Tag 32 und 33 (18./19.08.18): Ruhetage in Stapelburg

Ruhetag: Französische Küche – Spiegelei mit rohem Schinken, Pulverkaffee …

Der Computer, die vernetzte Welt ruft … Wie haben wir das eigentlich früher ohne ausgehalten?

Ehemaliger Grenzübergang Stapelburg: unterirdischer Bunker.  Mittlerweile zubetoniert.

Tag 32 und 33 (18./19.08.18):   Ruhetage in Stapelburg

KM: 980-985

Heute ist Samstag. Es ist eine gute Entscheidung, einen Ruhetag einzulegen. Nachts haben die Oberschenkelmuskel mal wieder derbe gekrampft. Die gestrige Brocken-Überquerung hat ihre Spuren hinterlassen. Aber morgens geht es mir schon viel besser als gestern Abend. Mit dem Schreiben des Tagebuches hänge ich hinterher. Daher: Schnell einige ich mich auf zwei Ruhetage anstatt nur einem. Die gediegen eingerichtete FEWO gibt mir so ein wenig das Gefühl, dass ich hier eine kleine Oase gefunden habe. Arminia Bielefeld spielt und ich höre Radio Bielefeld dabei. Es wird, wie fast immer bei der Drama-Queen, ein Zittersieg: 2:1 gegen die Dynamos aus Dresden. Ein Geschenk an den plötzlich verstorbenen Stadionsprecher, der 35 Jahre lang die Stimme der Alm (Schüco Arena) war.

Ich kaufe Lebensmittel ein, bruzzele mir etwas zurecht, trinke Pulver-Cappucino … nur vom Feinsten. Von meiner Nichte Iris habe ich die Telefonnummer von meinem Cousin Uli erhalten. Ich rufe an und stelle fest, dass er an der Bergstraße in Südhessen wohnt. Erinnerungen werden wach an meine insgesamt zehn Jahre an der TU Darmstadt, das Studium, die vielen Interviews mit Zeitzeugen aus dem NS-Widerstand, an aufrechte Kämpfer wie den Kommunisten Karl Schreiber, der dafür sorgte, dass das KZ Osthofen (Schauplatz von Anna Seghers‘ „Das siebte Kreuz“) nicht in Vergessenheit geriet, an Schwester Ria Ratz, die als evangelische Ordensschwester in Opposition zu den Nazis stand, oder an Alexander Haas, den damaligen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Darmstadt, der mich in der Auseinandersetzung um meine Staatsexamensarbeit / Promotion über Machtergreifung in Darmstadt 1933 sowie Widerstand und Verfolgung in Darmstadt gegenüber dem SPD-Oberbürgermeister verteidigte. Ich erinnere mich an die Zeit in der Hochschulpolitik als Mitglied des damaligen Allgemeinen Studentenausschusses und an die von mir gegründete Georg-Büchner-Edition, die mir zur Veröffentlichung der mehr oder minder auf dem Index stehenden Geschichtsforschungen sowie der von mir produzierten Langspielplatte „Osttangenten-Blues“ diente. Lange ist es her, doch die Erinnerungen an die Auseinandersetzungen, aber auch an die Solidarität und die Unterstützung, nicht nur von der politischen Linken, den Zeitzeugen, sondern u .a. auch von Seiten des damaligen Leiters des Hessischen Staatsarchivs in Darmstadt, Prof. Eckhart G. Franz, sind wach geblieben und holen mich manchmal auch noch ein.

Ich rufe meinen Cousin Uli an. Er ist erstaunt und anscheinend erfreut, von mir zu hören. Ein positives Gefühl, das ich auch in Heiligenstadt bei meinem Cousin Ernst-Georg und seiner Familie hatte. Ich frage nach Gerichtsakten über den Tod unseres gemeinsamen Großvaters, die er angeblich von seinem Vater geerbt haben soll. Nein, Prozess-Unterlagen aus dem Jahre 1961, als der Todesschütze zu eineinhalb Jahren auf Bewährung verurteilt wurde und relativ schnell zur SED-Bezirksleitung nach Erfurt versetzt wurde, hat er nicht.

Mich trifft fast der Schlag, als er mir berichtet, dass sein Vater Ernst davon ausgegangen war, dass es kein Unfall, sondern Mord gewesen sei. An einem klaren, sonnigen Dezembertag könne man auf ca. 20 Meter Entfernung in einer Schonung, in der die Stämme jeweils mehrere Meter auseinander stehen und vielleicht 10 cm dick sind, keinen erwachsenen, schwergewichtigen Menschen mit einem Wildschwein verwechseln und zweimal (!) schießen. Ich muss das zunächst verdauen….. Aus dem vorgesehenen Ruhetag ist so ein emotional aufwühlender Un-Ruhetag geworden.

Am Sonntag habe ich die Möglichkeit, mich lange mit der Besitzerin der FEWO zu unterhalten. Ihr verstorbener Ehemann, der in den 60er Jahren über die Grüne Grenze im Eckertal in den Westen geflohen war, hat das Bauerngehöft nach der Wende schnell wieder zurück erhalten. Danach haben beide es aufwendig restauriert. Sie berichtet von den Schwierigkeiten und den Anstrengungen, die es gekostet hat, sich Anfang der 90er Jahre die Anerkennung der Dorfbewohner im wahrsten Sinne „zu erarbeiten“. Inwieweit auch heute noch Ressentiments vorhanden sind, bleibt unklar.

Ich fahre zum im November 1989 provisorisch errichteten Grenzübergang Eckertal-Stapelburg. Der BGS-Angehörige Lothar Engler hat über die Grenzöffnung am 11. November 1989 eindrucksvoll, auch mit zahlreichen Fotos, berichtet.  Und Werner Tharann aus Bad Harzburg hat die Öffnung der Grenze auf einem Videofilm festgehalten. Ein geplanter Besuch in dem unterirdischen Museum im ehemaligen Grenzübergang zwischen Stapelburg und Eckertal kann nicht stattfinden. Die Frau, die vor zehn Jahren einen Kiosk direkt über dem zu besichtigenden kleinen Bunker betrieben hat, gab nach wenigen Jahren auf. Es fand sich kein Träger, der die Arbeit unterstützte. So ist heute nur noch eine Betonplatte zu sehen. Vielleicht lag es auch daran, dass der Kiosk an dem ehemaligen Grenzübergang nicht mehr lief.