Tag 36 (22.08.18): Von Oebisfelde nach Salzwedel
Tag 36 (22.08.16): Von Oebisfelde nach Salzwedel
Km: 1125 –1196
Halb acht Frühstück, Dors sei Dank. Habe mich mittlerweile daran gewöhnt, früh aufzustehen. Manchmal schreibe ich nach dem Frühstück noch ein paar Zeilen für das Tagebuch, komme dann erst so gegen 10 Uhr morgens los, aber im Prinzip hänge ich immer mehrere Tage hinterher. Abends bin ich in der Regel zu kaputt. Ein Glück, dass seit dem Harz die große Hitze vorbei ist.
In einem Landhandel versuche ich einen neuen Fahrrad-Ständer zu bekommen. Die Auswahl ist nicht groß und außerdem müsste erst die abgebrochene Schraube ausgebohrt und vielleicht auch das Gewinde nachgeschnitten werden. Ich will unbedingt zum Bahnhof Oebisfelde, weil ich meine, einige Male über diesen Zug-Grenzübergang gefahren zu sein, oder war es bei meinen Bahnfahrten doch Helmstedt/Marienborn. Am Bahnhof kommen wir mit einem freundlichen, gesprächsbereiten Bundesbahner in Kontakt. Er kennt sich gut aus, hat in der 2. Hälfte der 80er Jahre TUI-Reisezüge mit Urlauber/innen von Westdeutschland nach Polen auf der Ostseite begleitet. Zu damaligen Zeiten eine besondere Auszeichnung, in solchen Zügen eingesetzt zu werden. Es ging ihm gut vor, während und nach der Wende. Auch wohl dadurch, dass er die Möglichkeit hatte, Wohneigentum zu renovieren und zu vermieten. Hinzu kam, dass er nahtlos von der Reichsbahn in ein Bundesbahn-Beschäftigungsverhältnis übernommen wurde.
Angesprochen auf die unterschiedlichen Mentalitäten, den unterschiedlichen Arbeitsethos, den ich bereits mit Thomas in Gerstungen diskutiert habe, bestätigt er die Ansicht, dass ehemalige DDR-Reichsbahner eine größere Bereitschaft zeigen, in Vertretungsfragen einzuspringen. Hinzu kommt, dass mittlerweile in Hannover auch Ossis Fahrdienstleiter seien. Ein weiteres persönliches Detail: In seiner Jugend in den siebziger Jahren als 15- und 16-Jähriger sei er mit Kumpels öfters bei Brome zu seiner Tante in den Westen schwarz über die Grenze gegangen und … auf demselben Weg unter dem Zaun zurückgekehrt.
Wir fahren durch den Naturpark Drömling und sind begeistert von der Schwanen-Familie, die mit ihrem Nachwuchs in Reih und Glied wie an einer Perlenschnur aufgereiht, langsam, aber zielstrebig Fersengeld gibt, als wir sie in einem Kanal beobachten. Das relativ ursprünglich belassene Sumpfgebiet wird durch mittlerweile oft ausgetrocknete Gräben durchzogen. Ein Bauer mit seinem Traktor überholt uns.
Kurz vor 13 Uhr kommen wir in Klötze an einer Bäckerei vorbei („alles noch selbst gemacht“), die bis um ein Uhr geöffnet hat. Eine Viertelstunde bleibt uns noch. Mit Müh und Not bekommen wir einen Capuccino. Auf die Frage, wie weit es noch bis zum „Westen“ sei, bekomme ich von der Mittvierzigerin eine schnippische Antwort: „Weiß ich nicht, ich komme nicht von hier, wohne in 20 Km Entfernung.“ Der Elfmeter hat gesessen. Die 1,5-Liter-Flasche Wasser wird mir dann aber doch vollgefüllt. Eine ältere Dame, vermutlich die Seniorchefin, beäugt uns misstrauisch, ebenso ihr Sohn, der Bäcker.
In Böckwitz gibt es ein Landwirtschafts- und Grenzmuseum. Der Museums-Mitarbeiter, Mitte 50, HSV-Fan, weiß zwar nichts von der Fan-Freundschaft zwischen HSV und Arminia Bielefeld, dafür fand er das Leben in der früheren DDR in Ordnung. „Uns ging es gut, wir hatten genug zu essen und zu trinken.“ Eigentlich ist ab 13 Uhr das Museum geschlossen, aber wir dürfen uns umsehen. Eintritt jeweils drei Euro, ohne Karte. Er trinkt seinen Kaffee unter der Remise und unterhält sich bereitwillig mit uns über die gute, alte DDR-Zeit und die arbeitsmäßigen Verwerfungen in den 90er Jahren.
Wir fahren vielleicht dreihundert Meter weiter und merken es kaum: ein Ortsschild. Zicherie. Wir sind wieder im Westen, in Niedersachsen. So schnell und unkompliziert kommt man heute, nahezu drei Jahrzehnte nach der Öffnung der Grenzen, von West nach Ost und zurück. Wenn man bedenkt, dass hier die Häuser, die Menschen in Ost und West vielleicht 50 bis 100 Meter durch Mauer und Grenzzäune jahrzehntelang getrennt waren! Was hat diese Teilung in den Köpfen und Herzen der Menschen bewirkt?
In Brome suchen wir die kleine Enklave, die von DDR-Seite in das Gebiet der Bundesrepublik hereinragte. Wir finden sie, Wendischbrome, allerdings nicht das Haus des Eisenbahners aus Oebisfelde, der angab, von dort immer seiner Tante im Westen zugewunken zu haben. Vielleicht haben wir es auch nicht richtig verstanden …
Ziel für heute ist das niedersächsische Schnega. Es geht weiter über Nettgau Richtung Norden. Es ist mal wieder warm am frühen Nachmittag. Wir irren ein wenig durch sandige bzw. kopsteingeplasterte Feldwege umher und kommen gegen drei nachmittags in ein ganz kleines Dorf, Hanum, das durch seine imposante Kirche bestimmt wird. Es gibt eine bäuerliche Pension. Es ist drei Uhr nachmittags. Ich bin kaputt, habe keine Lust mehr. Dors ist noch relativ fit und wir entscheiden uns, im nächsten Ort eine Pension, ein Gasthaus zu suchen. Wir merken gar nicht, dass es nur wenige hundert Meter bis in den Westen sind. Der ehemalige Osten hat uns gefangen, ist einfach für uns als 4/4 – oder 3/4 Wessis viel interessanter.
Pustekuchen. Im nächsten Ort, in Jübar, sind zwei Gasthäuser, eins davon, „Zur Linde“, ist zum Glück geöffnet. Wir gehen in die „Linde“ hinein und bekommen erstmal was zu trinken. Ich bestelle für mich eine große Flasche Wasser und einen Apfelsaft. Schnell ausgetrunken. Dors versucht es mit einem großen Alsterwasser. Eine Übernachtungsmöglichkeit haben sie leider nicht, aber WLAN, was uns weiter hilft. Na ja, der sächsisch-anhaltinische Ministerpräsident hat vor kurzem hier übernachten können, aber er war auch angemeldet und hat mit den Unternehmern des Landkreises einen netten, informativen Abend verbracht … Nach dem 10. vergeblichen Telefonanruf, z. T. mit Unterstützung der freundlichen Gastleute, entscheiden wir uns, es im relativ weit entfernten Salzwedel zu versuchen. Erfolgreich, aber es sind noch knappe 30 Km bis dorthin.
28 Km laut Navi ist eigentlich gar keine Entfernung mehr für uns, mit E-Bike unter Einberechnung einer kurzen Pause ca. eineinhalb Stunden Fahrzeit. Wir fahren in ein Dorf nach Dors‘ Navi. Eine Frau fährt plötzlich hinterher und warnt uns, dass dieser Feldweg für Fahrräder nur sehr schlecht befahrbar sei. Dors und ich, wir schauen uns verdutzt, sprachlos an und bedanken uns bei dieser wildfremden Frau aus der Altmark.
Der Rest ist schnell erzählt: Wir spulen in dem etwas welligen Gelände mit den sehr großen Ackerflächen unsere Kilometer runter, zumeist und zum Glück auf Fahrradwegen . Über Elleneberg, Wallstawe und Eversdorf geht es Richtung Salzwedel. An einem der vielen Kriegerdenkmäler – es scheint, dass die Namenstafeln alle noch nicht so alt sind, also erst nach der Wende (wieder) angebracht – unter einem Baum mache wir eine letzte Pause: Wasser, Studentenfutter und Feigen, die Dors mitgebracht hat. Tut gut und gibt verbrauchte Energie zurück. Die Akkus reichen wahrscheinlich auch noch so (knapp). In Salzwedel befindet sich das Hotel einige Kilometer südlich der Stadt, wenige Meter von einer großen Kreuzung entfernt. Tankstelle inbegriffen. Das Essen schmeckt gut, im Hotel.