Tag 30 (16.08.18): Von Zorge nach Schierke

Zorge: Renovierungsbedürftiges Haus

Waldweg zwischen Zorge und Hohegeiß

Kleinod: Waldschwimmbad in Hohegeiß

Grenz-Imbiss in Hohegeiß

Kolonnenweg in der Nähe von Sorge

Grenzzaun und Beobachtungsturm zwischen Hohegeiß und Sorge

Freilandmuseum Sorge: Ring der Erinnerung

Museumsführer im Bahnhof Sorge

Nationalpark Harz: Flusstal zwischen Elend und Schierke. Ein ‚Elend‘ bei der lang anhaltenden Trockenheit

Flusstal auf dem Weg von Elend nach Schierke

Tag 30 (16.08.18):   Von Zorge  nach Schierke            

Km: 912 – 945

In meinem Zimmer mit Fenster zur Bergseite hin habe ich gut geschlafen. Boxspringbetten scheinen sich immer mehr im Gastgewerbe durchzusetzen. – Von der Besitzerin erfahre ich, dass das gegenüberliegende Haus für 4.000 Euro zu kaufen sei, das Haus daneben, scheinbar etwas modernisiert, für 20.000 Euro. Die Jugend zieht weg, studiert, geht in die Großstädte. Fachpersonal für den Service zu finden sei nahezu unmöglich.

Ich fahre los und merke, dass es wirklich erstmal nur berghoch geht. In dem einzigen Laden im Dorf gibt es zum Glück neben Bild-Zeitung, Lotto-Annahmestelle auch Zahnpasta. Ich bin erstmal gerettet. Den Häusern in Zorge, die links und rechts der Straße liegen, merkt man an, dass die besseren Zeiten schon hinter ihnen und wahrscheinlich auch hinter ihren Bewohnern, sofern es aktuell noch welche gibt, liegen. Ich frage mich, ob der Ort nicht eigentlich „Sorge“ heißen müsste, aber der Ort mit diesem Namen kommt ja später: Sorge und Elend sind nur einige Kilometer voneinander entfernt und liegen im Osten.

Auf dem Weg nach Hohegeiß durch ein schönes Tal treffe ich einen pensionierten Finanzbeamten, der 1960 hier auf die Finanzfachschule gegangen ist, und der obligatorische Besuch der Grenze gehörte natürlich auch noch dazu, ebenso wie die Gespräche mit den DDR-Grenzsoldaten, was 1960, also vor dem Mauerbau, noch möglich war. Er berichtet davon, wie er Anfang der Neunziger Jahre oft in die neuen Bundesländer gefahren ist und in Dresden ein junges, mit dem westlichen System unerfahrenes Gastwirtspaar beraten hat. Die Brauereien hätten versucht, ihnen Knebelverträge unterzuschieben. Ich stelle mir vor, wie es gewesen wäre, wenn die Menschen der Bundesrepublik 1990 das sozialistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem von heute auf morgen hätten übernehmen müssen … Welche Brüche und Verwerfungen hätte es auf unserer, westdeutschen Seite gegeben?! Vae victis!

Ich traue meinen Augen nicht: ein herrliches, kleines, überschaubares Waldbad. Um 11 Uhr morgens noch wenig bevölkert. Hauptsächlich Niederländer, um nicht zu sagen: Holländer. Alles sehr familienfreundlich, auch die Preise. Ich ruhe mich aus, trinke einen Plastik-Cappucino und entdecke den Bademeister mit Migrationshintergrund. Er fummelt an seinem Handy herum und blickt ab und an auf das nicht sehr bevölkerte Schwimmbecken. Möglicherweise stammen seine Vorfahren aus Vietnam oder von den Philippinen. Wäre wohl im Osten nicht möglich, einem „Nicht-Deutschen“ die Kinder anzuvertrauen?

In das Bergdorf Hohegeiß geht es wirklich hoch, bergauf. Einige Häuser werden renoviert, andere sehen schlimm aus. Der Grenz-Imbiss ist ein Hingucker: Überall deutsche Fahnen und DDR-Nostalgie, wenige Meter von der ehemaligen Grenze entfernt. Ich bestelle mir einen Teller mit der berühmten Erbsensuppe und lausche einem Gespräch Chemnitzer zu, die sich über Frank Schöbel, die Puhdys und Karat unterhalten – alles ehemalige und z. T. noch aktive DDR-Schlager-Größen und Rockbands. Der ältere Herr mit Hund sowie die Gruppe Mittfünfziger aus Chemnitz (warum höre ich da immer noch „Karl-Moorx-Schtott“ in meinem Kopf?) haben sofort eine gemeinsame Ebene.

Nachdem die Gruppe sich verabschiedet hat, kommt der ältere Herr mit mir ins Gespräch. Er ist nach der Wende aus Ost-Berlin nach Hohegeiß gekommen und hat dort ein mittleres Hotel übernommen, was in den ersten Jahren auch gut lief. Irgendwann hat es sich nicht mehr rentiert und er ist mit seiner Frau, einer Illustratorin von Büchern, wieder zurück in den Osten gegangen. Er lebt wenige Kilometer von der Grenze entfernt im  Landkreis Harz. Relativ schnell haben wir eine gemeinsame Linie gefunden, weil er merkt, dass ich, der Viertel-Ossi und Dreiviertel-Wessi, mich mit der DDR-Realität besser auskenne als der Normalo-Wessi. Zudem hat meine Mutter ihre letzten Jahrzehnte in Berlin-Müggelheim verbracht, während A. früher auf der anderen Seite des Sees wohnte. Er prägt auch den Spruch: „Einmal Ossi, immer Ossi“ und – das ist wichtig – es ist von seiner Seite wohlwollend gemeint. Ich weiß nicht, ob ich stolz auf meine Geburt in der SBZ und die Einschulung in der DDR sein soll. Ich habe ja schließlich selber nichts dazu beigetragen.

Wir diskutieren natürlich auch über die Abteilung „Horch und Guck“, die Staatsicherheit der DDR. Er erzählt mir, dass er mal für ein Vierteljahr in seiner Datsche einen Gast gehabt habe, der immer nur am Schreiben war. Der Name: Rudolf Bahro, der in der 2. Hälfte der Siebziger Jahre das vom „Spiegel“ (1977), glaube ich, veröffentlichte DDR-kritische Buch „Die Alternative“ geschrieben hatte.  Irgendwie und irgendwann, so mein Gesprächspartner, seien Telefonleute bei ihm auf dem Grundstück gewesen, aber es hätte sich nichts getan und er wäre auch nicht befragt bzw. verhört worden. Seltsam. Wir machen Fotos, getrennt und zusammen, und tauschen unsere Handynummern aus. Ein neuer Freund, auch wenn er einige Jahre älter ist als ich. Zur Person Rudolf Bahros, seinen politischen und wissenschaftlichen Aktivitäten finden sich bei Wikipedia nähere Informationen.

Auf dem Weg zum Bahnhof Sorge, wo sich ein kleines Grenzmuseum befindet, verfahre ich mich natürlich mal wieder und muss dann über die Bundesstraße 4 nach Sorge. Dort angekommen merke ich, dass mir der „Ring der Erinnerung“ auf meiner Liste fehlt. Also, mal wieder Retour in Richtung Hohegeiß. Ich treffe bei dem in freier Landschaft stehenden B-Turm eine Gruppe von Holländern, denen ich ein paar Erläuterungen auf Englisch geben und mich mit „tot ziens“ verabschiede. In der Tat treffe ich sie in dem Bahnhofsmuseum wieder, wo ein von der Arbeitsagentur unterstützter Mittfünfziger detaillierte, aber auch kritische Aussagen zum Prozess der Wiedervereinigung  macht, wie z. B. dem Verlust der Arbeitsplätze in der ehemaligen DDR. Der Mann kommt aus dem Westen …

Eigentlich habe ich schon genug angesichts der Hitze, aber ich will unbedingt morgen den Brocken rauf. Daher muss ich heute noch Schiercke erreichen. Über die Bundesstraße 27 geht es zunächst nach Elend und dann durch den malerischen Wald nach Schierke. So weit so gut. In Schierke komme ich mir wie ein Aussätziger vor, als ich den hinter der Theke stehenden Gasthaus-Besitzer frage, ob er in seiner Ferienlage noch ein Zimmer für eine Nacht habe. Gehöre ich vielleicht zu der Generation, die keinen Internetzugang hat und über booking.com oder hrs.de nicht herausbekommt, wo noch eine Schlafmöglichkeit frei ist? Ich bin schon auf der letzten Rille hochgefahren, der Akku ist nahezu leer und dann dieser ungläubige, herabschätzende Blick.

Es dauert eine Weile, bevor ich überhaupt eine Antwort bekomme. Sind hier vielleicht noch die Reste der DDR-Gastronomie zu spüren? Ein bekanntes geflügeltes Wort lautete: „Der Gast ist König, und der Kellner ist Kaiser.“ Und in das Beschwerdebuch traute man sich auch nichts Negatives reinzuschreiben, weil es ansonsten beim nächsten Mal wahrscheinlich nichts zu essen und zu trinken gegeben hätte. Ich erinnere mich noch gut: Draußen eine Schlange vor der Gaststätte, drinnen ein paar wenige Gäste, Kellner, die sich miteinander unterhielten, und ansonsten die Tisch mit Schildern versehen („Hier werden sie platziert“) – Irgendwie war man das im Westen nicht gewohnt. Und Reservierungen für den Abend im Voraus und ganz sicher gab es oft nur gegen einen kleinen Fünf-Mark-Schein (DM-West natürlich).

Ich verlasse diesen unfreundlichen Ort und gehe ich die nächste Seitenstraße. Pension. Alles per Telefon. Zimmer noch möglich, aber Wohnung noch nicht sauber gemacht. Egal. Preis verhandelt, runter gehandelt, 40 Euro unter die Kaffeemaschine morgen legen. Im Info-Heft lese ich, dass das Haus früher der Zirkus-Familie Sarrasani gehört habe. Ich erinnere mich an meine Zeit als Zirkuskind beim Zirkus Busch in den Saisons 1957 und 1958. An den Sonntagnachmittag, als der Bär meinen Lufballon haben wollte und mein Vater geistesgegenwärtig dem Bären mit dem Trockenrasierer auf die Tatze kloppte, damit er meine Hand los ließ… Welch ein Schutzengel!

Zum Essen habe ich dann etwas beim Chinesen auf der anderen Seite, dem Schierke gegenüberliegenden Berg, bekommen. Seit 20 Jahren wohnt er schon dort. Alles in Ordnung für ihn.

Kaputt lege ich mich schlafen, die Nacht wird kurz.