Tag 39 (25.08.18): Von Gorleben nach Hitzacker
Tag 39 (25.08.18): Von Gorleben nach Hitzacker
Km: 1285 – 1335
Das Frühstück ist etwas lieblos zusammengestellt. Brot gibt es aus der großen Plastiktüte. Dors meint, es kommt aus einem panimaju-po-russki Laden. Egal, wir werden freundlich aufgefordert, uns doch ein Lunchbrot mitzunehmen. Ich bin mit dem Wirt allein und verstehe endlich, weshalb die großen Holzfässer, in denen man übernachten kann, die Namen Diego und Dante tragen. Gestern hatte ich noch gefragt, ob er Werder Bremen Fan sei, was verneint wurde. Heute erfahre ich, dass seine kubanisch-deutschen Söhne so heißen, die gestern so richtig schön auf dem Trampolin etc. gespielt haben. Wir sprechen über die kubanische Realität, die wohl doch etwas anders als die kubanische Touristen-Realität aussieht.
Von den Protesten gegen das Atommüll-Zwischenlager hält der Wirt nichts, so nach dem Motto: die Grünen kriegen ja noch nicht mal mehr als drei Jahre Regierungstätigkeit gebacken … Wir packen unsere Sachen und fahren dann doch zum Atommüll-Zwischenlager. Nach einmal Fragen in einem kleinen Industriegebiet haben wir die richtige Landstraße gefunden und stehen in gebührendem Abstand vor einem großen Eingangstor mit Pförtner-Häuschen und großen quadratischen Industriegebäuden. Es ist halb zehn Uhr morgens, es nieselt ein wenig. Dem Pförtner winke ich zu, so nach dem Motto „Guten Morgen“, und er winkt zurück. Wie Revoluzzer, die gleich zum Sturm ansetzen, sehen wir wirklich nicht aus, eher wohl wie zwei alte Männer, die an die Stätten ihrer politisch-ökologischen Aktivitäten vor 30 bis 40 Jahren zurückkommen … Die Fahrräder haben keine Kennzeichen, er kann keine Daten weitergeben … und auch beim Gastwirt brauchten wir keine persönlichen Angaben hinterlassen -cash in de tesch, vielleicht?
Ein paar hundert Meter weiter befindet sich die Beluga, ein großes Greeenpeace-Aktionsschiff, als Blickfang aufgebahrt in Sichtweite des zweiten Lagers, in dem sich auch der Salzstock befindet. „Nein, Besichtigungen könne man schon seit 3 Jahren nicht mehr machen“, sagt uns der Pförtner am Eingang zum Salzstock, aber ein paar Schritte weiter am Zaun sei eine Infotafel angebracht. Wir ziehen es vor, uns die umfangreichen Infotafeln in der Nähe des Protest-Schiffes anzuschauen. Wie jung war Angela Merkel als Bundesumweltministerin eigentlich? In der offenen Holzhütte finden wir weitere Infos und an einem Baum befindet sich ein kleines Hinweisschild, dass sich jeden Sonntag um 13 Uhr Umweltaktivisten zu einem gemeinsamen Spaziergang hier treffen. Ich bin nun froh, dass wir uns die eine Stunde Zeit für diesen Umweg auf unserer Route entlang der Elbe genommen habe. Ich spüre hier wieder bundesrepublikanische Geschichte, den Hauch der Anti-Atom-Proteste der 80er und 90er Jahre, die an mir irgendwie vorbei gegangen sind, weil ich wohl schon zu sehr darauf bedacht war, meine historischen Forschungen über die Nazi-Zeit abzuschließen, beruflich Fuß zu fassen und eine Familie zu gründen, nach all den bis dahin unruhigen Jahren in ruhigeres, auch ökonomisch besser abgesichertes Fahrwasser zu gelangen. Aktives Gewerkschaftsmitglied und zeitweiliger Personalrat, Mitglieder der VVN-Bund der Antifaschisten: Ja, aber ansonsten bin ich politisch gesehen etwas auf Tauchstation gegangen. Vielleicht angesichts der weit verbreiteten Lehrerarbeitslosigkeit, den damit verbundenen sozialen und materiellen Ängsten Anfang der achtziger Jahre sowie den 1983, 1987 und 1989 geborenen Kindern verständlich.
Auf dem Weg nach Langendorf kommen wir an einem etwa zehn Meter hohen Aussichtsturm vorbei, den wir besteigen und von dem man eine herrliche Aussicht über das Biosphärenreservat Elbe, das Wendland und die Altmark hat. Als wir wieder losfahren wollen, kommt es zu einer der merkwürdigsten und vielleicht heikelsten Situationen dieser Reise.
Ich lasse mal lieber Dors‘ Erinnerungen sprechen, die er einen Tag später niedergeschrieben hat:
Aussichtsturm bei Langendorf. 29484 Langendorf. https://goo.gl/maps/wQzmkCpjHD12.
Als wir gestern, noch nichts Böses ahnend, den Turm verlassen hatten und uns den Räder näherten, um weiter zu fahren, bemerkten wir ein sonderbares Gefährt, das langsam unter den tief hängenden Zweigen der Bäume heran fuhr. Es erreichte uns ein dreirädriges Liege-Bike mit Anhänger, einem eckigen Alu-Kastenanhänger, auf dem die Nationalitätenkennzeichen mehrerer Länder kleben. Als das Gefährt auf uns zukam, sahen wir einen jungen Mann an Bord, es war ein etwa 35-jähriger hochgewachsener Radfahrer mit nacktem Oberkörper, der uns mit ausgestreckter rechter Hand und etwas müdem „Sieg-Heil“-Ruf begrüßte, wobei er mürrisch vor sich hin blickte. Er zog an uns vorbei und stellte sein Gefährt ab. Henner passte dieser Gruß natürlich ebenso wenig wie mir, aber während ich mich etwas zurückhielt, begann er auf Englisch mit dem Typen ein Gespräch zu suchen. Aber er hat keine Chance, denn der antwortete nur: „fuckoff all your damn generation“. Henners Hinweise auf die politische Haltung unserer Generation wirkten überhaupt nicht. Der Mensch schien einfach einen Lattenschuss zu haben. Er war ganz offensichtlich nur darauf aus zu beleidigen: „fuckoff all you damn nazis“, er sprach ausgerechnet von uns als der Nazi-Generation. Henner ging fast der Draht aus der Mütze, und ich hatte Mühe, ihn zurückzuhalten. Letztlich zogen wir es vor, ihn dort stehen zu lassen und fortzufahren.
Während der Weiterfahrt konnten wir kaum von diesem Typen lassen. Sein Auftritt beschäftigte uns lange Zeit. Wir fragten uns, woher er kam und was hinter seinen abartigen Äußerungen stand. Erst nach Stunden ging er uns langsam aus dem Kopf.
Dors hat recht gehabt, auch mich hat diese vollkommen unerwartete Frechheit und Provokation eines relativ jungen Ausländers noch lange danach beschäftigt. Ich war froh, dass Dors dabei gehabt zu haben, sonst hätte es vielleicht richtig geknallt.
Kurz vor der neuen Elbbrücke bei Dömitz fängt es richtig an zu regnen und wir stellen uns mit in eine Reihe anderer Mitradler in die Unterführung einer im Krieg zerstörten Eisenbahnbrücke. Wenige Meter von uns ist ein Schäfer gerade beschäftigt, die Lämmer auszusortieren und auf einen Anhänger zu verfrachten, ich vermute für die Fahrt zum Schlachthof. Er benutzt dazu eine Beinschlinge und einen Elektroschocker. Ein Lamm ist wohl widerspenstig („Blödes Arschloch!“). Ich denke an die Lammkoteletts, die mir sonst immer so gut schmecken…
Wir gelangen auf die Bundesstraße 191 und überqueren die Elbe, um uns gleich danach links Richtung Dorfrepublik Rüterberg, wieder relativ nah am Fluss, in einer unberührten Landschaft gen Nord-Westen zu bewegen. Rüterberg befand sich in einer Enklave, in einem an drei Seiten von der Elbe umgebenen 500 Meter-Sperrgebiet. Unzufrieden über das im Oktober gerade ausgetauschte Sicherungstor – wesentlich schwerer in der Ausführung als das vorherige –, verlangten die Einwohner nach einer Bürgerversammlung, die ihnen für den 8. November 1989 gewährt wurde. Bei dieser Zusammenkunft, einen Tag vor der völlig unerwarteten Grenzöffnung, riefen die 90 anwesenden Dorfbewohner nach Schweizer Vorbild eine eigene Republik aus. Eine Sensation für die damaligen politischen Machtverhältnisse, vermute ich. Heute noch sieht man einen Beobachtungsturm, in dem man auch privat übernachten kann, sowie Grenzbefestigungsanlagen am Ausgang des Dorfes.
Die Bevölkerung hat sich mittlerweile stark verändert. Die Frau, die das kleine Café mit selbstgebackenem Kuchen betreibt, ist eine von vielen Menschen aus der alten Bundesrepublik. Oft kommen sie aus Hamburg oder aus Berlin, es hat sie nach der Wende hier in die ehemalige DDR verschlagen, weil das Leben hier ruhiger ist, gut möglich auch, weil viele alte Immobilien mit historischem Flair und großem Renovierungsbedarf preiswert zur Verfügung standen.
Es geht weiter an der Elbe entlang. Wir vermeiden die Fahrt auf dem Deich. Es ist zu windig. Wir haben zu kämpfen und ziehen den gut asphaltierten Weg am Deich vor. Gegen 15.00 Uhr sehen wir am anderen Flussufer Hitzacker, das wir uns eigentlich anschauen wollten. Der Fährbetrieb ist aufgrund des Niedrigwassers der Elbe eingestellt. Pustekuchen. Wir entschließen uns weiterzufahren, zumal wir bisher auch erst knapp 40 km gefahren sind. Im nächsten Ort, besser gesagt bei der nächsten Ansammlung von Gehöften, versuchen wir eine Übernachtung zu bekommen. Wieder Pustekuchen. Es ist Samstag, Wochenende und anscheinend noch Hochsaison. Zwei Gäste empfehlen uns, es doch in Hitzacker zu versuchen, ein Privatmann würde uns mit einem kleinen Boot übersetzen. Der Akku von Dors neigt sich dem Ende zu, also sicher ist sicher, wir fahren zurück. Unserem Gegenüber gelang es, den Fährmann an die Strippe zu bekommen, der – als wir an den Anleger zurückkommen – uns bereits erwartet, und wir lassen uns in einem relativ kleinen Boot, vielleicht 7 x 2 Meter, umgebaut zur Fahrrad- und Fußgängerfähre, von einem hemdsärmeligen Mann übersetzen. Natürlich nur gegen eine Spende, es ist ja kein offizieller Fährbetrieb. Wir sind froh.
In Hitzacker scheint es gerade ein Kultur- oder Musikfestival zu geben. Auf der Insel, der historischen Altstadt, tanzen Männer und Frauen, meist in Trachten, nach mittelalterlichen Klängen. Wir versuchen eine Unterkunft zu finden, es klappt im 2. oder 3. Anlauf etwas außerhalb, in dem Stadtgebiet, wo die „besseren Leute“ wohnen. Ein Bio-Hotel, schon etwas in die Jahre gekommen, aber mit einem vollen Fahrradkeller, Luftkompressor etc. Wir sind froh ein Dach über dem Kopf für diese Nacht zu haben.
Am späten Nachmittag gehen wir zu Fuß in die Stadt, genießen den Blick vom Berg auf die Elbe und schauen uns das Musik-Spektakel in der Innenstadt ein. Ich merke, dass ich nach der langen Zeit im ehemaligen Osten hier plötzlich in einer anderen Welt bin. Die Frauen, in der Mehrzahl 50 plus, sind mit bunten, alternativen, z. T. altertümlich erscheinenden Designerkleidern ausgestattet. Frau des Chefarztes aus Hamburg mit Freundin in der Kulturprovinz … Es ist mir irgendwie fremd, nicht meine Welt, aber doch irgendwie vertraut. Wie vielfältig ist bisher meine Reise durch die Mitte Deutschlands, entlang der ehemaligen Grenze gewesen, von der hemdsärmeligen Bauerntochter am ersten Abend unserer Reise, die sich zur Betriebsrätin in der Porzellan-Industrie hochgearbeitet hat, bis nun zu den Hamburger Damen aus besseren Häusern …?
Etwas zu essen zu finden ist angesichts der vielen Touristen in der Stadt nicht so einfach. Wir landen schließlich in einem türkischen Imbiss, der proppenvoll ist. Man könnte meinen, dass es hier Freibier gibt. Trotz des Andrangs bedient als einzige Servierkraft die junge Frau hinter dem Tresen mit einer Seelenruhe, in fehlerfreiem, tadellosen Deutsch die lange Schlange der Kunden, während ein Kollege hinten in der Küche Pizzen zubereitet. Das Publikum ist sehr gemischt: von spanischen Austauschstudenten bis hin zum 50jährigen Einheimischen, der sich mit seinem im Rollstuhl sitzenden Vater an einen Tisch setzt. Ich merke, es ist mir alles vertraut, ich bin hier im Westen… Diese Vertrautheit stellt sich auch in der italienischen Eisdiele ein: „due esspressi i due vecchia romagna!“. Wir ziehen uns den italienischen Brandy (mehrere Gläser, so dass zwischenzeitlich der radebrechende Kellner meint, uns an den Preis für ein Glas erinnern zu müssen: „quatro Euro!“) rein und diskutieren über unsere bisherigen Eindrücke, seit Dors wieder zur Grenzgängertour hinzu gestoßen ist. Wir philosophieren über unser Leben und das anderer Menschen. Etwas beschwingt treten wir den Heimweg an und steigen die Treppen auf den Berg hoch.