Tag 34 (20.08.18): Von Stapelburg nach Schöningen
Tag 34 (20.08.18): Von Stapelburg nach Schöningen
Km: 985 – 1060
Ich verabschiede mich herzlich von meinen beiden Gastgebern und fahre entlang der ehemaligen Grenze Richtung Vienenburg. Nachdem ich wieder im Westen bin, komme ich an total vertrockneten Ästen und z. T. entwurzelten Bäumen vorbei. Natürlich verfahre ich mich auch mal wieder. Abbenrode hätte ich auch ‚leichter‘ haben können, aber der Waldweg war schön. In Vienenburg nochmal schnell Geld holen auf der Bank und einen Cappucino bei einer relativ unfreundlichen Eisdielenbetreiberin trinken. Dann geht es wieder über die mittlerweile imaginäre Grenze in den Osten.
Ich bin einfach dankbar und froh, zumal jetzt keine gewaltigen Steigungen mehr kommen. Kurz vor Göddeckenrode habe ich ein weiteres Teilziel erreicht: 1.000 Km habe ich hinter mir … und lebe noch! Ich genehmige mir erneut einen Schluck von Bernhards Wildkirschen-Schnaps, mache neben dem Grenzzaun eine Pause und halte für wenige Minuten inne. Die angerissene Achillessehne, die angerissenen Bänder im linken Fuß – ein Souvenir aus Chisinau, als ich morgens auf dem Weg zur Akademie der Wissenschaften auf Glatteis ausgerutscht bin (28. Januar 2014) – haben bisher gehalten und mitgemacht. Toi-toi-toi.
In Gödeckenrode treffe ich eine ältere Frau. Was heißt hier älter? Jahrgang 1946, gerade mal zwei Jahre älter als ich! Sie ist von der Wende enttäuscht, weil sie Anfang der 90er Jahre nicht nur ihre Stelle bei der Post verlor. Dazu muss man wissen, dass die Poststelle in der DDR lange Zeit eine wichtige Funktion im Dorf hatte und mit hohem Ansehen verbunden war. Es gab nur sehr wenige Telefone. Telefonieren und Telegramme versenden konnte man nur direkt auf der Post. Mit der `Posthalterin` musste man sich gut stellen, es war ja für die meisten Dorfbewohner das Tor nach aussen. Dass der/die Betreiber(in) der Post natürlich über viele Informationen verfügte, war natürlich auch klar.
Also, meine Gesprächspartnerin fühlte sich nicht mehr Richtung wohl im Ort, weil mittlerweile die Westler aus den umliegenden niedersächsichen Dörfern das Regiment übernommen hätten. Nach der Wende wären sie relativ schnell gekommen und hätten die alten, z. T. verlassenen Häuser gekauft und renoviert. Die Qualität der Kindergärten und Schulen sei auch unterschiedlich. Sie sähe das an ihrer jüngsten Enkelin, die im bundesdeutschen Nachbarort den Kindergarten besucht habe. Auch die in der DDR gut qualifizierte Tochter würde sich im nahegelegenen Hornburg immer noch als Ossi fühlen, und viele Frauen hätten keine vergleichbare berufliche Ausbildung wie in der DDR erhalten.
Nach Hornburg fahre ich nicht rein, weil ich eine Abkürzung Richtung Osten nehmen will und prompt verfahre ich mich mal wieder. Dies endet – zum Glück – an einem Beobachtungsturm mitten auf einem Kamm, was durchaus interessant ist, aber auch ein Desaster. Die Wege sind mal wieder von Steinen und Ästen übersäht. Ich fahre über ein Stoppelfeld, aber es geht nicht weit: Wieder ist es der Vorderreifen, der nicht mehr genügend Luft hat. Ich komme nicht mehr richtig vorwärts, die Speichen will ich auch nicht gefährden. Also, ab an den Waldrand, mal wieder das ganz Gepäck runter! Wie gehabt und schon beschrieben: zur Feier des Tages (1.000 Km) gönne ich mir endlich den Ersatzschlauch und bin nach einer guten Viertelstunde wieder startbereit für den Trail … holterdiepolter geht es weiter …
Nach mehrmaligem Verfahren im Wald komme ich zu einer Ausflugsgaststätte in der Nähe von Osterwieck. Ich frage nach, ob ich den Akku nachladen sowie Kaffee und Kuchen bekommen kann. Die Wirtin ist zuerst etwas skeptisch, gestattet dann aber doch das Aufladen. Am Nachbartisch sitzt ein drahtiger Mann, der vielleicht knappe zehn Jahre jünger ist als ich: „Wo fahren Sie hin?“ – „Ostsee, immer an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenzen entlang!“ Es entspinnt sich eine Diskussion, die ich so schnell nicht vergessen werde. Themen wie üblich: Flüchtlinge, Migranten, Islam. „Alles raus, hat nichts mit Deutschland zu tun! Alle meine Freunde in Halle denken so. Schauen Sie sich doch mal in Halle an der Saale auf dem Marktplatz um! Alles Asylanten, Schwarze, Flüchtlinge! Ab sieben kann da keine deutsche Frau mehr hingehen.“
Als er dann tatsächlich fordert, man müsse mit Frau Merkel das Gleiche machen, wie es die Securitate in Rumänien mit Ceaușescu gemacht hat, nämlich den Staatschef ohne Gerichtsverhandlung zu erschießen (Weihnachten 1989), gebe ich meine Zurückhaltung auf: „Glauben Sie bloß nicht, dass wir es zulassen werden, dass hier in Deutschland Politiker erschossen werden, nur weil einigen Leuten deren Meinung nicht passt! Da gibt es genug Leute im Westen, die sich ganz klar dagegen stellen werden!“ – Er legt nach: „Und schauen Sie sich doch mal die Roth von den Grünen an, die ist sogar Bundestagsvizepräsidentin. Genau das Gleiche! Weg damit!“ Ich halte hier dagegen, weil ich diese Nazipropaganda nicht unwidersprochen stehen lassen will.
Das ganze Streitgespräch dauert über eine Stunde. In welchem Bereich er arbeitet, will der sehr gut informierte Herr mir nicht sagen. Zu meinem heutigen Etappenziel Marienborn sagt er beim Abschied nur: „Ja, zu Marienborn könnte ich Ihnen auch noch was sagen. Da kenne ich mich sehr gut aus. Aber lassen wir das …!“ Habe ich es hier etwa mit einem ehemaligen Angehörigen der Stasi zu tun gehabt, deren Aufgabe es war, bundesrepublikanische Reisende auszufragen bzw. anzuwerben? – Ich erinnere mich an den 2. Weihnachtsfeiertag 1981 als ich wenige Tage nach dem Tod meines Vaters den Totenschein zu meinen Brüdern in Ostberlin bringen wollte, damit sie ein Visum für die Beerdigung beantragen konnten. Morgens gegen sieben Uhr werde ich an der Übergangsstelle Berlin-Friedrichsstraße vom Zoll der DDR befragt, was denn das für ein Schmuck sei, den ich als Geschenk mit mir führte. Es war Indianerschmuck, wahrscheinlich aus dem Sioux-Reservat, den ich auf einer Reise mit meiner früheren Frau Ute dort während des zweijährigen USA-Aufenthaltes in Buffalo, N.Y., gekauft hatte. Ich sollte 70 DM Zoll bezahlten. Als ich dem Grenzoffizier sagte, dass der Schmuck keine 30 DM wert sei, hielt er mir vor, dass sie in der DDR auch nicht mit allem in der BRD einverstanden seien, z. B. den Berufsverboten gegen Kommunisten. Nach vorigen Nacht ohne Schlaf war ich relativ geladen und habe ihm gesagt, dass er mir über Berufsverbote nichts sagen brauche. Die Tatsache, dass ich 1978 in Hessen keinen Referendarsplatz trotz sehr guter Noten bekommen hatte, waren für mich Anlass anzunehmen, dass ich selber unter den von Willy Brandt verfügten so genannten Radikalen-Erlass vom Januar 1972 gefallen war. Irgendwie muss es ihn beeindruckt haben: Meine Zollgebühr wurde halbiert, von 70 DM auf 35 DM.
Nachdem die Wirtin mich freundlich verabschiedet hat, bin ich mir mit Wut im Bauch klar, dass ich heute noch Kilometer machen muss, damit ich Dors, wie geplant, morgen früh in Helmstedt abholen kann. Es gilt Landstraße zu fahren: Aue-Fallstein, Huy, Jerxheim: teilweise Bundesstraße ohne Fahrradweg. Es wird mir mulmig, wenn die Autos mit 100 und mehr Sachen an mir vorbeirauschen. Zum Glück habe ich immer meinen gelben Regenschutz über dem Schutzhelm – ein guter Sonnenschutz gegen Hautkrebs und gleichzeitig von weitem sichtbar! Der Akku ist wieder einigermaßen aufgeladen und ich spule die Kilometer runter, mittlerweile Routine. Kurz vor der imaginären Grenze kaufe ich in Sachsen-Anhalt noch Studentenfutter zur Stärkung in einem Supermarkt. Im niedersächsischen Söllingen hat das Gasthaus zu, aber irgendwie gelingt es mir eine Internetverbindung herzustellen und noch ein Hotel in Schöningen für diese Nacht zu bekommen. Kurz vor acht Uhr, es dämmert schon, komme ich relativ groggy dort an. Zwei Monteure aus Schwerin sind schon da, die Unterbringung erinnert mich ein wenig an das Hafenhotel in Bombay im Jahre 1994. Jeder Ton des Nachbarn zu hören …
Zum Essen bekomme ich vorzügliche Rouladen. Das Alsterwasser als erstes Getränk und dann noch ein oder zwei normale Bier sind schon zur Routine geworden. Ich darf mich neben den Gastwirt setzen, der einige Jahre älter ist als ich. Er erzählt von früher, von vor der Wende, während der Wende und den leider traurigen Jahren danach. Vor der Wende war in seiner Gaststätte viel los: US-Soldaten, die in der Nähe stationiert waren, Russisch lernten und den Funkverkehr der Warschauer Vertragsstaaten abhörte, LKW-Fahrer der DDR-Spedition DEUTRANS, Kungelgeschäfte zwischen Amerikanern und Russen in der Wendezeit (Uniformen, Waffen der Sowjets gegen US-Dollar). Verwundert hat mich nur, dass er offensichtlich auch DEUTRANS-Fahrer mit in die Kaserne genommen hat, wo diese ihre Beobachtungen machten. Ich erzähle ihm von meiner Bundeswehrzeit von 1967-1970 und wir finden gleich eine gemeinsame Ebene, obwohl er nur Wehrpflichtiger war und ich ein 1000-Tagebär. Interessant war auch, dass sein Vater in sowjetischer Kriegsgefangenschaft war und dort ideologisch geschult worden ist …Was für ein Tag!