Tag 28 (14.08.18): Von Duderstadt nach Osterhagen

Rathaus in Duderstadt

Unbürokratische Hilfe: neue Bremsbeläge hinten und Schutzblech wieder richtig befestigt. Vielen Dank!

ehemalige Grenzübergangsstelle Duderstadt-Worbis: Beobachtungsturm

Grenzsäule mit DDR-Wappen (ausgebaut)

Grenzmuseum: Raum zum Thema Naturschutz am Grünen Band

Beobachtungsturm: Telefongespräch zwischen BRD und DDR

Sielmann-Umweltstiftung: Gut Herbishagen bei Duderstadt

Fredi Willigs privater Beobachtungsturm bei Bartolfelde

Fredi Willig aus Lauterberg in seinem mit viel Liebe zum Detail eingerichteten B-Turm

Modell des Beobachtungsturms mit Inneneinrichtung, z. B. Betten im 1. Stock

Tag 28 (14.08.18):  Duderstadt – Osterhagen

Km: 837 – 875

Ich habe gut geschlafen, auch wenn es ab und an etwas laut auf der Straße war. Noch wichtiger: es hat wohl etwas geregnet. Ein Geschenk Gottes in dieser von Hitze geplagten Zeit. Ich mache mir in der mit alten, schön aufgearbeiteten Möbeln eingerichteten Küche einen Kaffee mit Milch und bekomme Besuch von einer Miezekatze. Eigentlich sind ja eher Hunde meine Freunde, aber die Mieze fühlt sich anscheinend wohl und lässt sich kraulen – trotzdem, ich trage sie dann raus. Durch die Hinterhoftür ist sie aber in zwei Minuten wieder da.

Ich komme mit einer jungen Frau ins Gespräch, die in der Praxis ein wenig aushilft. Sie fängt im Herbstsemester an, Sozialarbeit in Nordhausen zu studieren. In Göttingen gibt es einen solchen Studiengang nicht und Kassel ist zu weit, also geht es zum Studium über die Grenze ins benachbarte Thüringen. Mit ihren zwei Kindern wird es eine Herausforderung, aber zum Glück wird sie ihr Mann, der als Lehrer arbeitet, unterstützen.

Wir kommen auf 1989 zu sprechen. Sie erinnert sich noch sehr gut an die qualmenden und stinkenden Trabbis, die bei Grenzöffnung die Stadt verstopften. Unterschiede zwischen Ost und West, unterschiedliche Mentalitäten? Sie berichtet vom Urlaub in Meck-Pomm, Kanufahrten in landschaftlich sehr schönen, aber strukturschwachen Gegenden. Unterschiedliche Mentalitäten setzen sich noch etwas fort, aber große Unterschiede? Nein, die gibt es nicht mehr. Die neuen Klassenkameraden aus der DDR waren vielleicht etwas als Streber verschrien, aber trotzdem ganz nett. Wir unterhalten uns offen über die Höhen und Tiefen im Leben und wünschen uns gegenseitig alles Gute: Beim Studium und bei der Reise entlang der Grenze. Auch von der Frau Zahnärztin werde ich mit den besten Wünschen verabschiedet.

Seit gestern sehe ich in der Entfernung den Harz und damit ist auch der Brocken nicht mehr weit. Das Quietschen der Bremsen, wenn ich bergab fahre, macht mir schon Sorgen. Der Brocken ist schließlich über 1.100 Meter hoch gelegen. Das Fahrrad mit seinen 25 kg, dazu 25 kg Gepäck sowie meine 85 g (mittlerweile dürfte ich wohl ein bis zwei abgenommen haben) – die gesamte Masse entwickelt schon eine gewaltige Schubkraft, die den Bremsen zusetzt.

Im Fahrradgeschäft Beckmann in der Marktstraße 4 frage ich vorsichtig und höflich, ob man die Bremsen vor der geplanten Harz-Überquerung überprüfen könne. Ich habe Glück und werde angesichts meiner bisherigen Strecke wohl als Notfall angesehen. Ein freundlicher Zweiradmechaniker „von drüben“ erhält den Auftrag, mir die Bremsbeläge des Hinterrades auszutauschen. Ich bin beruhigt, auch dass er mir gleich noch das lose Schutzblech und den wackeligen Fahrradständer wieder festmacht sowie die Kette noch kurz mit Öl versorgt. Wir sprechen über Böseckendorf und seine ersten Lebensjahre in der DDR. Mein Heiligenstadt/Flüchtlings-Bonus macht sich mal wieder positiv bemerkbar. Es ist eine sehr freundliche Unterhaltung, ein toller Service der Fa. Beckmann. Vielen Dank nochmal!

Ich fahre weiter nach Teistungen in das dortige Grenzlandmuseum Eichsfeld und schaue mir die didaktisch sehr gut aufbereitete Ausstellung, in der die Situation vor Ort am Grenzübergang Duderstadt-Worbis anschaulich mit der Entwicklung auf internationaler Ebene (alliierte Beschlüsse) und mit der nationalen Ebene verbunden wird. Hier bei Duderstadt bin ich selber einige Male über die Grenze nach Heiligenstadt gefahren. Das Herz schlägt ein wenig höher. In dem Beobachtungsturm finde ich sehr anschaulich die technischen Kommunikationsgeräte mit den Kontrollen der Sprechanlagen durch Offiziere der DDR-Grenztruppen und Angehörige des Bundesgrenzschutzes miteinander verbunden.

Unangemeldet habe ich wiederum Glück und die Möglichkeit, mit der jungen und engagierten Leiterin des Grenzmuseums über didaktische Konzeptionen und das Interesse Wecken bei den unterschiedlichen Zielgruppen zu sprechen. Ebenso wie bei dem Kollegen in Schifflersgrund merkt man, dass sie inhaltlich gesehen „im Saft“ steht. Personell unterstützt durch je zwei teilabgeordnete Lehrkräfte aus Thüringen und Niedersachsen werden unterschiedliche Herangehensweisen an das Thema „Deutsche Teilung“, verbunden aber auch mit grundsätzlichen Aspekten, wie z. B. Demokratiefragen, erläutert. Ich erhalte eine Vielzahl von schriftlichen Materialien und merke, dass es schon einen Unterschied zwischen Archiv- und Gedenkstättendidaktik gibt.

In der Heinz Sielmann Stiftung im Gut Herbigshagen bei Duderstadt wollte ich schon am Montag gewesen sein, aber gestern hing ich mal wieder hinterher oder besser ausgedrückt: Ich nehme mir die Zeit, um mich in Ruhe mit Menschen zu unterhalten bzw. auch mal einen vermeintlichen Umweg oder einfach eine Pause zu machen. Mein Gesprächspartner in der Sielmann-Stiftung hat heute wohl keine Zeit und so bekomme ich ein paar Broschüren in die Hand gedrückt. Der Bio-Bauernhof ist ein Eldorado für Familien mit Kindern, die sich die Tiere anschauen wollen. Beeindruckend ist auch die sehr moderne Ausstellung, in der es um den eigenen Umgang mit den Ressourcen geht.

Es ist halb fünf und ich befinde mich ca. 10 km von meinem heutigem Startpunkt entfernt. Also fange ich wieder an, ordentlich die Hügel bergauf und bergab zu strampeln. Auf dem Weg nach Bartolfelde, einem Ortsteil von Bad Lauterberg, komme ich nach einem langen Anstieg an einem ehemaligen DDR-Beobachtungsturm vorbei. Ich halte und mir wird sofort klar, als ich den Namen Fredi Willig lese, dass sich dieser Turm in Privatbesitz befindet und ich schon mehrfach von ihm und seinem Besitzer in mehreren Büchern gelesen habe. Also, anhalten, Bilder machen. Ich fotografiere gerade den Bunker, der sich in der Nähe befindet, als ein VW-Bus stoppt. Der Fahrer kann nur der Besitzer sein. Welch ein Zufall!?

Mit meinem etwas burschikosen „Du“ frage ich Fredi Willig, ob ich den Turm mal besichtigen kann. Bereitwillig sagt er zu. Wir klettern die Stufen bis in die oberste Etage an Militärbetten und weiteren Einrichtungsgegenständen vorbei und habe oben einen herrlichen Ausblick auf die umliegenden Felder und Wälder. Fredi – wir sind sofort beim echten Duzen – berichtet davon, wie er den Turm Anfang des Jahrtausends erworben, nach und nach restauriert und mit Hilfe von Bekannten mit originalen Exponaten ausgestattet hat. SAT.Regional hat im Jahr 2017 einen kurzen Filmbericht gesendet, der bei Youtube zu sehen ist. Auch die Hessisch-Niedersächsische Allgemeine schreibt im selben Jahr über Fredi Willig und seine Renovierungsarbeiten. Wir sitzen also ganz oben, trinken ein Bier und philosophieren über Gott und die Welt, unsere Familien, die Geschichte dieses Turms, die DDR, die Unterschiede zwischen Ost und West etc. Fredi hat noch einen Wasserhahn zu reparieren und so muss ich schweren Herzens nach gut einer Stunde gehen. Die Zeit war viel zu kurz.

Ich bin wieder im Westen. Es ist kurz vor acht und es wird so langsam dunkel. Nach vergeblichen Fragen in mehreren Orten komme ich in Osterhagen im Gasthaus „Zur Post“ an. Es ist halb neun. Meine letzte Hoffnung. Ausgelaugt vom ganzen Tag frage ich, ob noch ein Zimmer frei sei. Eigentlich nicht, aber wenn ich noch 20 Minuten Zeit hätte … Ich könnte die Gastwirtin umarmen! Zum Abendbrot bekomme ich ein herrliches Butterbrot mit Eichsfelder Wurst, und das Bier schmeckt nach diesem langen und zum Schluss sehr aufregenden Tag auch sehr gut.

Mit dem über 70-jährigen Malermeister, der gegenüber dem Gasthaus wohnt,  komme ich schnell ins Gespräch. Ich traue meinen Ohren nicht: Er berichtet von der Bahnlinie, die durch den Ort geht und von KZ-Häftlingen des KZ Mittelbau-Dora während des Krieges gebaut wurde. Ich sollte mir morgen unbedingt in Ellrich die Überreste des KZ anschauen. Es seien viele Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter umgekommen. Es wird Unverständnis von den Anwesenden geäußert, dass es heute immer noch rechte Parolen gibt, die die Nazi-Zeit verharmlosen und verherrlichen. Ich bin erstaunt, in einem kleinen Ort im Harzer Vorland solch klare Meinungen zu hören. Nach dem dritten Bier falle ich in mein Bett. Obwohl, ich hätte gerne noch weiter diskutiert.