Tag 42 (28.08.18): Von Ratzeburg (Hamburg) nach Dassow
Tag 42 (28.08.18): Von Ratzeburg (Hamburg) nach Dassow
Km: 1462 – 1526
Um sieben Uhr ist die Nachtruhe vorbei. Schnell noch ein kurzes Frühstück und dann wieder das ganze Gepäck inklusive der zwei E-Bikes die zwei Treppen runter getragen und unten vor der Tür alles wieder schön verzurrt. Elena hat einen großen Rucksack dabei. Das ist etwas leichter. Nach einer knappen Viertelstunde durch Hamburger Grünanlagen und gut ausgebaute Fahrradwege kommen wir zum Bahnhof. In letzter Minute schaffen wir noch unseren Regionalzug Richtung Buchen. Umsteigen klappt ohne Probleme, ca. gegen halb zehn sind wir dann in Ratzeburg. Nur diesmal regnet es nicht in Strömen.
Zum Glück gibt es gegenüber dem Bahnhof eine Bäckerei – was hat man nur früher gemacht, als es noch diese Vielzahl der Außengastronomie, Backshops, Bistros etc. gab? Der Cappucino weckt meine Lebensgeister. Eigentlich war es keine gute Idee, gestern meine Reise am Grünen Band zu unterbrechen und in die Großstadt zu fahren, obwohl es ein Erlebnis war, mit Elena und Stefan ins HSV-Stadion zu gehen. Irgendwie ist die Luft raus und ich muss mich wieder neu motivieren – das Ziel, die Ostsee, das Ende der Tour ist in Sichtweite.
Unten auf der Insel sehen wir ein historisches Segel- bzw. Ruderboot mit entsprechender Besatzung. Fotografieren? Kein Problem. Kurze Zeit danach kommt schon die Klasse, die das Schiff für den heutigen Tag gebucht hat, anmarschiert. Ich versuche herauszukriegen, wer die Lehrperson ist, und erinnere mich an die vielen Klassenfahrten, die ich im Laufe der Jahrzehnte gemacht habe, z. B. nach Rom, nach Kroatien oder ins frühere KZ Auschwitz. Es war immer eine große Erleichterung, wenn nichts passiert ist, alle munter und gesund geblieben sind und man auf der Rückfahrt in aller Ruhe ein Bier trinken konnte. Ein bisschen wehmütig schaue ich der Schulklasse beim Ablegen des Bootes hinterher, freue mich aber auch, dass ich in den letzten Jahren noch die Möglichkeit hatte, Flüchtlinge im Fach Deutsch im Beruf zu unterrichten. Einmal Pädagoge, immer Pädagoge.
Elena und ich beschließen, uns den Ratzeburger Dom anzuschauen, ein imposantes Gebäude aus dem 12. Jahrhundert. Irgendwie habe ich immer das Bedürfnis, in einer mir fremden Stadt in die Kirche zu gehen, ganz egal ob katholisch, evangelisch, oder in anderen Ländern z. B. in orthodoxe oder muslimische Gotteshäuser. Da, wo es möglich ist, stecke ich immer drei Kerzen an. Wir beide sind sehr beeindruckt von der Größe der Kirche, dem einfallenden Licht und der Orgel sowie auch von dem Kreuzgang.
Parallel zum Ratzeburger See fahren wir an schönen Häusern vorbei nach Bäk, um dann nach einigem Hin und Her nach Schlagsdorf ins Grenzhus, einem Museum mit angeschlossenem Außengelände, zu kommen. Für mich ist es geschätzt wohl das zehnte Grenz-Museum, das ich auf meiner Reise besuche, während Elena, die das Jahr 1989 als Kleinkind nicht mehr in Erinnerung hat, schon immer mal in dieses Museum gehen wollte.
Am Eingang diskutieren lautstark und deutlich hörbar einige Besucher/innen aus den neuen Bundesländern die Flüchtlingsproblematik, beschweren sich über neue Wohnungen, die Migranten und nicht die deutsche, einheimische Bevölkerung bekommen hätten. Es wird auf Frau Merkel geschimpft. Sie an die Wand zu stellen, wie in der Nähe von Osterwieck gefordert, so weit geht es nicht. Ich frage mich, was die Gründe für diesen oft hervortretenden Sozialneid sind. Oder mache ich es mir zu einfach? Ach ja, der tödliche Messerangriff auf einen Deutschen mit kubanischen Wurzeln in Chemnitz, begangen vor zwei Tagen von Asylbewerbern, ist wohl der Auslöser. Die weit verbreiteten Ängste innerhalb der Bevölkerung sowohl in den neuen als auch in den alten Bundesländern sollten meiner Meinung nach Ernst genommen und die Täter bestraft werden, allerdings von Gerichten und nicht von einem Mob, der meint, er sei ‚das Volk‘.
Die Ausstellung scheint nach modernen museumsdidaktischen Gesichtspunkten zusammen gestellt zu sein, auch das Außengelände ist ein Ort zum Nachdenken, steht allerdings auch nicht im ausgesprochenen Kontrast zu der Tatsache, dass viele DDR-Bürger aus dem Grenzgebiet, mit denen ich gesprochen habe, im Großen und Ganzen zufrieden mit ihrem Leben, das auch gute Seiten hatte, waren. Es scheint, dass in dem Ort ein Straßenname aus sozialistischen Zeiten überlebt hat: „Neubauer Straße“. Ergebnis der Landreform, Enteignung der Großgrundbesitzer im Jahre 1946. In einem Gebäude auf der anderen Straßenseite wird gerade eine Werkstatt für den DDR-Motorroller Schwalbe eingerichtet. Es scheint „in“ zu sein, sich mit alten DDR-Fahrzeugen fortzubewegen. Vielleicht auch ein Stück Wiedererlangung der verloren gegangenen Heimat oder der eigenen Lebensbiographie …?
Über Utecht und Schattin mit schönem Ausblick auf den Ratzeburger See fahren wir gen Norden nach Herrnburg. Vor der Kirche beratschlagen wir das weitere Vorgehen. Ein Frau mittleren Alters auf der anderen Seite der Straße frage ich, wie weit es noch in den Westen sei. Ungläubig, widerwillig, gibt sie mir zur Antwort, dass es den nicht mehr gebe. Nach Lübeck seien es noch wenige Kilometer. Kurz vor der Grenze bekommen wir aber von einer älteren Frau, die auf dem Fahrrad unterwegs ist, bereitwillig Auskunft: „ Da vorne gleich, da sehen Sie auch ein Schild.“ Glück gehabt.
Nach Lübeck reinfahren möchte ich nicht mehr. Dort war ich mit Elena schon vor zwei Jahren und habe neben dem Buddenbrookhaus, in dem die Geschichte der Familie Thomas und Heinrich Mann dargestellt wird, das Willi-Brandt-Museum besucht. Willy Brandt hatte für mich in den Sechziger Jahren als ehemaliger Widerstandskämpfer, Emigrant und Vertreter einer neuen Ostpolitik eine hohe moralisch-politische Ausstrahlung, weshalb ich auch wenige Monate vor der Bundestagswahl 1969 noch als Zeitsoldat in die SPD eingetreten bin. Allerdings fand ich es mehr als bedauerlich, dass er im Januar 1972 den so genannten Radikalenerlass als Bundeskanzler unterzeichnet hat. Ein Grund für mich in Darmstadt 500 Unterschriften dagegen zu sammeln, aus Protest aus der SPD auszutreten und mich dem Marxistischen Studentenbund, der der DKP nahe stand, anzuschließen. Willi Brandt hatte den Radikalenerlass später selbst als politischen Fehler angesehen. Damit war aber die nachrichtendienstliche Überprüfung von 450.000 Bewerber/innen für dem Öffentlichen Dienst, seien es nun Lehrer, Postbeamte oder Putzfrauen, in der Zeit von 1973 bis 1975 verbunden. Von 1972 bis zur endgültigen Abschaffung im Jahr 1985 insgesamt 3,5 Millionen. Es stimmte mich traurig, dass in der Ausstellung dazu kein Wort zu finden war. Schade.
Nachdem wir kurz über der Grenze im Westen waren, ging es wieder in den Osten zurück. Na ja, große äußerliche Unterschiede gibt es wohl nicht, außer vielleicht dass direkt hinter der früheren deutsch-deutschen Grenze in Herrnburg schöne Neubaugebiete entstanden sind, in denen nun wohl nicht wenige Lübecker wohnen. Über Lüdersdorf und Schönberg wollen wir nach Dassow, also so nah an die Ostseeküste wie möglich, damit wir uns am Morgen nicht abhetzen brauchen. In Schönberg fragen wir mal wieder eine ältere Frau nach dem Weg nach Dassow. Ungläubig hören sich die Frau und ihre Tochter die Geschichte meiner Reise an, geben uns dann aber einen guten Hinweis, wie wir über ein Naturschutzgebiet in den Ortsteil Holm gelangen können. Sie bedauern, uns nicht zu einem Getränk einladen zu können. Sie haben noch eine Familienfeier. Als ich ihnen mein Alter sage, fordert die Tochter uns auf, gleich ihre 78-jährige Mutter vorne in einen Fahrradkorb zu setzen und mitzunehmen. Anscheinend ist die Mutter wohl auch noch sehr unternehmenslustig.
Die Fahrt nach Dassow/Holm zieht sich in die Länge. Zwischendurch, bei einem leichten Anstieg, packt mich noch mal der Ehrgeiz und ich trete richtig in die Pedalen. Als Elena mich wieder einholt, sage ich ihr, dass das natürlich Blödsinn von mir war. Ich meine, wohl immer noch zwanzig, dreißig, vierzig oder fünfzig Jahre alt zu sein. Die Zeiten des Sich-Beweisens, des Erfolgsstrebens, des Gegen-Sich-Hartseins sollten doch so langsam an der Schwelle zum achten Lebensjahrzehnt vorbei sein. Oder? Ich sag nur Männer, alte Männer. Und in derselben Nacht bezahle ich dafür …
Im Naturschutzgebiet in der Nähe von Groß- und Klein-Bünsdorf machen wir auf einer Bank eine Pause. Es ist sechs, eine friedliche Stimmung. Die Stimmung ist so friedlich, dass ich erstmal einen zehnminütigen Erholungsschlaf mache. Ich merke, dass ich echt auf der letzten Rille fahre … Elena hat Verständnis dafür, dass ich nicht so kommunikativ bin.
Das Hotel Jägerhof in Holm versprüht gerade keinen so großen Charme. Wir sind froh, es nach langem Suchen überhaupt gefunden zu haben. Es ist wohl eher, wie der Name schon sagt, auch auf Waidleute ausgerichtet. Die Zimmer im barackenähnlichen Anbau sind sauber, aber schlicht. Unsere beiden Fahrräder nehmen wir sicherheitshalber mit in die Zimmer, zwar wird es nun eng, aber sicher ist sicher. Das Essen ist dafür wieder schmackhaft, ob nun vegetarisch für Elena oder ein Mecklenburger Rippenbraten mit Backpflaumen für mich. Die dicke Soße gibt mir aber den Rest. Ich bin groggy. Mit der Unterhaltung ist es bei mir nicht mehr weit her. Ich finde das am letzten Abend meiner Reise schade, zumal meine Tochter mich begleitet. Und ich hätte uns eigentlich ein gediegeneres Ambiente, so wie ich es während dieser Reise öfters vorgefunden habe, gewünscht.
Um neun gehen wir schlafen. Um viertel nach zwölf wache ich vor Schmerzen auf, mal wieder ein Krampf im rechten Bein! Ich könnte vor Schmerzen schreien, darf es aber nicht, weil Elena im Nachbarzimmer schläft und ich sie nicht wach machen will. Es werden harte zehn Minuten, bis ich wieder einschlafen kann. Die Strafe folgt (fast) auf dem Fuße …
Ich bin nur froh, dass es morgen geschafft ist …