Tag 31 (17.08.18): Von Schierke über den Brocken nach Stapelburg

Brockenstraße: Überquerung der Brockenbahn. Morgens um 5 Uhr

 

Die letzten Meter bis zum Brocken: gleich ist es geschafft!

 

Heinrich-Heine-Denkmal, Blick Richtung Osten: die Sonne geht so langsam auf.

 

Brocken: Sonnenaufgang. Emotion pur um 6 Uhr morgens

 

Fahrrad-Stilleben mit Brockenbahnhof im Hintergrund. 6.15 Uhr

 

Siegerpose in der Morgensonne

 

Frühstück auf dem Brocken: Dank an Bernhard Fahring aus dem Eichsfeld

 

Schönheit der Natur auf dem Brocken

 

Rast- und Schlafplatz: Zeit für ein kurzes Nickerchen. Wo ist das Handy?

 

Blick nach Norden – der größte Teil der Grenzgängertour ist geschafft

 

Scharfenstein, Naturpark Harz – Rangerhütte

 

Blick auf die Eckertalsperre

 

FF = Viel Vergnügen! Nur die Harten kommen in den Garten. – Dem Trekkingfahrer ist nichts zu schwör!

 

Eckertalsperre mit DDR-Grenzpfahl

 

Endlich mal wieder … Ein neuer Fahrradschlauch wird zur Feier des Tages ‚geopfert‘.

 

Endlich – zum ersten Mal auf der Reise ist es (fast) richtig flach.

 

Tag 31 (17.08.18):   Von Schierke  über den Brocken nach Stapelburg

Km 945 – 985

Kurz nach drei Uhr morgens wache ich – ohne Wecker – auf. Ich bin nervös, kann nicht mehr einschlafen. Sonnenaufgang auf dem Brocken? Das wär doch was. Also, ab unter die Dusche! Mitten in der Nacht, ohne Frühstück, werden die Sachen gepackt. Wie immer ein Akt. 40 Euro unter die Kaffeemaschine. Schlüssel unter die Türmatte, wie vereinbart.

Ich starte um 4:45 Uhr von der Pension aus und möchte zum Sonnenaufgang um 6:11 Uhr oben sein. Ich fahre zunächst durch den dunklen Wald mit meiner Beleuchtung, was mir hilft, denn draußen ist es „kuhnacht“. In dem Buch Radtouren am Grünen Band von Stefan Esser ist der Weg auf der Versorgungsstraße beschrieben. Plötzlich taucht in der Dunkelheit ein hell erleuchtetes, leeres Parkhaus auf. Surreal. Schließlich finde ich die Versorgungsstraße, die hoch zum Brocken führt, zwar doppelt so lang wie der Fußweg, der relativ nah der Brockenbahn entlang führt, aber die Steigungen sind mit dem E-Bike gut machbar.

Auf dem Weg hoch komme ich an kaputten Bäumen vorbei, die in drei Meter Höhe abgeschnitten oder richtig gefällt worden sind. Ich kurbele mein Pensum herunter, wie ein Uhrwerk. Es kommt mir vor wie bei meinen Berlin-Marathons zwischen Kilometer 15 und 25. Alles läuft. Zwischendurch überkommen mich die Emotionen. Der höchste Punkt der Reise: Ein paar Tränen werden im Fahrtwind getrocknet, genau wie bei meinem ersten Berlin-Marathon 1996, als ich zum ersten Mal durch das Brandenburger Tor in Berlin „frei“, ohne Mauer und Zaun, laufen konnte … Zwei Kilometer vor dem Brocken treffe ich auf zwei Mountainbiker, die sich vom Osten her hoch gequält haben. Ich bekomme einen Spruch wegen meines E-Bikes ab, aber ansonsen alles gut.

Auf dem Brocken in 1141 Meter Höhe angekommen, herrscht Ruhe über allen Wipfeln. Ein Hobby-Fotograf erklärt mir kurz, wo ich noch ein schönes Foto machen kann: auf dem Bahnsteig der Brockenbahn. Aus dem Hotel kommen zwei Frauen, die auch extra zum Sonnenaufgang aufgestanden sind. Zwei junge Kerle mit dem Rucksack marschieren an mir fast grußlos vorbei. Waren das Bundeswehrsoldaten? Ich erinnere mich an den Einzelkämpfer-Lehrgang an der Fallschirmspringer-Schule in Altenstadt in der Nähe von Füssen Im Frühherbst 1968.

Das Stativ wird ausgepackt, damit ich Fotos vom Sonnenaufgang machen kann. Nur – es ist ein wenig wolkig! Egal, die Sonne ist schemenhaft zu erkennen, zunächst, später deutlicher. Den Fotoapparat benutze ich als Videoaufnahmegerät und ziehe eine Bilanz der bisherigen Reise: Sehr viele interessante Begegnungen, viel Hilfsbereitschaft.

Der Imbiss am Brocken-Bahnhof hat noch nicht geöffnet. Es ist 06:30 Uhr. Einige Autos fahren zur Wetterstation. Mitarbeiter. Ich hole die Flasche selbst Aufgesetzten aus der Packtasche und trinke auf das Etappenziel, den höchsten Berg der Tour mit über 1.100 Metern. Bernhard Fahrig aus dem Eichsfeld hat mir die Flasche als Reiseproviant mitgegeben. Noch einmal vielen Dank!

Am Brocken-Stein treffe ich gegen sieben Uhr einen Mann mittleren Alters, der jeden Tag ca. 20 km mit seinen sibirischen Schlittenhunden zu Fuß geht oder läuft. Er ist ein „Schwob“ und kommt aus der Nähe von Aalen, ist mit dem Camper unterwegs. Wir sprechen über die unterschiedlichen Mentalitäten in Ost und West. Er ist der Meinung, dass die Menschen in den neuen Bundesländern freundlicher seien. 

Auf dem Brocken ist nach wie vor nahezu menschenleer und ich fahre – immer noch euphorisiert – den steilen Kolonnenweg Richtung Scharfenstein und Ecker-Talsperre runter. Die Abfahrt erfordert Konzentration, da die Löcher in den Betonplatten zwar einigermaßen zugewachsen sind, aber die Trekking-Reifen sind nicht viel breiter und das Vorderrad darf nicht verkannten. Auch sind es mindesten 135 Kg, die den Berg langsam herunterrollen, meine Hände liegen  immer fest an den beiden Bremsgriffen. Zum Glück habe ich in Duderstadt neue Bremsbeläge für das Hinterrad bekommen …

Nach 20 Minuten Abfahrt mache ich eine Pause. Heute Nacht nur 4 Stunden geschlafen, die Bergfahrt fordert ihren Tribut. Ich lege mich auf die Erde, die Regenjacke darunter, es wird so langsam warm durch die Sonne, ich lege mir sicherheitshalber noch meine vordere Gepäcktasche mit den Wertsachen unter den Kopf und schlafe ein … Als ich aufwache, frage ich mich, wo mein Handy ist. Hosen- und Jackentaschen werden abgesucht, nichts. Die vordere, blaue Gepäcktasche durchsucht, nichts. Es kommt Panik auf. Wie soll ich ohne Handy kommunizieren mit Ellen, den Kindern, Dors …? Ein weiteres Beispiel, wie sich unser bzw. mein tagtägliches Leben in den letzten drei Jahrzehnten verändert hat!

Habe ich das Handy vielleicht oben auf dem Brocken liegen gelassen? Es hilft nichts. Alles Retour. Ich muss noch einmal den steilen Anstieg auf dem Kolonnenweg hoch zum Brocken. Am Brockenstein: nichts. Beim Brockenwirt und in dem Museum auch nichts abgegeben. Ich werde fatalistisch und denke: „Recht geschieht es mir, hättest halt besser aufpassen müssen.“ Schweren Herzens, frustriert, geht es wieder bergrunter. In Bad Harzburg kann man bestimmt ein neues Handy kaufen … Unterwegs spreche ich Mountainbiker, die bergauf fahren, an und bitte sie mir ggf. das Handy zuzusenden. Irgendwie gibt es Solidarität, vielleicht auch Mitleid, obwohl ich mit einem E-Bike unterwegs bin.

Nach einigen Kilometern Abfahrt liegt ein kleines Plateau vor mir: Scharfenstein. Hier stand früher mal eine Kaserne, genutzt von der sowjetischen Armee und später dann von den DDR-Grenztruppen. Mittlerweile abgerissen. Dafür befinden sich dort jetzt zwei Holzhütten, eine davon mit Bewirtung, betrieben von Harz-Rangern. Da der Anstieg nochmal E-Power verbraucht hat und ich zudem noch nichts Richtiges gefrühstückt habe, mache ich erst einmal eine Pause. Kaffee und Schmalzbrote, später dann noch ein Stück Kuchen und Limonade. Herrlich nach der ganzen Anstrengung und leider auch Aufregung.

Ich komme mit dem Ranger ins Gespräch: Er war in den Achtziger Jahren selber bei den DDR-Grenztruppen, allerdings nicht in der Nähe seines Wohnortes, sondern weiter nördlich. Ich erzähle meine Geschichte (ein Viertel Ossi, drei Viertel Wessi) und wir kommen nach anfänglicher Zurückhaltung sehr schnell in langes, sehr differenziertes Gespräch über das Leben in der DDR, die Wendezeit und die Zeit nach der Jahrtausendwende. Er regt sich über nicht differenzierende „West“-Besucher auf, die angesichts der Fotos sofort auf die Stasi-Leute im Osten schimpfen, alle ehemaligen DDR-Bewohner gleichsetzen, die Kosten der Wiedervereinigung als einseitige Belastung für die alten Bundesländer ansehen und auf den Soli schimpfen. So werden es fast zwei Stunden intensiver Diskussion und ich freue mich, dass ich einen solchen Gesprächs- und Diskussionspartner hier mitten in der Prärie am Fuße des Brockens kennengelernt habe.

Aus dem Esser-Buch, das mich bisher immer begleitet hat, weiß ich, dass die Ecker nicht nur Grenzfluss war, sondern dass das Tal und die Talsperre sehr schön sein gelegen sein sollen. Hätte ich es mal bloß gelassen und wäre mit einem kleinen Umweg über Waldwege nach Ilsenburg gefahren, nein ich wollte die Mountainbike-Strecke nehmen! Der erste Kilometer ging noch relativ problemlos, dann aber auf ca. 1 km nur noch eine Wurzel nach der anderen. War es die Trockenheit, die dazu führte, dass es eine Holperstrecke wurde, oder sonst was? Ich weiß es nicht. Ich denke nur: ein Glück, dass ich ein Trecking-Rad habe, das auch durch die vollen und schweren Satteltaschen relativ stabil fährt. Außerdem: Ich bin stolz auf meine Fähigkeit, das Fahrrad mittlerweile bei allen Unebenheiten im Griff zu haben.

Die Talsperre kann ich auf der Mauer überqueren. In der Mitte ein Grenzpfahl der DDR. Früher hat es wohl öfter Streitigkeiten zwischen der BRD und der DDR gegeben, die die Talsperre gemeinsam betrieben haben. Am Ende der Staumauer dann das böse Erwachen. Das ganze Gepäck vom Rad runter, die Treppen hochtragen, das Fahrrad hinterher und oben alles wieder zusammenbauen. 32 Grad Celsius. Ein Uhr mittags.

Anstatt nach Bad Harzburg zu fahre, suche ich mir wieder die „harte“ Tour raus. Über einen kleinen, steilen Weg runter ins Eckertal. Über Steine, leichtes Geröll, aber immer im Schatten und einen schönen Blick auf die Ecker, die allerdings nur wenig Wasser führt. Ich fahre mittlerweile relativ brutal über die Schotterwege parallel zum kleinen ehemaligen Grenzfluss, so mit 18-20 km/h, aber es geht ja auch leicht bergab… Irgendwann merke ich, dass es mich wieder erwischt hat, die Luft scheint vorne nicht mehr zu halten. Na ja, ein Unglück kommt selten allein.

Am Eckerkrug stehen einige überdachte Holztische. Hier befand sich früher eine Naturheilanstalt namens „Jungborn“ , gegründet von Adolf Just. Hier hat auf Franz Kafka im Jahr 1912 eine Kur gemacht. Ich brauche dringend eine Pause, folge dem Ansatz von Just, und mache meinen Oberkörper frei. Außerdem baue ich das Vorderrad ab und flicke den Reifen. Mittlerweile ist es Routine. Gepäck abbauen. Fahrrad auf den Sattel und den Lenker stellen. Vorderrad aus aus der Gabel. Wasser aus der 1,5 l-Flasche in den kleinen viereckigen Plastikbehälter. Schlauch ausbauen. Wieder aufpumpen und dann Stück für Stück durch das Wasser ziehen, bis es Blasen gibt. Aufrauen, Kleber drauf, trocknen, einen Gummiflicken drauf und 150 mal mit der kleinen Luftpumpe aufpumpen. Da kommt jedesmal Freude auf …Beim Durchsuchen der vorderen Packtasche nach Flickzeuge finde ich vollkommen überraschend mein Handy wieder. Es ist schmal und ich hatte es auf dem Brocken in der ganzen Euphorie und Aufregung nicht gefunden..Welch ein Glück!!! Ich bin erleichtert.

Ich entscheide mich weder nach Ilsenburg noch in den Westen nach Bad Harzburg zu fahren. In Stapelburg halte ich bei einem Supermarkt an… hat mehr den Charme des alten Konsums, nur mehr Waren natürlich. Ich kaufe mir Bananen und 500 gr. Joghurt. Irgendwie bekomme ich den Joghurt nicht runter, da helfen auch nicht wirklich eingetunkte Bananenstücke. Der Joghurt wird hinten auf dem Fahrrad ‚festgeschnallt‘. Man ist ja umweltbewußt. Zum Glück finde ich nach mehrmaligem Fragen ein Zimmer in einer Ferienwohnung, die ich für mich alleine habe. Obwohl draußen der Rasen total vedorrt ist, frage ich die Wirtin gleich nach der Besichtigung, ob ich zwei Tage bleiben kann. Ruhetage! Als ich mich nach 17 Stunden Unterwegs-Sein im Spiegel sehe, gewinne ich den Eindruck, dass ich mit dem Typen, der mich ansieht, heute Abend auch kein Bier mehr trinken möchte. Total kaputt, aber tolles Gefühl: Der Brocken ist geschafft!