Tag 13 (30.07.18): Von Hilders nach Philippsthal

ehemaliger Bahnhof von Hilders

Anna und Lars mit ihrem treuen vierbeinigen Begleiter auf dem Weg mit Hausstand von Berlin nach Portugal. Mutig. Chapeau!

Schloss in Gaisa, Sitz der Point-Alpha-Stiftung

Gedenkstätte Point Alpha bei Gaisa

In der Ausstellung: biographischer Ansatz –  Verbindung von Mikro-(Einzelperson) und Makroebene (gesamtstaatliche Situation)

Drehflügel mit FRIEDEN, PEACE und MIR

Grenzzaun mit Beobachtungsturm am Point Alpha – vertrocknetes Gras weit und breit…

US-amerkanischer Beobachtungsturm

‚Glück Auf‘: angekommen im thüringischen Kali-Bergbaugebiet

Tag 13 (30.07.18): Fahrt von Hilders nach Philippsthal

KM: 430 – 478

Morgens merke ich, dass mir der gestrige Ruhetag gut getan hat, sowohl vom Kopf her als auch von der Muskulatur. Die liebliche Strecke nach Tann kenne ich schon. Im Supermarkt besorge ich mir Obst, Buttermilch und Studentenfutter.

Auf dem Weg nach Motzlar denke ich: Das gibt es ja gar nicht, du kannst deinen Augen nicht trauen. Ich begegne Anna und Lars mit ihrem adoptierten spanischen Hund Nelson. Sie kommen aus Potsdam und ziehen nach Portugal um, wo sie im Spätherbst ankommen wollen. Sie ziehen im wahrsten Sinne mit ihrem gesamten Hausstand, der sich in einem ca. 1,00 x 1,50 Meter großen Handwagen befindet. Ein Geschirr zum Ziehen wie vor einem Karren, anstatt Pferden. Strom für die elektronische Kommunikation (Webseite bei wordpress.com) liefern Solarzellen auf dem vergrößerten Handwagen. Sie schaffen am Tag ca. 15-20 Kilometer und haben Fulda als Ziel, immer Fahrradwegen folgend.

Ich frage nach der Motivation der beiden, die so in den Zwanziger sein müssten: Sie wollen aussteigen, sich nicht mehr den Zwängen des Büroalltags unterwerfen, obwohl… Lars arbeitet noch ab und an im Bereich des Internet-Shoppings, allerdings von unterwegs. Ich bewundere die beiden ob ihres Mutes, vielleicht auch wegen der Naivität, auf alle Fälle drücke ich ihnen meine Hochachtung aus. Zum Abschied wünsche ich ihnen viel Glück und gebe ihnen ein paar Euro für Hundefutter mit… Hier der Link zu ihrem Reiseblog: Erdenbürger. Was wir für Sachen machen.

Auf dem Weg nach Gaisa treffe ich im nächsten Ort einen Vater, der mit seinem Sohn, der bald 16 wird, eine Samson fertig macht. Es scheint, dass dieses Kleinkraftrad der DDR aus den 60er und 70er Jahren mittlerweile wieder Kultcharakter, nicht nur unter alten Leuten in Sachsen und Thüringen, sondern auch jungen Leuten hat.

Ich will Point Alpha, das Museum, besuchen und komme nach Geisa, wo ich in der Mittagshitze nur im Schlosshof etwas zu trinken bekomme. Die Stunde im Schatten tut mir sehr gut. Durch Zufall entdecke ich, dass es hier eine Point-Alpha-Stiftung gibt. Eine Internetrecherche ergibt, dass die Stiftung auch ein pädagogisches Programm durchführt. Preisträger sind Helmut Kohl, Gorbatschow, Bush, Schäuble etc. Kurzentschlossen betrete ich das Gebäude und komme mit zwei Kollegen aus der pädagogisch-didaktischen Abteilung ins Gespräch. Ich erzähle ihnen von meiner Grenzgänger-Tour 2018 und meiner Absicht, später evtl. darüber zu berichten. Es entwickelt sich ein interessantes fachliches Gespräch über Gedenkstättenpädagogik und die Frage, wie man dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer junge Menschen mit dem Thema vertraut machen kann. Wir vereinbaren, in Kontakt zu bleiben.

Mit einem heftigen Anstieg geht es hoch zum Museum und zur Gedenkstätte. Die Sonne brezelt. Eine Turbine dreht sich an und ab: Frieden, Mir, Peace ist auf den Flügeln zu lesen. Die Ausstellung ist vom Didaktischen gesehen sehr gut gemacht, Mikro- und Makroebene gut verbunden. Viele anschauliche Ausstellungsstücke und Videointerviews mit jungen und alten Menschen beiderseits der Grenze. Das amerikanische Lager Point Alpha ist fast unverändert, inklusive einem Weihnachtswunsch an die ‘Kollegen’ auf der anderen Seite der Grenze: „Fröhe Wiehnachten“.  ­–  Wie man es halt spricht …im Englischen.

Mit einer Besucherin komme ich über die Zeiten vor und nach der Wende ins Gespräch. Sie hat an einer großen Samstagsdemonstration in einer Kleinstadt in Thüringen teilgenommen. Die DDR-Erziehung und die Unterschiede zu Menschen aus dem Westen sind ihrer Ansicht nach wie vor in Kleinigkeiten festzustellen, so z. B. im Zusammenhang mit der Nutzung von Energie.

Im Lager und außerhalb habe ich das Gefühl, dass ich eher in Spanien und Italien im Sommerurlaub bin als in der Rhön. Kein Grün, alles verbrannt. Die Tageszeitungen berichten von der Sommerhitze und den Veränderungen des Klimas. Ich mache mir Sorgen und frage mich, was wir mit dem permanenten wirtschaftlichen Aufstieg, dem Verschwenden von natürlichen Ressourcen – zu meinem und unserem eigenen Vorteil – bewirkt haben.

So langsam kommen die Kali-Bergwerke beiderseits der Grenze mit ihren weißen, z. T. über 700 Meter hohen Bergen in Sicht. Es ist immer noch verdammt heiß. Zum Glück bekomme ich in Philippsthal noch ein Zimmer in einem Gasthaus. Ich bin geschafft und trinke wie üblich erst mal ein großes Radler und esse heute ausnahmsweise kein Fleisch, nur einen großen Salat. Der kurze Anstieg zum Gästehaus fällt mir verdammt schwer. Ich merke: die 36 Grad haben mir gereicht und mich mal wieder geschafft.

Tag 14 (31.07.18): Von Philippsthal nach Berka / Werra

Fahrt über die Brücke vom hessischen Philippsthal in das thüringische Vacha

Die ehemalige Druckerei in Philippsthal, die bis in die 50er Jahre mitten im Haus geteilt war. Je eine Hälfte gehörte zur BRD und zur DDR.

Hannelore D. bei der Erläuterung des Grenzverlaufs zwischen Philippsthal und Vacha

Grenzturm und modernes Grafitti in Vacha – Symbole der alten und der neuen Zeit

Mit Hannelore und ihrem Mann zuhause. Ein beeindruckendes Video über die Grenzöffnung im November 1989

Von Heringen (Werra) nach Berka (Werra). Ganz ohne Kontrolle, aber mit viel LKW-Verkehr …

Blick auf einen der Kaliberge

Kilometer 500. Es geht voran.

Tag 14 (31.07.18):  Von Philippsthal nach Berka

KM: 478 – 506

Von Philipsthal fahre ich nach Vacha, der thüringischen Schwestergemeinde auf der anderen Seite der Werra. Genau am Beginn der Brücke treffe ich auf Hannelore, die mich fragt, wo ich hinmöchte. Es scheint, dass sie sich auskennt. Sie erklärt mir den genauen Grenzverlauf, zeigt mir den Beobachtungsturm in Vacha und gibt mir eine Menge an historischen Informationen.

Sie hat den 11. November 1989 hautnah miterlebt und als Hobbyfilmerin die historischen Stunden des 11. und 12. November, den Abbau der Grenze nach 40 Jahren, den Menschenauflauf, das Rüber und Nüber miterlebt. Eine wirkliche historische Quelle.

Sie lädt mich freundlicherweise zu sich nach Hause ein, wo ich auch ihren Mann kennenlerne, der bei der Bundeswehr als Berufssoldat gearbeitet hat. Der Film aus dem Jahre 1989 dürfte einer der wenigen visuellen lokalen Zeitdokumente der Maueröffnung 1989 sein. Die Rechte wurden an ARD und ZDF übertragen, aber im Internet befinden sich viele Kopien, auch eine Zusammenfassung der Hessischen Staatskanzlei bei Youtube Die sehr persönlichen Stunden vergehen wie im Fluge.

Beim Anschauen des Films werden in mir alte Erinnerungen wach, der spontane, unangemeldete Besuch am 12. November in Ost-Berlin. Die Fahrt mit den drei Kindern, u. a. der erst dreimonatigen jüngsten Tochter, auf der Transitstrecke nach Berlin. Das Tanzen der Menschen auf der Mauer am Brandenburger Tor, das Hallo beim Eintreffen bei meinem Bruder Klaus und seiner Familie zum Abendbrot. Die Fahrt in der Nacht zurück. Das Unterrichten am nächsten Morgen nach wenigen Stunden Schlaf.  Mir kommen beim Anschauen des Filmes die Tränen …

Parallel zur mit Salzen und anderen Abwässern belasteten Werra geht es meistens über sehr befahrene Straßen nach Berka / Werra, wo ich in dem Gasthaus Zur Post heute relativ früh eine Unterkunft finde. Ich bin froh angesichts der Hitze.  Hier treffe ich Klaus, einen 82-jährigen sehr rüstigen Rentner, der als Flüchtlingskind aus Schlesien nach Berka kam und dort jahrzehntelang im Kalibergbau gearbeitet, später auch Lehrlinge unterrichtet hat. Drei Stunden haben wir die Geschichte der DDR, der Wende und Nachwendezeit hoch und runter diskutiert. Wir beide sind Thüringer, und er wundert sich über mein historisch-politisches Wissen. Ich gebe mich als Historiker mit engen Familienbanden in der DDR zu erkennen. Es ist schwül in dem Hof der Gastwirtschaft, aber die Zeit vergeht wie im Fluge. Ein beeindruckender Mensch, der früher mal in der SED war, aber wohl damals wie heute seinen kritischen Geist behalten hat.

Die Nacht muss ich das Fenster auflassen, der Straßenverkehr stört zwar, aber es kommt wenigstens etwas frische, kalte Luft herein.