Tag 41 (27.08.18): Von Zarrentin nach Ratzeburg (Hamburg)
Tag 41 (27.08.18): Von Zarrentin nach Ratzeburg (Hamburg)
Km: 1416 – 1462
Ich weiß nicht, womit ich es verdient habe, aber ich erhalte mal wieder ein vorzügliches Frühstück. Dabei bekomme ich von der Senior-Chefin für meine Anrede mit „junge Frau!“ einen Elfmeter verpasst. Sie beklagt sich über die vielen staatlichen Auflagen heute, Gewerbeaufsichtsamt, Schornsteinfeger, IHK, GEMA etc. Es würde am Ende des Monates kaum etwas übrig bleiben. Auf meinen Hinweis, dass die Preise mit z. B. 1,20 € für ein kleines Bier auch wirklich sehr niedrig seien, antwortet sie mit ihrer Philosphie, dass die Gastwirtschaft für alle da sein sollte, sozusagen eine Kommunikationsmöglichkeit für alle, ob reich oder arm, jung oder alt. Da denke ich mir: wie im englischen Pub in Rochdale, wo wir früher oft eingekehrt sind, wenn wir internationale Projekttreffen dort hatten. Es scheint mir, dass sie noch sehr den alten DDR-Zeiten nachtrauert: die Hütte war immer voll mit den Soldaten der naheliegenden Kaserne. Gutes Fleisch gab es zwar nicht, das ging alles in den Westen, aber die Gäste wurden satt und die Gastwirtschaft lief gut. Heute seien kostspielige Investionen in ein Gästehaus notwendig und dieser heiße Sommer sei schlichtweg eine wirtschaftliche Katastrophe gewesen, weil bei den Temperaturen keiner in ihrem Wirtszimmer, sondern unten am See in der Außengastronomie gesessen habe. Ich verzichte auf die „junge Frau“ und wir verabschieden uns herzlich.
Am Schaalsee, leicht erhöht, liegt das Palhuus, das Informationszentrum des Biosphärenreservats. Es lädt zum Bleiben und Staunen ein, aber ich verzichte aufgrund des Zeitdrucks auf einen längeren Aufenthalt, bekomme von der freundlichen Mitarbeiterin aber noch eine Landkarte geschenkt, die mich bis zur Ostsee begleiten soll.
Ich entscheide mich mal wieder für die harte Tour und versuche, über kleine Trampelpfade entlang des Sees Richtung Norden zu kommen. Es ist alles sehr naturbelassen, bis ich dann doch auf der Landstraße weiter fahren muss, zum Glück mit Fahrradweg. In Techin versuche ich nochmals im ‚Urwald‘, merke aber nach dem dritten querliegenden Baum, dass das Umfahren oder Drüberheben doch keine Dauerlösung für die nächsten zwei Stunden ist. Ich fahre zurück ins Dorf und gelange dann auf die Halbinsel Stintenberg. Eine Brücke dort in den Westen gibt es nicht. Das Café im Brückenhaus ist auch schon seit mehreren Monaten geschlossen. Schade, aber verständlich. Touristen sind kaum zu sehen.
Mittlerweile nieselt es auch schön, der Natur passt das gut und ich kann mal wieder meine rote Regen- und Windjacke anziehen. In Kneese, das zu Sandfeld gehört, halte ich an einer Pension an, einem großen Gebäude, in dem sich früher ein Forsthaus befand, und gehe nach langem Zögern doch herein. Man merkt, es ist alles etwas alternativ ausgestattet, im ursprünglichen Zustand belassen oder auch wieder hergestellt, wie z. B. die Deckenmalerei. Nur im Nachbarraum gibt es ein WLAN. Die freundliche Wirtin kommt aus Hamburg und ist Pauli-Fan, als ich ihr erzähle, dass ich heute Abend noch nach Hamburg zum HSV-Arminia-Spiel will. Der selbstgebackene Kuchen schmeckt sehr gut. Es nieselt zwar noch, aber ich fahre los. Mein Fahrradhelm wird mir hinterher gebracht. Wo war ich bloß mit meinen Gedanken? Forsthaus. Holzweg 56, Heiligenstadt? Die alte Malerin, der ich mit ihrem Hund kurz danach begegne, kommt aus Hamburg und hat dort vor geschätzen „hundert Jahren“ die Kunstschule besucht. Als Hamburgerin, als Wessi, mit den einheimischen Menschen aus Mecklenburg-Vorpommern in Kontakt zu kommen stellt sich seit Jahrzehnten als schwierg dar. Liegt es daran, dass sie aus dem Westen kommt oder Künstlerin ist? – Vielleicht auch beides.
In Dutzow biege ich ab und überquere den Lankower See. Ich bin wieder im Westen und begebe mich später dann parallel zur B 208 nach Ratzeburg. Netto und Penny lassen grüßen. In einem kleinen angeschlossenen Bäckerladen leiste ich mir eine Tasse Kaffee mit Milch und ein Stück Kuchen (Angebot für 1,99 €). Draußen hole ich mein Notebook heraus und versuche, mit meinem Tagebuch voranzukommen. Eine ältere Frau im Rollstuhl setzt sich zu mir. Ich hole ihr auch eine Tasse Kaffee. Eine weitere ältere, wohl kranke Frau wird von einem Kranken-Taxi mit ihrem Einkauf abgeholt.
Beim nächsten Stück Kuchen, das ich mir hole, übersehe ich draußen die Bordsteinkante und lege mich der ganzen Länge nach hin. Kommentar der Frau im Rollstuhl: „Da haben Sie aber wirklich Glück gehabt.“. Sie hat recht. Es wäre fatal gewesen, zwei Tage vor der geplanten Ankunft an der Ostsee die Reise wegen einer Verletzung abrechen zu müssen … Ich schreibe weiter.
Die Fahrt bis zum Bahnhof in Ratzeburg zieht sich hin. Eine Ausländerin mit Kind nickt nur bei der Frage, wo der Bahnhof ist. Die Richtung sei richtig. Es regnet mittlerweile und ich kann den Ratzeburger See nicht wirklich genießen. Die Bahnfahrt nach Hamburg führt mich zuerst Richtung Süden, nach Buchen. Die nächste Station ist Mölln, das mich an den schrecklichen Brandanschlag auf ein von einer türkischen Familie bewohntes Haus im Jahr 1992 erinnert. Mehrere Tote. Ein Fanal, gegen die fremdenfeindliche und rassistische Verblendung von Einzelnen aufzustehen. Rostock-Lichtenhagen 1991 und die damaligen Brandanschläge unter dem Gejohle der Anwohner waren ein Vorläufer, in Solingen sollte sich kurze Zeit danach dieses feige und menschen verachtende Vorgehen wiederholen.
In Buchen verpasse ich den planmäßigen Zug nach Hamburg um wenige Sekunden. Ein hagerer, südländischer Mann zieht die Schultern hoch und vermittelt mir: „Da haben wir wohl Pech gehabt.“ – Ich nicke. Eine ganze Stunde warten und es regnet. Das Wartehäuschen auf dem Bahnsteig bietet einen gewissen Schutz gegen den Regen. Der Mann und ich kommen in ein Gespräch. „De unde sunteti?“ – Also Rumänien, aus einer Stadt, durch die Ellen und ich 2015 auf dem Rückweg von Moldawien gefahren sind. Er lebt mit seiner Familie in Hamburg und arbeitet auf einer Baustelle (constructia) in Ratzeburg. Ich mache mir so meine Gedanken über den Empfang von Sozialhilfe und der gleichzeitigen Ausbeutung als illegal Beschäftigter einer Sub-Sub-Firma …
Mein Fahrrad mit Gepäck zieht Aufmerkmerksamkeit auf sich. Eine Frau um die 50 erzählt mir davon, wie sie mit ihrem Mann im Verlauf eines Jahres einmal um die Welt gereist ist. Das Fahrrad immer dabei, in Kanada, USA, Australien etc. weite Strecken darauf zurückgelegt. Ob die beiden in Ulan Bataar in der Mongolei auch Galsan Tschinag als Führer hatten, können wir nicht mehr ganz feststellen. Galsan, der Schamane seines Stammes, der Tuwiner, ist Chamisso-Preisträger und hat eine enorme Sprachgewalt mit seinen vielen Veröffentlichungen in deutscher Sprache entwickelt. Ich hatte 1994 bei meiner Bahn-Rückreise mit der Transsib von China Gelegenheit, mit ihm zusammen seinen Stamm in der mongolischen Steppe zu besuchen. Es ist interessant ihren Erlebnissen zuzuhören, ebenso wie dem Mann Anfang 30, der jetzt gerade von einer dreimonatigen Nordeuropa-Fahrradreise zurückkommt und Freunde in Hamburg besucht. 6.500 km, bis zum Polarkreis mit kaum Gepäck, draußen übernachtet. Nur die Harten kommen in den Garten …
Als ich in Hamburg aus dem Zug steige, merke ich wieder den Unterschied zwischen der alten Bundesrepublik und den neuen Bundesländern, zwischen Westen und Osten. Es ist nicht nur das Großstadtgewusel, sondern beeindruckend sind vor allem die Menschen aus aller Herren Länder, ich fühle mich wie ein Fisch, der im Wasser schwimmt, habe keine Berührungsängste, vielleicht weil ich auch früher als Student viel getrampt bin, später dann insgesamt fünf Jahre im Ausland gelebt, studiert und gearbeitet habe (UdSSR, USA, Moldawien). Irgendwie habe ich im Laufe der Jahrzehnte gelernt, Menschen nicht nur nach ihrer Hautfarbe, Kleidung und Sprache zu beurteilen, sondern nach ihrem Verhalten. Das heißt nicht, das mir bei dem Macho-Gehabe von einigen ausländischen Jugendlichen nicht der Hut hoch geht und ich nicht entsprechend reagiere, wenn z. B. eine Frau mittleren Alters von einem ca. 20-jährigen Migranten im angemacht wird. Seiner Ausrede, es sei doch nur freundlich gemeint gewesen, habe ich im Herforder Aa-Wiesen-Park klar und eindeutig widersprochen und ihm gesagt, dass er das in Zukunft sein lassen solle.
Elena holt mich vor SATURN am Hamburger Hauptbahnhof ab und wir fahren mit dem Fahrrad zu ihr nach Hause. Es geht insgesamt fast genau so schnell wie mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Zu dritt, unter Mithilfe von Stefan, ihrem Freund, tragen wir die beiden Fahrräder und mein Gepäck in den 2. Stock in ihre Wohnung. Es wird ein wenig eng, aber so sind die Fahrräder sicher.
Noch gerade rechtzeitig kommen wir zum Fußballspiel ins HSV-Stadion. Für den Arminia-Block haben wir keine Plätze mehr bekommen, aber fast direkt daneben. Instinktiv gebe ich meinem Sitznachbarn, einem jungen Mann mit Migrationshintergrund die Hand und setze mich neben die Gruppe der HSV-Supporter. Das Spiel selbst ist nach dem Fehler des Arminia-Torwarts in der 9. Minuten schnell erzählt: bemüht, aber unter dem Strich eine 0:3-Klatsche bekommen. Was mir allerdings auffällt ist, dass die türkisch-deutschen (?) Jungs nicht nur gut drauf waren, sondern in der Halbzeit im Gegensatz zu Stefan und mir kein Bier, sondern nur Cola tranken. Den Schlüssel des neuen Mercedes hat einer von ihnen als Siegestrophäe um den Hals gehängt. Aus Frust habe ich den etwas schwergewichtigen, älteren HSV-Fan nach Spielschluss die Hand gedrückt und ihn etwas aus dem Gleichgewicht gebracht. Ja, man kann’s halt nicht lassen.
Zuhause will Elena mir noch Gute Nacht sagen, aber ich liege schon auf dem Schlafsofa und bin eingenickt. Komaschlafen … Erst um halb zwei kann ich mich wirklich aufraffen, aufzustehen, mich auszuziehen und ins Bett zu legen. Ich merke, dass ich wirklich auf der letzten Rille fahre … Es wird Zeit, dass ich bald an der Ostsee ankomme.
Morgens erinnere ich mich nur an einen wirren Traum.