Tag 27 (13.08.18): Von Bremke nach Duderstadt
Tag 27 (13.08.18): Bremke – Duderstadt
KM: 790 – 837
Frisch gestärkt nach dem guten Frühstück fahre ich Richtung Rohrberg. Eigentlich ist das ein Weg zurück und ein Umweg. So soll es sein. Ich habe das Bedürfnis, mich bei den beiden netten Frauen noch einmal persönlich zu bedanken, die mir am Freitag in meiner Not eine Bleibe besorgt haben. Vorher halte ich aber noch einmal im „Bremketaler Lädchen“ an, einem kleinen Kaufmannsladen mit angeschlossenem Café, wo man etwas trinken kann. Ich kaufe ein Stück gute Eichsfelder Stracke, eine für die Gegend typische geräucherte Mettwurst, von der ich die nächsten zwei Tage ab und an naschen werde, natürlich ohne Brot. Ebenso erwerbe ich ein Bounty und zwei schon etwas in die Jahre gekommenen Bananen. Genau wie Boris Becker in Wimbledon: Magnesium gegen die Muskelkrämpfe … Die alten Männer (70 plus) diskutieren das Wetter, den nicht vorhandenen Regen, dass man früher auch schon mal braunes Wasser aus dem eigenen Brunnen getrunken habe und heute immer noch lebe … und natürlich die drohende Übersiedlung in ein Alten- und Pflegeheim, die bevorstehende Entmündigung. Von der Verkäuferin erfahre ich, dass ein gemeinnütziger Verein der Träger dieser dörflichen Initiative ist, die nicht nur älteren Bewohnern eine Einkaufsmöglichkeit bietet, sondern offensichtlich auch den männlichen Rentnern eine Kommunikationsmöglichkeit bietet. Das Hinweisschild erwähnt, dass das Land Niedersachsen diese Einrichtung unterstützt.
In Rohrberg ist die Überraschung groß, als ich urplötzlich vor der Tür stehe. Nachdem ich mich noch einmal für die Hilfe am Freitag bedankt habe, werde ich spontan zum Mittagessen von Frau Sch. und ihrer Tochter eingeladen. Es gibt leckere frische Kartoffeln und schmackhaften Quark. Das Ganze kurz nach 11 morgens, und ich bin überwältigt angesichts dieser Gastfreundschaft. Mit der älteren Dame spreche ich nicht nur über die gemeinsame Arbeit mit meiner Tante Rosemarie, sondern wir diskutieren auch die Veränderungen nach der Wende im Dorf. Das Zurückgehen der dörflichen Gemeinschaft sowie der gegenseitigen Hilfe und das Aufkommen von Neid angesichts der Westautos, die plötzlich im Dorf fuhren. Mit guten Wünschen für meine weitere Reise werde ich herzlich verabschiedet.
Als nächstes Ziel habe ich mir Siemerode ausgesucht. Vor knapp 60 Jahren ist mein Vater auf dem Motorrad mit mir an die Grenze gefahren. Auf dem Straßenschild ist zu lesen: „Siemerode 2 km“. Ich suche diese Straße und finde sie nicht. Über Freienhagen (alte NVA-Kaserne, in der man Paint-Ball spielen kann – kommt mir aus Tettau schon irgendwie bekannt vor!) geht es über die Felder nach Bischhagen, wieder zurück Richtung Bremke. An der Stelle, wo früher die Grenze stand, auch kein Schild gesehen, also zurück. Von Bischhagen über Feldwege entlang der Grenze in das niedersächsische Weißenborn.
Am letzten Bauernhof links vor der Ortsausfahrt Richtung Siemerode frage ich nach der Grenze und komme mit einem Besamungstechniker aus einem der Nachbarorte im thüringischen Teil des Eichsfeldes ins Gespräch. Nachdem er seine Arbeit – hoffentlich erfolgreich ! – hinter sich gebracht, den blutigen großen Handschuh in die Mülltonne geworfen und sich kurz umgezogen hat, berichtet er von seiner Ausbildung und stolz von den fast 10.000 Kühen, die er in seinem bisherigen Berufsleben, früher nur in den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG), heute auch auf Bauernhöfen im Kreis Duderstadt, besamt hat. Als ich erzähle, dass ich in Heiligenstadt geboren sei und meine ersten Jahre im Eichsfeld verbracht habe, kommen wir schnell in ein vertrautes Gespräch über die Vor- und Nachteile des DDR-Systems. Kurze Zeit danach gesellt sich auch der über 80-jährige westdeutsche Altbauer hinzu und erzählt von der Wendezeit und gegenseitigen Besuchen in Weissenborn und Siemerode. So streifen wir einmal durch die Geschichte der Menschen in dieser Grenzregion von der Zeit des 2. Weltkrieges bis in das Jahr 2018. In diesem Gespräch komme ich mir aufgrund der Zeit, die ich in der DDR und der BRD verbracht habe, als Brückenbauer zwischen Ost und West vor. Was mich u. a. erstaunt hat, ist die Tatsache, dass der Besamungstechniker als DDR-Soldat in der Kaserne zusammen mit findigen Kollegen heimlich West-Fernsehen angeschaut hat. Einer musste Schmiere stehen und auf ein bestimmtes Zeichen hin wurde abgestellt, bevor der UvD (Unteroffizier vom Dienst) hereinkam und am noch warmen Fernseher merken konnte, was Sache war.
Ich bekomme den Rat, ins benachbarte Glasehausen zu fahren. Dort angekommen, gibt mir ein Rentner, der einige Meter von der früheren Grenze entfernt wohnt, den Tipp, die „junge Frau“, die dort auf der Straße steht, mal zu befragen. Glasehausen war an drei Seiten vom Grenzzaun umgeben, quasi wie ein Hufeisen, wie mir Frau Gertrud Kunze, die über 80-jährige Altbürgermeisterin, erzählt. Da sie Steno konnte, unterstützte sie zu DDR-Zeiten den Bürgermeister. Sie berichtet von den regelmäßigen Einwohnerversammlungen, auf denen die politisch-ideologische Ausrichtung der Bewohner des 500 Meter Sperrgebiets sichergestellt werden sollte, von der Überwachung und der Angst, die angestammte Heimat verlassen zu müssen.
Wenige Monate vor der Wende wurde sie kommisarische Bürgermeisterin und forderte dann in den Wochen nach dem 9. November 1989 vom Landrat eine Öffnung des Grenzzaunes, um ins nahegelegene Weißenborn zu kommen. Auf Druck der Bevölkerung, mit Unterstützung durch katholische Geistliche und Offiziere des Grenzabschnitt gelang die Beseitigung der Grenzanlagen, von denen heute noch der KfZ-Sperrgraben deutlich zu sehen ist. Frau Kunze ist CDU-Mitglied und stolz berichtet sie, dass sie dieses Jahr am 22. Mai das Bundesverdienstkreuz vom Bundespräsidenten erhalten hat. Auch kennt sie nach eigenen Angaben sehr gut sowohl den früheren rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Bernhard Vogel, der nach der Wende die gleiche Funktion in Thüringen ausübte, als auch die ehemalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth aus dem benachbarten Göttingen. So klein ist die Welt: von Glasehausen ins politische Rampenlicht. Als Geschenk erhalte ich eine Broschüre über die Geschichte von Glasehausen mit persönlicher Widmung. Ich bin tief beeindruckt von dieser politisch sehr wachen Zeitzeugin und verlasse den Ort nach mehr als zwei Stunden Gespräch mit ihr.
Ich fahre durch den Wald nach Neuendorf und von dort nach Böseckendorf, wo am 2. Oktober 1961, kurze Zeit nach dem Bau der Berliner Mauer, eine Reihe von Familien, ungefähr die Hälfte der Dorfbevölkerung, mit Leiterwagen, bepackt mit Hausrat, Babys und alten Menschen über die Äcker hinweg, den Grenzzaun durchschneidend, im Dunkeln in den Westen geflohen ist. Die spektakuläre Flucht wurde im Jahre 2009 auch verfilmt (Böseckendorf – Die Nacht, in der ein Dorf verschwand). Auch hat Astrid Seehaus die Ereignisse des Jahres 1961 als thematische Grundlage für einen sehr spannenden Eichsfeld-Roman genommen (Tod im Eichsfeld, 2012)
Als Grund gaben die Flüchtlinge die bevorstehende Zwangsevakuierung von Bewohnern, die nicht mit dem Eintritt in die LPG einverstanden waren, an. Später haben diese Flüchtlinge in der Nähe von Northheim eine Ortschaft namens Neu-Böseckendorf gegründet. Nach Aussage eines von mir befragten Dorfbewohners sind nach der Wende nur wenige zurück gekommen. Auf der Straße nach Immingerode befinden sich zum Gedenken an die Flucht, die bundesweit Aufsehen erregt hatte, zwei große Steine. Warum ist nur einer davon mit Inhalt aus Neu-Böseckendorf beschriftet und der andere leer?
In Glasehausen habe ich viel Zeit verloren, besser gesagt gewonnen. Nun bin ich mal wieder darauf angewiesen, auf dem Weg nach und in Duderstadt Leute auf Unterkünfte anzusprechen. Zum Glück gibt es in der Nähe einer Kirche einen Hotspot. Mehrere Versuche, etwas für eine Nacht zu bekommen, scheitern, z. T. weil keiner ans Telefon geht. Schließlich gewährt mir Frau Sch., eine Zahnärztin, Unterschlupf in ihrer erst vor kurzem renovierten, in Brauntönen und mit viel Liebe zum Detail eingerichteten Pension. Frühstück erst ab 8.30 Uhr möglich, das soll aber kein Problem sein. Hauptsache ein Bett.
In der Gaststätte „Budapest“ esse ich eine sehr schmackhafte Kohlroulade. Der F. C. Köln spielt gerade gegen Union Berlin. 2. Liga. Die Köllefans singen mit … Ich frage mich, wie Arminia am kommenden Sonntag gegen Lok Stendal im Pokal spielt.
Übrigens: 13. August. Heute vor 57 Jahren wurde in Berlin die Mauer zwischen Ost und West gebaut.