schnell. Wieder eins der vielen Geschenke auf dieser Reise … Dors fragt fachkundig nach, wie er das mit der Hydraulik der Laderampe hinbekommen hat. „Alles vom Schrott oder aus alten Baumaschinen geholt und zusammengebastelt!“ Wir verabschieden uns und geben ihm eine Spende. Er freut sich. Ich sage zu ihm: „Mach‘s gut und halt die Ohren steif“ – Er erwidert nur: „Ja, das ist aber auch noch das einzige, was steif wird.“ – Mitten aus dem prallen Leben!

Oben auf dem Damm werden wir von vier jungen Männern erwartet. Sie machen sich etwas lustig über unsere E-Bikes. Als sie die bisherigen Stationen der Reise hören, ändert sich ihre Einstellung etwas. Sie sind so zwischen 30 und 40 Jahre alt, sind zu Fuß unterwegs und haben die Nacht im Zelt auf einer Elbwiese verbracht. In den Westen sind sie dabei nicht abgehauen, ist ja heute auch nicht mehr notwendig. Irgendwie erinnere ich mich an meine eigenen Touren, als ich noch jünger war: die Nacht im Weinberg auf der Insel Elba, total zerstochen von Mücken, oder später, als ich schon in Herford lebte, die Nacht auf einer Ruine in der Nähe von Rinteln während der Rucksackwanderung im Weserbergland von Porta Westfalica nach Hameln. Lang ist es her und kommt auch nicht wieder zurück …

Es ist klar: Dors wird (leider) heute wieder nach Ostwestfalen zurückfahren. Ich muss sehen, dass ich die gestern nicht gefahrenen Kilometer nachhole. Es ist immer noch windig. Wir bewundern die Fahrradfahrer, die mit Gepäck und ohne Akku-Unterstützung elbabwärts fahren. Ab und zu, wenn wir auf dem Deich fahren müssen, haben wir einen herrlichen Blick auf die Elbe und die angrenzenden, mittlerweile wieder saftig grünen Wiesen. Ein bayrisches Musketier kommt uns mit seinem Mountain-Bike und wenig Gepäck entgegen. Breite Reifen und volles Rohr voraus. Mit Rückenwind zum Glück. Er macht so ca. 100 km am Tag, so lange es flach ist, vermute ich.

Bei Bleckede ist die Fähre auch nicht in Betrieb. Wir fahren weiter nach Boizenburg, das keinen besonderen Charme verbreitet. Dors will nach Lauenburg und dann von dort mit der Bahn zurück fahren. Oberhalb der Werft geht es bergauf aus der Stadt heraus. An der Straße bzw. dem Fahrradweg sind von Schüler/innen zu unterschiedlichen Themen bemalte Stellwände zu sehen. Sie rufen zu Vielfalt, Toleranz und Frieden auf. Ich freue mich. Auf der Höhe angekommen, machen wir Pause und sehen eine Gedenktafel und einen Gedenkstein für in den letzten Jahren umgekommene KZ-Häftlinge, die in der Werft arbeiten mussten und in einem Außenlager des KZ-Neuengamme untergebracht waren.

In Richtung Lauenburg kommen wir nach wenigen Minuten zum ehemaligen Grenzübergang an der Fernstraße 4, der Interzonen-Straßenverbindung zwischen Hamburg und West-Berlin, genauer gesagt an der ersten Kontrolle ca. 5 Km vor dem eigentlichen Übergang. Ein kleiner Grenzturm mit ein paar Info-Tafeln, die sich im Erdgeschoss befinden. Audios bieten einen anschaulichen Eindruck von der Situation an der Grenze. Eine Aufladestation für E-Autos ist in der Nähe, nicht aber für E-Bikes. Wir gehen ins Checkpoint Harry  und fragen nach einer Auflademöglichkeit für unsere Akkus. Kein Problem. Ebenso ein deftiges Mittagessen mit Burgunderbraten, Rotkohl und Salzkartoffeln. Wir schlagen uns im Osten nochmal richtig voll, bevor Dors sich im Westen wieder auf vornehmlich vegetarische Kost umstellt. An den Nachbartischen sitzen wirklich gut genährte Menschen. Ich denke nur an Kotelett mit Sättigungsbeilage in Preisstufe 2 für 2,65 MDN (Mark der Deutschen Notenbank) und das Bier für 43 Pfennige … Welch ein Kontrast zu dem gestrigen Hitzacker-Publikum! Als wir unsere aufgeladenen Akkus wieder aus der Gaststube holen, fallen uns die vielen DDR-Exponate auf, Uniformteile, Fotos, und es ist das erste Mal, dass ich eine Original DDR-Verfassung neben anderen Schriften ausliegen sehe.

Mit einem weinenden Auge nehme ich Abschied von Dors und gehe dann über die Straße in die ehemalige Küchenbaracke des KZ-Außenlagers. Die Museumsaufsicht erzählt mir stolz, wie sie sich im Laufe der Jahre in die Geschichte des Lagers eingearbeitet hat. Bis auf ihren Urlaub ist sie immer am Wochenende hier. Nach der Wende ist in Boizenburg alles platt gemacht worden, kaum noch Fabriken, auf der Hauptstraße ist heute auch nichts mehr los, aber ihren Sohn in Kiel, einen studierten Astro-Physiker, hat sie neulich besucht. Es scheint mir, dass es ihr wie so vielen ehemaligen DDR-Bürgern meiner Generation geht: eine Mischung aus Bedauern über die Verluste nach der Wende und gleichzeitig ein Frohsein über Reisemöglichkeiten und andere ökonomischen und politischen Annehmlichkeiten.

Es ist halb vier und ich werde heute noch bis Zarrentin am Schaalsee fahren, also zwei von Stefan Esser vorgeschlagene Etappen zu einer verbinden. Schließlich habe ich mich ja mit meiner Tochter Elena morgen Abend in Hamburg zum Fußballspiel HSV – Arminia Bielefeld verabredet und mir vorgenommen vorher, Montag, bis Ratzeburg zu kommen. Ich fahre über Nostorf, Schwanheide und Langelehsten Richtung Zarrentin. Ich komme nach Leisterförde, das zum Amt Boizenburg-Land gehört, an einem kleinen Grenzmuseum vorbei, das sehr gut die DDR-Genzanlagen veranschaulicht. Schüler/innen aus Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern haben bei der Errichtung mitgeholfen. An der Eingangstür gibt es einen politisch-pädagogischen Hinweis: Die friedliche Revolution von 1989 habe gezeigt, dass es auch heute darauf ankommt, sich gegen „Regierung und Staatsmedien“ einzusetzen. Ist der Verfasser der Meinung, dass die durch die SED gelenkten DDR-Medien mit den heutigen öffentlich-rechtlichen gleichzusetzen sind? – Spricht hier etwa die AFD?

Als ich die Autobahn A 24 überquere, sehe ich einen Trucker in kurzer Hose und Unterhemd, wie er sich gerade etwas zu essen bruzzelt. Ich erinnere mich an meine Zeit bei der Spedition Koch (Neuss) und meine Zeit als Fernfahrer im Frankreichverkehr. Es war im Dezember 1977. Ich halte auf meiner Rückfahrt von Paris auf der Autobahnraststätte Metz oben auf dem Berg an und kaufe noch ein paar Flaschen Wein in der Tankstelle ein. Als ich nach zehn Minuten zurückkomme, traue ich meinen Augen nicht mehr. Der gesamte Sattelschlepper inklusive vollgeladenem Auflieger stand nicht mehr an seinem Platz. Er war ca. 10 m von alleine auf dem Parkplatz in Richtung Autobahnfahrstreifen zurückgerollt. Ich hatte vergessen, die Handbremse anzuziehen, vielleicht weil mir das Gelände als eben erschien. Zum großen Glück wurde ein Reifen des Sattelschleppers von der Kante einer kleinen Grüninsel gestoppt. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn der herrenlose, vollgeladene Laster weiter auf die Autobahn gerollt wäre! Ich wäre meines Lebens nicht mehr froh geworden. Ein weiteres Mal nach dem Erlebnis mit dem Bären im Zirkus, bei dem ich einen Schutzengel hatte oder wie man es sonst nennen will.

In Zarrentin bin ich zunächst vom Schaalsee in der Abendsonne beeindruckt. Einige Hotels sind schon ausgebucht bzw. zu teuer. Mit Glück finde ich noch eine Unterkunft in einer Gaststätte/Pension, die auch noch den Charme der früheren DDR verströmt. Ein kleiner Einkaufsladen, ein junges, tätowiertes Paar kauft sich gerade große Gummibärchen oder so was Ähnliches, ein Mann noch schnell ein paar Bier für den Abend und im Gastzimmer an der Theke sitzen ein paar Experten, die erstmal blauen Dunst in die Luft pusten. Egal. Ich bin froh, ein sauberes Zimmer zu einem vernünftigen Preis im Anbau bekommen zu haben. Die Speise- und Getränkekarte hat es später in sich: 0,2 l Bier für 1,20 Euro, der Schnaps für 80 Cent. Ich traue meinen Augen nicht und fühle mich in  alte DDR-Zeiten versetzt. Ich bestelle mir ein Bauernfrühstück, der mit einem Riesensalatteller serviert wird, und habe zu kämpfen. Dem Ehepaar aus Oldenburg geht es genauso.

Als ich nach dem Essen noch einen Verdauungsspaziergang am Schaalsee mache und den aufgehenden Mond beobachte, der sich im Wasser spiegelt, merke ich, wie ich irgendwie auf Eiern gehe. Diese Doppeletappe mit ordentlich Gegenwind am Anfang hat es in sich gehabt. 80 KM  sind trotz E-Bike eine Herausforderung. Wieder ein Tag, über den ich froh bin, dass ich ihn erleben durfte.

 

 

Tag 41 (27.08.18): Von Zarrentin nach Ratzeburg (Hamburg)

Klosteranlage Zarrentin

Kreuzgang: Ein Hauch von (Kirchen-) Geschichte

Blick auf den Schaalsee

Palhuus in Zarrentin: Wandfoto

Naturschutzgebiet Techin: auf einsamen Pfaden

NSG Techin: hier geht es wirklich nicht weiter, also zurück ins Dorf..

Schafherde am Grünen Band

Kolonnenweg bei Stintenburg

Brückenhaus auf der Insel Stintenburg: leider geschlossen

Gästehaus Seeblick in Lassahn: „Hausgemacht mit Liebe“

Forsthof Kneese: Bio-Tee, leckerer Kuchen und Goethe-Gedicht an der Wand

Badestelle bei Sandfeld

Ratzeburg: Schreibpause vor der Bäckerei. Bruchlandung

Büchen: Warten auf den nächsten Zug nach HH – Ce mai faceti?

Tag 41 (27.08.18):  Von Zarrentin nach Ratzeburg (Hamburg)

Km: 1416 – 1462

Ich weiß nicht, womit ich es verdient habe, aber ich erhalte mal wieder ein vorzügliches Frühstück. Dabei bekomme ich von der Senior-Chefin für meine Anrede mit „junge Frau!“ einen Elfmeter verpasst. Sie beklagt sich über die vielen staatlichen Auflagen heute, Gewerbeaufsichtsamt, Schornsteinfeger, IHK, GEMA etc. Es würde am Ende des Monates kaum etwas übrig bleiben. Auf meinen Hinweis, dass die Preise mit  z.  B.  1,20 € für ein kleines Bier auch wirklich sehr niedrig seien, antwortet sie mit ihrer Philosphie, dass die Gastwirtschaft für alle da sein sollte, sozusagen eine Kommunikationsmöglichkeit für alle, ob reich oder arm, jung oder alt. Da denke ich mir: wie im englischen Pub in Rochdale, wo wir früher oft eingekehrt sind, wenn wir internationale Projekttreffen dort hatten. Es scheint mir, dass sie noch sehr den alten DDR-Zeiten nachtrauert: die Hütte war immer voll mit den Soldaten der naheliegenden Kaserne. Gutes Fleisch gab es zwar nicht, das ging alles in den Westen, aber die Gäste wurden satt und die Gastwirtschaft lief gut. Heute seien kostspielige Investionen in ein Gästehaus notwendig und dieser heiße Sommer sei schlichtweg eine wirtschaftliche Katastrophe gewesen, weil bei den Temperaturen keiner in ihrem Wirtszimmer, sondern unten am See in der Außengastronomie gesessen habe. Ich verzichte auf die „junge Frau“ und wir verabschieden uns herzlich.

Am Schaalsee, leicht erhöht, liegt das Palhuus, das Informationszentrum des Biosphärenreservats. Es lädt zum Bleiben und Staunen ein, aber ich verzichte aufgrund des Zeitdrucks auf einen längeren Aufenthalt, bekomme von der freundlichen Mitarbeiterin aber noch eine Landkarte geschenkt, die mich bis zur Ostsee begleiten soll.

Ich entscheide mich mal wieder für die harte Tour und versuche, über kleine Trampelpfade entlang des Sees Richtung Norden zu kommen. Es ist alles sehr naturbelassen, bis ich dann doch auf der Landstraße weiter fahren muss, zum Glück mit Fahrradweg. In Techin versuche ich nochmals im ‚Urwald‘, merke aber nach dem dritten querliegenden Baum, dass das Umfahren oder Drüberheben doch keine Dauerlösung für die nächsten zwei Stunden ist. Ich fahre zurück ins Dorf und gelange dann auf die Halbinsel Stintenberg. Eine Brücke dort in den Westen gibt es nicht. Das Café im Brückenhaus ist auch schon seit mehreren Monaten geschlossen. Schade, aber verständlich. Touristen sind kaum zu sehen.

Mittlerweile nieselt es auch schön, der Natur passt das gut und ich kann mal wieder meine rote Regen- und Windjacke anziehen. In Kneese, das zu Sandfeld gehört, halte ich an einer Pension an, einem großen Gebäude, in dem sich früher ein Forsthaus befand, und gehe nach langem Zögern doch herein. Man merkt, es ist alles etwas alternativ ausgestattet, im ursprünglichen Zustand belassen oder auch wieder hergestellt, wie z. B. die Deckenmalerei. Nur im Nachbarraum gibt es ein WLAN. Die freundliche Wirtin kommt aus Hamburg und ist Pauli-Fan, als ich ihr erzähle, dass ich heute Abend noch nach Hamburg zum HSV-Arminia-Spiel will. Der selbstgebackene Kuchen schmeckt sehr gut. Es nieselt zwar noch, aber ich fahre los. Mein Fahrradhelm wird mir hinterher gebracht. Wo war ich bloß mit meinen Gedanken? Forsthaus. Holzweg 56, Heiligenstadt? Die alte Malerin, der ich mit ihrem Hund kurz danach begegne, kommt aus Hamburg und hat dort vor geschätzen „hundert Jahren“ die Kunstschule besucht. Als Hamburgerin, als Wessi, mit den einheimischen Menschen aus Mecklenburg-Vorpommern in Kontakt zu kommen stellt sich seit Jahrzehnten als schwierg dar. Liegt es daran, dass sie aus dem Westen kommt oder Künstlerin ist? – Vielleicht auch beides.

In Dutzow biege ich ab und überquere den Lankower See. Ich bin wieder im Westen und begebe mich später dann parallel zur B 208 nach Ratzeburg. Netto und Penny lassen grüßen. In einem kleinen angeschlossenen Bäckerladen leiste ich mir eine Tasse Kaffee mit Milch und ein Stück Kuchen (Angebot für 1,99 €). Draußen hole ich mein Notebook heraus und versuche, mit meinem Tagebuch voranzukommen. Eine ältere Frau im Rollstuhl setzt sich zu mir. Ich hole ihr auch eine Tasse Kaffee. Eine weitere ältere, wohl kranke Frau wird von einem Kranken-Taxi mit ihrem Einkauf abgeholt.

Beim nächsten Stück Kuchen, das ich mir hole, übersehe ich draußen die Bordsteinkante und lege mich der ganzen Länge nach hin. Kommentar der Frau im Rollstuhl: „Da haben Sie aber wirklich Glück gehabt.“. Sie hat recht. Es wäre fatal gewesen, zwei Tage vor der geplanten Ankunft an der Ostsee die Reise wegen einer Verletzung abrechen zu müssen … Ich schreibe weiter.

Die Fahrt bis zum Bahnhof in Ratzeburg zieht sich hin. Eine Ausländerin mit Kind nickt nur bei der Frage, wo der Bahnhof ist. Die Richtung sei richtig. Es regnet mittlerweile und ich kann den Ratzeburger See nicht wirklich genießen. Die Bahnfahrt nach Hamburg führt mich zuerst Richtung Süden, nach Buchen. Die nächste Station ist Mölln, das mich an den schrecklichen Brandanschlag auf ein von einer türkischen Familie bewohntes Haus im Jahr 1992 erinnert. Mehrere Tote. Ein Fanal, gegen die fremdenfeindliche und rassistische Verblendung von Einzelnen aufzustehen. Rostock-Lichtenhagen 1991 und die damaligen Brandanschläge unter dem Gejohle der Anwohner waren ein Vorläufer, in Solingen sollte sich kurze Zeit danach dieses feige und menschen verachtende Vorgehen wiederholen.

In Buchen verpasse ich den planmäßigen Zug nach Hamburg um wenige Sekunden. Ein hagerer, südländischer Mann zieht die Schultern hoch und vermittelt mir: „Da haben wir wohl Pech gehabt.“ – Ich nicke. Eine ganze Stunde warten und es regnet. Das Wartehäuschen auf dem Bahnsteig bietet einen gewissen Schutz gegen den Regen. Der Mann und ich kommen in ein Gespräch. „De unde sunteti?“ – Also Rumänien, aus einer Stadt, durch die Ellen und ich 2015 auf dem Rückweg von Moldawien gefahren sind. Er lebt mit seiner Familie in Hamburg und arbeitet auf einer Baustelle (constructia) in Ratzeburg. Ich mache mir so meine Gedanken über den Empfang von Sozialhilfe und der gleichzeitigen Ausbeutung als illegal Beschäftigter einer Sub-Sub-Firma …

Mein Fahrrad mit Gepäck zieht Aufmerkmerksamkeit auf sich. Eine Frau um die 50 erzählt mir davon, wie sie mit ihrem Mann im Verlauf eines Jahres einmal um die Welt gereist ist. Das Fahrrad immer dabei, in Kanada, USA, Australien etc. weite Strecken darauf zurückgelegt. Ob die beiden in Ulan Bataar in der Mongolei auch Galsan Tschinag als Führer hatten, können wir nicht mehr ganz feststellen. Galsan, der Schamane seines Stammes, der Tuwiner, ist Chamisso-Preisträger und hat eine enorme Sprachgewalt mit seinen vielen Veröffentlichungen in deutscher Sprache entwickelt. Ich hatte 1994 bei meiner Bahn-Rückreise mit der Transsib von China Gelegenheit, mit ihm zusammen seinen Stamm in der mongolischen Steppe zu besuchen. Es ist interessant ihren Erlebnissen zuzuhören, ebenso wie dem Mann Anfang 30, der jetzt gerade von einer dreimonatigen Nordeuropa-Fahrradreise zurückkommt und Freunde in Hamburg besucht. 6.500 km, bis zum Polarkreis mit kaum Gepäck, draußen übernachtet. Nur die Harten kommen in den Garten …

Als ich in Hamburg aus dem Zug steige, merke ich wieder den Unterschied zwischen der alten Bundesrepublik und den neuen Bundesländern, zwischen  Westen und Osten. Es ist nicht nur das Großstadtgewusel, sondern beeindruckend sind vor allem die Menschen aus aller Herren Länder, ich fühle mich wie ein Fisch, der im Wasser schwimmt, habe keine Berührungsängste, vielleicht weil ich auch früher als Student viel getrampt bin, später dann insgesamt fünf Jahre im Ausland gelebt, studiert und gearbeitet habe (UdSSR, USA, Moldawien). Irgendwie habe ich im Laufe der Jahrzehnte gelernt, Menschen nicht nur nach ihrer Hautfarbe, Kleidung und Sprache zu beurteilen, sondern nach ihrem Verhalten. Das heißt nicht, das mir bei dem Macho-Gehabe von einigen ausländischen Jugendlichen nicht der Hut hoch geht und ich nicht entsprechend reagiere, wenn z. B. eine Frau mittleren Alters von einem ca. 20-jährigen Migranten im angemacht wird. Seiner Ausrede, es sei doch nur freundlich gemeint gewesen, habe ich im Herforder Aa-Wiesen-Park klar und eindeutig widersprochen und ihm gesagt, dass er das in Zukunft sein lassen solle.

Elena holt mich vor SATURN  am Hamburger Hauptbahnhof ab und wir fahren mit dem Fahrrad zu ihr nach Hause. Es geht insgesamt fast genau so schnell wie mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Zu dritt, unter Mithilfe von Stefan, ihrem Freund, tragen wir die beiden Fahrräder und mein Gepäck in den 2. Stock in ihre Wohnung. Es wird ein wenig eng, aber so sind die Fahrräder sicher.

Noch gerade rechtzeitig kommen wir zum Fußballspiel ins HSV-Stadion. Für den Arminia-Block haben wir keine Plätze mehr bekommen, aber fast direkt daneben. Instinktiv gebe ich meinem Sitznachbarn, einem jungen Mann mit Migrationshintergrund die Hand und setze mich neben die Gruppe der HSV-Supporter. Das Spiel selbst ist nach dem Fehler des Arminia-Torwarts in der 9. Minuten schnell erzählt: bemüht, aber unter dem Strich eine 0:3-Klatsche bekommen. Was mir allerdings auffällt ist, dass die türkisch-deutschen (?) Jungs nicht nur gut drauf waren, sondern in der Halbzeit im Gegensatz zu Stefan und mir kein Bier, sondern nur Cola tranken. Den Schlüssel des neuen Mercedes hat einer von ihnen als Siegestrophäe um den Hals gehängt. Aus Frust habe ich den etwas schwergewichtigen, älteren HSV-Fan nach Spielschluss die Hand gedrückt und ihn etwas aus dem Gleichgewicht gebracht. Ja, man kann’s halt nicht lassen.
Zuhause will Elena mir noch Gute Nacht sagen, aber ich liege schon auf dem Schlafsofa und bin eingenickt. Komaschlafen … Erst um halb zwei kann ich mich wirklich aufraffen, aufzustehen, mich auszuziehen und ins Bett zu legen. Ich merke, dass ich wirklich auf der letzten Rille fahre … Es wird Zeit, dass ich bald an der Ostsee ankomme.
Morgens erinnere ich mich nur an einen wirren Traum.

Tag 42 (28.08.18): Von Ratzeburg (Hamburg) nach Dassow

Bahnhof Ratzeburg: Elena bereit zum Starten

Ratzeburg: historisches Ruder- und Segelboot

Ratzeburg: gemeinsames Warten

Ratzeburger Dom

Ratzeburger Dom: Innenhof

Blick auf den Ratzeburger See

Grenzmuseum Schlagsdorf

Neueröffnung: Schwalbe Werkstatt

Grenzmuseum Schlagsdorf: Außengelände

Schön renovierte Fachwerkhäuser in MeckPomm

Selbstgemachte Marmeladen von Märry für einen Euro

Lübeck in Sicht

Grenzsäule in Lübeck-Herrnburg

Grenzübergang Lübeck-Herrnburg: genau 1.500 KM bisher

Naturschutzgebiet Stepenitz- und Maurine-Niederung

Naturschutzgebiet Stepenitz- und Maurine-Niederung: ein ruhiges Plätzchen für ein Nickerchen

Tag 42 (28.08.18):  Von Ratzeburg (Hamburg) nach Dassow

Km: 1462 – 1526

Um sieben Uhr ist die Nachtruhe vorbei. Schnell noch ein kurzes Frühstück und dann wieder das ganze Gepäck inklusive der zwei E-Bikes die zwei Treppen runter getragen und unten vor der Tür alles wieder schön verzurrt. Elena hat einen großen Rucksack dabei. Das ist etwas leichter.  Nach einer knappen Viertelstunde durch Hamburger Grünanlagen und gut ausgebaute Fahrradwege kommen wir zum Bahnhof. In letzter Minute schaffen wir noch unseren Regionalzug Richtung Buchen. Umsteigen klappt ohne Probleme, ca. gegen halb zehn sind wir dann in Ratzeburg. Nur diesmal regnet es nicht in Strömen.

Zum Glück gibt es gegenüber dem Bahnhof eine Bäckerei – was hat man nur früher gemacht, als es noch diese Vielzahl der Außengastronomie, Backshops, Bistros etc. gab? Der Cappucino weckt meine Lebensgeister. Eigentlich war es keine gute Idee, gestern meine Reise am Grünen Band zu unterbrechen und in die Großstadt zu fahren, obwohl es ein Erlebnis war, mit Elena und Stefan ins HSV-Stadion zu gehen. Irgendwie ist die Luft raus und ich muss mich wieder neu motivieren – das Ziel, die Ostsee, das Ende der Tour ist in Sichtweite.

Unten auf der Insel sehen wir ein historisches Segel- bzw. Ruderboot mit entsprechender Besatzung. Fotografieren? Kein Problem. Kurze Zeit danach kommt schon die Klasse, die das Schiff für den heutigen Tag gebucht hat, anmarschiert. Ich versuche herauszukriegen, wer die Lehrperson ist, und erinnere mich an die vielen Klassenfahrten, die ich im Laufe der Jahrzehnte gemacht habe, z. B. nach Rom, nach Kroatien oder ins frühere KZ Auschwitz. Es war immer eine große Erleichterung, wenn nichts passiert ist, alle munter und gesund geblieben sind und man auf der Rückfahrt in aller Ruhe ein Bier trinken konnte. Ein bisschen wehmütig schaue ich der Schulklasse beim Ablegen des Bootes hinterher, freue mich aber auch, dass ich in den letzten Jahren noch die Möglichkeit hatte, Flüchtlinge im Fach Deutsch im Beruf zu unterrichten. Einmal Pädagoge, immer Pädagoge.

Elena und ich beschließen, uns den Ratzeburger Dom anzuschauen, ein imposantes Gebäude aus dem 12. Jahrhundert. Irgendwie habe ich immer das Bedürfnis, in einer mir fremden Stadt in die Kirche zu gehen, ganz egal ob katholisch, evangelisch, oder in anderen Ländern z. B. in orthodoxe oder muslimische Gotteshäuser. Da, wo es möglich ist, stecke ich immer drei Kerzen an. Wir beide sind sehr beeindruckt von der Größe der Kirche, dem einfallenden Licht und der Orgel sowie auch von dem Kreuzgang.

Parallel zum Ratzeburger See fahren wir an schönen Häusern vorbei nach Bäk, um dann nach einigem Hin und Her nach Schlagsdorf ins Grenzhus, einem Museum mit angeschlossenem Außengelände, zu kommen. Für mich ist es geschätzt wohl das zehnte Grenz-Museum, das ich auf meiner Reise besuche, während Elena, die das Jahr 1989 als Kleinkind nicht mehr in Erinnerung hat, schon immer mal in dieses Museum gehen wollte.

Am Eingang diskutieren lautstark und deutlich hörbar einige Besucher/innen aus den neuen Bundesländern die Flüchtlingsproblematik, beschweren sich über neue Wohnungen, die Migranten und nicht die deutsche, einheimische Bevölkerung bekommen hätten. Es wird auf Frau Merkel geschimpft. Sie an die Wand zu stellen, wie in der Nähe von Osterwieck gefordert, so weit geht es nicht. Ich frage mich, was die Gründe für diesen oft hervortretenden Sozialneid sind. Oder mache ich es mir zu einfach? Ach ja, der tödliche Messerangriff auf einen Deutschen mit kubanischen Wurzeln in Chemnitz, begangen vor zwei Tagen von Asylbewerbern, ist wohl der Auslöser. Die weit verbreiteten Ängste innerhalb der Bevölkerung sowohl in den neuen als auch in den alten Bundesländern sollten meiner Meinung nach Ernst genommen und die Täter bestraft werden, allerdings von Gerichten und nicht von einem Mob, der meint, er sei ‚das Volk‘.

Die Ausstellung scheint nach modernen museumsdidaktischen Gesichtspunkten zusammen gestellt zu sein, auch das Außengelände ist ein Ort zum Nachdenken, steht allerdings auch nicht im ausgesprochenen Kontrast zu der Tatsache, dass viele DDR-Bürger aus dem Grenzgebiet, mit denen ich gesprochen habe, im Großen und Ganzen zufrieden mit ihrem Leben, das auch gute Seiten hatte, waren. Es scheint, dass in dem Ort ein Straßenname aus sozialistischen Zeiten überlebt hat: „Neubauer Straße“. Ergebnis der Landreform, Enteignung der Großgrundbesitzer im Jahre 1946. In einem Gebäude auf der anderen Straßenseite wird gerade eine Werkstatt für den DDR-Motorroller Schwalbe eingerichtet. Es scheint „in“ zu sein, sich mit alten DDR-Fahrzeugen fortzubewegen. Vielleicht auch ein Stück Wiedererlangung der verloren gegangenen Heimat oder der eigenen Lebensbiographie …?

Über Utecht und Schattin mit schönem Ausblick auf den Ratzeburger See fahren wir gen Norden nach Herrnburg. Vor der Kirche beratschlagen wir das weitere Vorgehen. Ein Frau mittleren Alters auf der anderen Seite der Straße frage ich, wie weit es noch in den Westen sei. Ungläubig, widerwillig, gibt sie mir zur Antwort, dass es den nicht mehr gebe. Nach Lübeck seien es noch wenige Kilometer. Kurz vor der Grenze bekommen wir aber von einer älteren Frau, die auf dem Fahrrad unterwegs ist, bereitwillig Auskunft: „ Da vorne gleich, da sehen Sie auch ein Schild.“ Glück gehabt.

Nach Lübeck reinfahren möchte ich nicht mehr. Dort war ich mit Elena schon vor zwei Jahren und habe neben dem Buddenbrookhaus, in dem die Geschichte der Familie Thomas und Heinrich Mann dargestellt wird,  das Willi-Brandt-Museum besucht. Willy Brandt hatte für mich in den Sechziger Jahren als ehemaliger Widerstandskämpfer, Emigrant und Vertreter einer neuen Ostpolitik eine hohe moralisch-politische Ausstrahlung, weshalb ich auch wenige Monate vor der Bundestagswahl 1969 noch als Zeitsoldat in die SPD eingetreten bin. Allerdings fand ich es mehr als bedauerlich, dass er im Januar 1972 den so genannten Radikalenerlass als Bundeskanzler unterzeichnet hat. Ein Grund für mich in Darmstadt 500 Unterschriften dagegen zu sammeln, aus Protest  aus der SPD auszutreten und mich dem Marxistischen Studentenbund, der der DKP nahe stand, anzuschließen. Willi Brandt hatte den Radikalenerlass später selbst als politischen Fehler angesehen. Damit war aber die nachrichtendienstliche Überprüfung von 450.000 Bewerber/innen für dem Öffentlichen Dienst, seien es nun Lehrer, Postbeamte oder Putzfrauen, in der Zeit von 1973 bis 1975 verbunden. Von 1972 bis zur endgültigen Abschaffung im Jahr 1985 insgesamt 3,5 Millionen. Es stimmte mich traurig, dass in der Ausstellung dazu kein Wort zu finden war. Schade.

Nachdem wir kurz über der Grenze im Westen waren, ging es wieder in den Osten zurück. Na ja, große äußerliche Unterschiede gibt es wohl nicht, außer vielleicht dass direkt hinter der früheren deutsch-deutschen Grenze in Herrnburg schöne Neubaugebiete entstanden sind, in denen nun wohl nicht wenige Lübecker wohnen. Über Lüdersdorf und Schönberg wollen wir nach Dassow, also so nah an die Ostseeküste wie möglich, damit wir uns am Morgen nicht abhetzen brauchen. In Schönberg fragen wir mal wieder eine ältere Frau nach dem Weg nach Dassow. Ungläubig hören sich die Frau und ihre Tochter die Geschichte meiner Reise an, geben uns dann aber einen guten Hinweis, wie wir über ein Naturschutzgebiet in den Ortsteil Holm gelangen können. Sie bedauern, uns nicht zu einem Getränk einladen zu können. Sie haben noch eine Familienfeier. Als ich ihnen mein Alter sage, fordert die Tochter uns auf, gleich ihre 78-jährige Mutter vorne in einen Fahrradkorb zu setzen und mitzunehmen. Anscheinend ist die Mutter wohl auch noch sehr unternehmenslustig.

Die Fahrt nach Dassow/Holm zieht sich in die Länge. Zwischendurch, bei einem leichten Anstieg, packt mich noch mal der Ehrgeiz und ich trete richtig in die Pedalen. Als Elena mich wieder einholt, sage ich ihr, dass das natürlich Blödsinn von mir war. Ich meine, wohl immer noch zwanzig, dreißig, vierzig oder fünfzig Jahre alt zu sein. Die Zeiten des Sich-Beweisens, des Erfolgsstrebens, des Gegen-Sich-Hartseins sollten doch so langsam an der Schwelle zum achten Lebensjahrzehnt vorbei sein.  Oder? Ich sag nur Männer, alte Männer. Und in derselben Nacht bezahle ich dafür …

Im Naturschutzgebiet in der Nähe von Groß- und Klein-Bünsdorf machen wir auf einer Bank eine Pause. Es ist sechs, eine friedliche Stimmung. Die Stimmung ist so friedlich, dass ich erstmal einen zehnminütigen Erholungsschlaf mache. Ich merke, dass ich echt auf der letzten Rille fahre … Elena hat Verständnis dafür, dass ich nicht so kommunikativ bin.

Das Hotel Jägerhof in Holm versprüht gerade keinen so großen Charme. Wir sind froh, es nach langem Suchen überhaupt gefunden zu haben. Es ist wohl eher, wie der Name schon sagt, auch auf Waidleute ausgerichtet. Die Zimmer im barackenähnlichen Anbau sind sauber, aber schlicht. Unsere beiden Fahrräder nehmen wir sicherheitshalber mit in die Zimmer, zwar wird es nun eng, aber sicher ist sicher. Das Essen ist dafür wieder schmackhaft, ob nun vegetarisch für Elena oder ein Mecklenburger Rippenbraten mit Backpflaumen für mich. Die dicke Soße gibt mir aber den Rest. Ich bin groggy. Mit der Unterhaltung ist es bei mir nicht mehr weit her. Ich finde das am letzten Abend meiner Reise schade, zumal meine Tochter mich begleitet. Und ich hätte uns eigentlich ein gediegeneres Ambiente, so wie ich es während dieser Reise öfters vorgefunden habe, gewünscht.

Um neun gehen wir schlafen. Um viertel nach zwölf wache ich vor Schmerzen auf, mal wieder ein Krampf im rechten Bein! Ich könnte vor Schmerzen schreien, darf es aber nicht, weil Elena im Nachbarzimmer schläft und ich sie nicht wach machen will. Es werden harte zehn Minuten, bis ich wieder einschlafen kann. Die Strafe folgt (fast) auf dem Fuße …

Ich bin nur froh, dass es morgen geschafft ist …

Tag 43 (29.08.18): Von Dassow nach Priwall / Travemünde (Ostsee) – Ende der Grenzgaengertour 2018

ohne Worte …, pure Emotionen …Ende der Reise

Dassow-Holm: Start in den letzten Tag

typisches Backsteinhaus in Dassow

auf den letzten (Kilo-) Metern

Gut Volkstorf: Wo sind die Bauarbeiter?

Ein letztes Mal: Naturschutzgebiet am Grünen Band

Gut Volkstorf: Torbogen

Blick in den Westen (Travemünde)

NSG bei Pötenitz: die wirklich letzte (kleine) Herausforderung

Bei Priwall: Land in Sicht – die letzten Meter …

Geschafft: Von Ost nach West und zurück … Nach 1541 Kilometern und 43 Tagen: eine deutsch-deutsche Fahrradreise.

Vater und Tochter freuen sich gemeinsam

ohne Worte …, pure Emotionen …                 Ende.

—- Ich hoffe, das Lesen und Bilder Anschauen hat Spaß gemacht! —-

Tag 43 (29.08.18): Von Dassow nach Priwall / Travemünde (Ostsee)   –   Ende

Km: 1526-1541

Heute ist der letzte Tag meiner Grenzgängertour 2018. Um acht Uhr frühstücken wir, ich ein letztes Mal auf dieser Reise. Ich erzähle von meinen Schmerzen in der Nacht. Elenas Matratze hatte auch schon bessere Zeiten erlebt. Beim Frühstück frage ich Elena nach ihren bisherigen Eindrücken, die trotz der Schwierigkeiten mit der Unterkunft durchweg positiv sind, vor allem der gestrige Besuch des Grenzmuseums in Schlagsdorf. Ich fange mal wieder an über deutsche Teilung, Nachkriegsgeschichte, Mauerbau 1961, Wendezeit zu dozieren und bin mir nicht sicher, ob ich über ihren Kopf hinweg rede.

Auf der Bundestraße 105 müssen wir eine kurze Strecke ohne Fahrradweg fahren. Ich hoffe, dass hier auf den letzten ‚gefährlichen‘ Metern nichts passiert.  Glück gehabt, wie so an manchen Stellen während der Fahrradtour, an denen der Autoverkehr mir doch etwas zu nahe gekommen ist.

In Dassow biegen wir kurz von der Hauptstraße ab, um einen Blick auf die Kirche zu werfen. Geschlossen. Dafür kommen wir aber mit einem Rentner ins Gespräch, der auf den Hufschmied wartet, der aus Lübeck herüber kommen soll. Seit mehr als vierzig Jahre lebt er schon alleine, die Ehe ist geschieden worden.  Er gehört wohl auch der Generation an, die möglicherweise im Innersten ihres Herzens der „guten, alten“ DDR-Zeit nachhängt. Wie so oft auf dieser Reise höre ich, dass vor 1989 ja auch nicht alles schlecht gewesen sei, alle genug zu essen gehabt hätten und, na ja, mit den Bananen und Apfelsinen wäre es halt etwas schwierig gewesen. Er erzählt eine Flüchtlingsgeschichte: ein Republikflüchtling sei durch Travemünder Fischer, auf einem Stein im Wasser sitzend, gerettet worden. Der Sohn sei bei der Bundeswehr als Zeitsoldat gewesen. Das wäre ja auch im Vergleich zu seiner eigenen Zeit als Wehrpflichtiger bei der DDR-Armee nichts Richtiges gewesen, viel zu lasch … Ein Lübecker Auto hält an, sein Besuch kommt.

Der Weg nach Priwall, der Endstation meiner nun mehr als sechswöchigen Reise entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze, ist gut ausgeschildert. In Johannstorf biegen wir aber von der Landstraße ab und fahren über Feld- und Waldwege nach Volkstorf, wo gerade ein ehemaliges adliges, imposantes Gutsgebäude (Schloss Johannstorf) außen renoviert wird. Von Bauarbeitern ist nichts zu sehen. Es scheint, als ob die Zeit stehen geblieben ist.

Nach Volkstorf mit teilweise schönen, neuen Häusern mit Blick auf den Dassower See fahren wir über abgeerntete Felder und haben den Westen, das Ziel schon fest im Blick. Ein letztes Mal geht es durch einen etwas urwaldähnlichen Wald auf einem schmalen Trail voran. Die Spannung steigt. Bald ist das Ziel erreicht. Wir lassen Pötenitz rechts liegen und sehen plötzlich die Ostsee vor uns. Ein schmaler Strandweg führt direkt darauf zu. Die Kamera wird ausgepackt, eine paar (vorletzte) Bilder gemacht. Elena holt ihr Handy raus und filmt uns beide auf dem Weg zum Strand. Beim Schieben der Fahrräder durch den Sand ans Wasser merken wir, dass wir an einem FKK-Strand gelandet sind. Ich hoffe nur, wir stören hier nicht zu sehr …

Ich ziehe meine lange Hose aus und wate in das etwas steinige Ostseewasser, bis ich sandigen Boden unter meinen Füßen habe und ein paar Runden schwimmen kann. Im Westen sehe ich Travemünde. Ein großes Fährschiff kommt gerade rein. Ein junges Pärchen macht freundlicherweise ein paar Erinnerungsfotos von uns bzw. von mir.
1.541 Kilometer in exakt 100 Stunden Fahrzeit haben am 43. Tag meiner Reise ihr glückliches Ende gefunden. Sechs Wochen sind eine lange Zeit….

Ich lasse ein letztes Mal die unterschiedlichen Stationen, die Menschen, die Gespräche, die Landschaften, die Grenzanlagen, den Brocken, das Eichsfeld Revue passieren. Ich empfinde Freude, dass alles gut gegangen ist bei mir und meinen Begleiter/innen, eine große Dankbarkeit dafür, dass ich diese mich sehr bewegende Reise durch die deutsch-deutsche Geschichte und damit auch meine eigene Lebensgeschichte machen durfte. Vielleicht ist es auch ein wenig Stolz, dass ich die körperlichen Anstrengungen und psychischen Herausforderungen wenige Monate vor meinem 70. Geburtstag gut und zehn Jahre nach einer schrecklichen medizinischen Diagnose überstanden habe. Ich hole die zwei Fläschen Sekt aus der Packtasche, die ich wohlweislich schon vor einigen Tagen gekauft habe. Es geht wie bei der Siegerfeier der Formel 1 zu. Wir bespritzen uns mit dem Rotkäppchen-Sekt aus dem NETTO in Ratzeburg. Auch der Rest von Bernhard Fahrigs selbstgebrautem Wildkirschen-Schnaps muss dran glauben.

Wir setzen uns an den Dünenrand in den Sand. Mein Blick geht von Ost nach West und zurück, zu den Möwen, die über mir fliegen. Elena holt das Handy heraus und fragt mich: „Papa, wie war deine Reise insgesamt, erzähl doch mal …!“
Ich spreche ein letztes Mal über meine Motivation für diese Reise, die Erlebnisse, die vielen positiven und sehr wenigen negativen, die Freude und Dankbarkeit …, die nächsten Pläne. Zwischendurch stocke ich, es kommen mir ab und an Tränen der Erleichterung …

Es ist geschafft!