Tag 35 (21.08.18): Von Schöningen nach Oebisfelde

Tagebau bei Schöningen: wird wieder renaturiert

Originalgrenzanlagen bei Hötensleben

Helmstedt: Dors nach vier Wochen wieder on Tour

Gedenkstätte Grenzübergangsstelle Marienborn

Zu DDR-Zeiten undenkbar! Wie ist die Zeit vergangen (12. November 1989 – 21. August 2018)?!

Dors beim Verhör. Er schreibt ein Protokoll.

Schulklasse beim anschaulichen Geschichtsunterricht …  „Schalten Sie Ihr Handy aus!“

Magdeburg 1989: Massenproteste.

Freie Fahrt für freie Bürger …

Der Konsum – ein wesentlicher Teil der DDR-Alltagskultur.

DDR-Grenzpfahl mit E-Bikern

Flussüberquerung bei Seggerde

Pfahlbauten-Schloss in Oebisfelde

Tag 35 (21.08.18):   Von Schöningen nach Oebisfelde

Km: 1060 – 1125

Das Zimmer war im Prinzip in Ordnung. Das Schnarchen des Nachbarn hielt sich in Grenzen. Wie das mit meinem war, habe ich nicht so genau mitbekommen. Das Frühstück war überraschend gut: zwei frisch zubereitete Eier etc. und immer Kaffee mit Milch. So langsam macht sich wieder der Reflux bemerkbar. Tagsüber kaum etwas zu essen, außer Kaffee und ein Stück Kuchen, und abends wird immer reingehauen, was das Zeug hält. Kalorienspeicher auffüllen. Zwischenzeitlich war ich auf der Tour schon mal dünner, aber es gibt auch was Positives: Seit dem Harz sind die Temperaturen erträglicher geworden, so um die 22 bis 26 Grad Celcius, ab und an ein Regentropfen. Eine Wohltat, wenn auch zu wenig für die Natur.

Um 10.43 Uhr kommt Dors aus Bünde mit dem Zug nach Helmstedt. Ich wollte mich extra mit ihm im Westen treffen, damit wir beide gemeinsam über die Grenze fahren können. Vorher mache ich aber schnell einen Abstecher nach Hötensleben , wo die Grenzbefestigung noch original erhalten ist, eine der wenigen Grenzabschnitte, so wie z. B. bei Sickenberg / Allendorf. Ich merke, dass mittlerweile am Tag 35 meiner Reise eine gewisse `Sättigung`, was Grenzanlagen angeht, bei mir eingetreten ist. Ein paar Fotos zur Dokumentation. Das Lesen der Infotafel und dann geht es wieder zurück Richtung Schöningen.  Es sind jetzt noch knapp 16 Km bis Helmstedt. Die schaffe ich in einer Stunde.

Um halb elf bin ich dann da und wundere mich über die Universitätstage in Helmstedt. Welche Universität gibt es denn hier seit neuestem? Pünktlich kommt Dors mit dem Zug angefahren, elch ein Wunder bei der Bundesbahn. Seit vier Wochen hat er mich nur virtuell begleiten können. Die Freude ist groß und einen neuen Fahrradschlauch hat er mir als Geschenk aus der Heimat auch mitgebracht.

Wir fragen uns durch, wie wir in den Osten kommen, zum Glück hat Dors aber auch eine Navifunktion auf seinem Handy geschaltet. Wir fahren durch einen kleinen Wald und fragen einen Ausländer, der kein Deutsch spricht, wo Marienborn ist. Er kommt aus dem Iran und geht gerade in den ‚Westen‘ nach Helmstedt. Durch eine kleine Öffnung im „Moschendrohtzaun“ kommen wir auf ein Kasernengelände der ehemaligen NVA, das derzeit von Asylbewerbern bewohnt wird. Auch hier fragen wir uns wieder nach der Gedenkstätte / Raststätte, nach dem früheren Grenzübergang Marienborn durch. Eine junge Frau, die wohl offensichtlich zu den Betreuerinnen gehört, gibt uns mit einem slawischen Akzent Antwort. Ich kann es natürlich mal wieder nicht lassen und frage sie, woher sie kommt. Als sie Rumänien sagt, lege ich sofort los: „De unde sunteti in Romania? Am fost doua ani in Republica Moldova. Am locuit si lucrat in Chisinau la Academia de Stiinte…!“ Ihr fällt fast die nicht vorhandene Gebiss raus, und es ist eine Freude, mal wieder mit jemand Rumänisch zu sprechen, zu fragen, woher in Rumänien sie kommt, und zu erzählen, dass ich zwei Jahre in Chisinau gelebt und gearbeitet habe. Sie erzählt von ihrem Mann, ihrem Studium in Dortmund, ihrer Rückkehr nach Rumänien und der Jobmöglichkeit jetzt bei den Asylbewerbern. Dors schaut etwas ungläubig, freut sich aber mit mir.

Kurz danach sind wir auch schon auf dem Bundesautobahnparkplatz, auf dem noch viele der Gebäude der GÜST Marienborn im Original erhalten sind. Dors erzählt davon, wie er als 15-Jähriger mit seinem Vater auf der Transitstrecke nach Berlin unterwegs war, und zeigt mir die Stelle, wo sie alles aus dem VW Passat auspacken mussten, alles Schikane und sehr einschüchternd. Das war System von oben.

Ich gehe zu dem Laufband, auf dem die Pässe und Kfz-Papiere transportiert wurden. Ich erinnere mich an Sonntag, den 12. November 1989, als wir mit meiner damaligen Frau Ute und den drei Kindern im Alter von sechs und zwei Jahren und drei Monaten nach Berlin gefahren sind, um meinen Bruder Klaus und seine Familie zu besuchen. Es war eine eigenartige Stimmung. Schon im Westen kamen uns auf der gegenüberliegenden Fahrbahn Kolonnen von DDR-Fahrzeugen entgegen. Trabbis all over the place. Etwas, was man sich vorher nie hätte vorstellen können. Der Ton der DDR-Grenzsoldaten war merklich moderater – oder habe ich mir das im Nachhinein etwa nur eingebildet?

In West-Berlin am Brandenburger Tor war es ein Feeling wie ein politisches Woodstock. Menschen auf der Mauer sitzend, trinkend, feiernd, Bilder wie von einem anderen Stern …, auch das Hallo und die Überraschung, als wir dann endlich gegen halb sieben in Pankow zum Abendessen kamen, völlig unerwartet, da die Telefon- und Telegrammleitungen in diesen Tagen, die Weltgeschichte geschrieben haben, total blockiert waren. Am 15. November habe ich dann noch mit zwei anderen Kolleginnen meiner Schule drei Busse organisiert und wir sind in 30 Stunden praktisch ohne Schlaf mit 150 Schüler/innen nach Berlin gefahren und haben uns z. T. als Mauerspechte betätigt. Geschichtsunterricht live …

Vor dem Museumsgebäude treffen wir eine Gruppe von Fachoberschüler/innen, die gerade an einer Führung teilnehmen. Die Führerin erzählt anschaulich und engagiert, ein Teilnehmer wird aufgefordert, sein Handy wegzulegen und ich …, ich werde aufgefordert zu erzählen, wie das am 9. November war. Ich merke, ich gehöre so langsam zu den seltenen Exemplaren, die die Zeit vor, während und nach der Wende bewusst mitbekommen haben. Man wird alt. Wir schauen uns noch gemeinsam das Museum mit seinen vielen Exponaten an, auf ein spontanes Gespräch mit der Museumsleitung über didaktische Fragestellungen verzichte ich …, will Dors nicht damit nerven.

Mir wird bewusst, dass wir uns auf der Höhe von Magdeburg befinden, ca. 40 Km entfernt. Es ist das Jahr 1965, ich höre den Deutschen Freiheitssender 904, einen mit viel Beatmusik betriebenen Propagandasender der DDR, der seit dem Verbot der KPD in der Bundesrepublik im Jahre 1956 von Burg  bei Magedburg ausgestrahlt wird. Zu Pfingsten wird die gesamtdeutsche fortschrittliche Arbeiterjugend nach Magdeburg eingeladen. Friedensfreunde aus der Bundesrepublik seien willkommen, brauchen vorher kein Visum zu beantragen. Wie schon berichtet, fahre ich von Hann. Münden nach Bebra/Herleshausen und werde dort zuerst mal vom Bundesgrenzschutz befragt, verhört, was ich denn in Magdeburg wolle und ob mein Vater überhaupt damit einverstanden sei. Ich war 16 Jahre alt. Mein Vater war zum Glück telefonisch erreichbar und so durfte ich fahren. Wie bereits erwähnt, war dies mein erster Vermerk bei den Sicherheitsorganen der BRD … – nicht zu vergessen meine Aktivitäten gegen die Notstandsgesetze.

Nachdem ich also meine Großmutter und Verwandte in Heiligenstadt mit meiner Kreidler Florett besuchte hatte, fuhr ich durch den kalten und regnerischen Harz nach Magdeburg. Eigentlich unvorstellbar heute. Plötzlich hieß es, dass die westdeutschen Friedensfreunde, ich vermute im Nachhinein, dass es sich bei den meisten der 20 Anwesenden um Mitglieder der 1956 verbotenen KPD gehandelt haben muss, zu einer Gesprächsrunde mit dem Genossen Walter Ulbricht , dem 1. Generalsekretär der SED, kommen sollten. „Nu, wie sieht es mit dem Kampf der Arbeiterklasse in Westdeutschland aus?“, so muss es wohl gewesen sein. Andächtig stehe ich im Abstand von wenigen Metern neben dem Genossen Generalsekretär und lausche seinen Ausführungen …

Orts- und Zeitwechsel: gut vier Jahre später. Sauerland, Bildungsstätte. Seminar. Fähnrich in Kassel bei der Bundeswehr. Auftrag, dem vor wenigen Monaten aus dem Amt geschiedenen Bundespräsidenten Heinrich Lübke mit einer kleinen Abordnung von Soldaten einen Glückwunsch im Namen der Bundeswehr auszusprechen. Am 14. Oktober 1969 sitze ich bei Heinrich Lübke, an den genauen Ort kann ich mich nach nahezu fünf Jahrzehnten nicht mehr erinnern (Birgits Großtante wohnte in Enkhausen und die wußte, dass H. Lübke seine letzten Jahre dort verbracht hat – Wikipedia weiß es auch), zuhause auf dem Sofa und wir gratulieren ihm zu seinem 75. Geburtstag. Es fällt ihm schwer, Worte des Dankes zu finden … Er bemüht sich, aber wir merken, dass er wirklich krank ist. Seit diesem Zeitpunkt habe ich keinen der weit verbreiteten Witze über Heinrich Lübke mehr gemacht, er war krank, heute würde man es wohl fortschreitende Zerebralsklerose nennen ..seine Rolle als Baumeister von KZs im Dritten Reich war mir da noch nicht so bewußt .

Von Marienborn fahren wir mit unseren beiden E-Bikes über Beendorf, Schwanefeld, Saalsdorf, Gehrendorf nach Oebisfelde. Unterwegs versuchen wir uns an den Pflaumen, die aber noch nicht ganz reif sind. Wir kommen mit einem ca. 50-jährigem Spaziergänger ins Gespräch, für den die frühere deutsche Teilung kein Thema mehr ist. Früher war eigentlich alles im Großen und Ganzen in Ordnung und heute …, heute geht es uns gut.

Wir glauben nicht, dass wegen Bauarbeiten die Aller-Brücke gesperrt ist, und nehmen den direkten Weg in die nächste Ortschaft. Pustekuchen. Die Straße endet bei einer großen Baustelle. Zurück und 10 Kilometer Umleitung fahren? Zwei Brückenbauer erklären uns, dass es hier nicht weitergehe, es sei denn …, ja, da wäre ein kleiner Steg, da sei neulich zwar schon einer baden gegangen … . Im Trippelschritt, darauf vertrauend, dass das Wasser schon nicht so tief ist, bringen wir Fahrrad und Gepäck sicher rüber. Die Bauarbeiter beschweren sich über die die „faulen Rumänen“, die als Sub-Sub-Arbeitnehmer – als Eisenbieger und Betonarbeiter – mitgeholfen haben. Bevor wir uns nach Sachsen-Anhalt über den Fluss begeben können, kommen uns zwei ‚Grenzgänger‘ entgegen: ein etwa 12-jähriges Mädchen mit Kopftuch und ihr ein paar Jahre jüngerer Bruder, vermutlich Kinder von Asylbewerbern. Sie werden hinter der Baustellenabsperrung im Westen von einer Frau in den Fünfzigern mit dem Auto erwartet. „Beeilt euch …!“ – Ein Beispiel für die Willkommenskultur in der alten Bundesrepublik …

In Oebisfelde fällt mir als erstes das Plakat des gerade durchziehenden Klein-Zirkus auf,  Veranstaltung 18:00 Uhr. Ich erinnere mich an die Saisons 1957 und 1958, als mein Vater Lehrer der Zirkuskinder beim Zirkus Busch Roland war. Ein  Zirkuswagen mit einem kleinen Klassenzimmer für fünf Schüler/innen: Belita und Arlene – italienische Akrobatnummer auf dem Fahrrad (der Onkel war Silvio Franceso, Bruder von Caterina Valente), Charly Ruppert (seine Eltern hatten eine Bärennummer) und natürlich Ossi, der Sohn des Direktors Hoppe, der nachmittags und abends als 7-Jähriger mit einem großen Elefanten in der Manege stand …, und ich zwischendrin. Spielen im Gradin, unter den Sitzreihen, alle Tage an einem anderen Ort, aber von Füssen (Schloss Neuschwanstein) bis Hamburg (Heiliggeistfeld – St. Pauli) habe ich alles mal kurz gesehen …

Doch zurück zur Fahrradtour. Bei einem Stopp bricht mein Fahrradständer ab. Hätte ich mal nur die schwerere Packtasche von Ortlieb auf die rechte, äußere Seite gepackt! Hätte, hätte: Fahrradkette. Dors und ich finden nach einigen erfolglosen Versuchen noch ein wirklich schönes, gerade eröffnetes Hotel am Markt und gehen abends in eine Pizzeria um die Ecke zum Essen. Das Essen ist vorzüglich, der Wein zu süß, das entspreche aber dem lokalen Geschmack, sagt zumindest der sizilianische Besitzer, der schon über 10 Jahre im Osten ist. Seine Frau kommt, wie sich herausstellt, aus Kirgisien. „Otkuda wi? Ya bil 10 mezezov v Moskwe“ – na ja, wenn schon, denn schon! Rumänisch hat an diesem Tag wohl nicht gereicht …

Ach ja, fast hätte ich es vergessen! Heute vor 40 Jahren sind die Truppen des Warschauer Vertrages, im Westen sagte man Pakt, in die CSSR einmarschiert und haben dem sich anbahnenden politischen Umbruch, dem so genannten Prager Frühling, ein gewaltsames Ende bereitet. 20 Jahre später hat es dann mit der Öffnung der Grenzen in Ungarn geklappt.