Tag 40 (26.08.18): Von Hitzacker nach Zarrentin

Hitzacker, die Musikstadt, am frühen Sonntagmorgen

Fährmann, hol über …!

Denkpyramide in der Nähe von Vockey: Steine aus geschliffenen Häusern

frischer Blumenschmuck in der Schutzhütte mit Infotafeln

Auf dem Elbe-Deich gegenüber von Bleckede: ordentlich Gegenwind

Hinweistafeln zum Grenzverlauf

Das Tor zur Freiheit …?

Sind das niedersächsische Pferdeköpfe oder sachsen-anhaltinische?

Enkel, Vater und Großvater (unischtbar) lassen am Sonntagmorgen einen Drachen steigen: genug Wind ist ja da …

Boizenburg (fast) in Sicht: die Einsamkeit des Fahrradfahrers bei Gegenwind

Boizenburg: Gemälde von Grundschüler/innen

Gedenkstein „Zwölf Apostel“ mit Blick auf die Elbe in Boizenburg

„Checkpoint Harry“ an der ehemaligen F 5 (Transitstrecke Hamburg-Berlin)

Harrys Imbiss: mit „sozialistischen“ Fliesen-Grüßen

Ein letztes, gemeinsames, deftiges Essen (Bratkartoffeln …)

KZ-Außenstelle Neuengamme: ehemalige Küchenbaracke, jetzt Seminarraum

Grenzmuseum bei Leisterförde, errichtet mit Unterstützung von Schüler/innen aus Ost und West

Aufruf zu Protesten gegen Regierung und Staatsmedien vor und nach 1989 …?

A 24: Autobahnraststätte Gudow: lang, lang ist es her, … dass ich sonntagsabends losfuhr…

Zarrentin: Blick auf den Schaalsee in der Abendsonne

Tag 40 (26.08.18): Von Hitzacker nach Zarrentin

KM:  1335 – 1416

Frühstück gibt es erst um acht, eigentlich viel zu spät für Dors, der unter seniler Bettflucht leidet. Kurz vor acht schickt er mir eine WhatsApp, dass er schon oben im FS-Raum auf mich wartet … Im Gegensatz zu gestern ein Frühstück vom Feinsten, frisches Obst etc.  Der Fährmann ist ab 9 Uhr morgens erreichbar. Als wir zur Fährstelle kommen, hat er schon die erste Fuhre mit Fahrrad-Touristen übergesetzt. Wir sind die einzigen Fahr-“Gäste“. Mit dem burschikosen „Du“ kann er was anfangen und erzählt aus seinem Leben: Geboren Anfang der 50er Jahre in der kleinen Enklave, die bis 1945 zur Provinz Hannover gehörte, in der ersten Hälfte der 70er Jahre durch die Elbe geflüchtet, hat er zunächst jahrzehntelang im Westen als Kraftfahrer gearbeitet, nach der Wende das elterliche Gehöft zurück erhalten, es dann verkauft und schließlich ein anderes Gebäude zu seinem Haus hergerichtet. Es ist das pralle ost-west-östliche Leben, aus dem er erzählt. Seine Enkel sagen zu ihm: „Opa, du bist ja ein richtiger Wossi.“ – Diese Worte machen mich nachdenklich. Bin ich nicht auch eigentlich ein Wossi, ein Wanderer zwischen zwei Welten, der an seinem Lebensende zu seinen DDR-Wurzeln zurückkehrt, sich zumindest darüber wieder bewusst wird? Wie hatte Achim in Hohegeiß gesagt? –  „Einmal Ossi, immer Ossi?“

Die wenigen Minuten auf dem Strom vergehen viel zu schnell. Wieder eins der vielen Geschenke auf dieser Reise … Dors fragt fachkundig nach, wie er das mit der Hydraulik der Laderampe hinbekommen hat. „Alles vom Schrott oder aus alten Baumaschinen geholt und zusammengebastelt!“ Wir verabschieden uns und geben ihm eine Spende. Er freut sich. Ich sage zu ihm: „Mach‘s gut und halt die Ohren steif“ – Er erwidert nur: „Ja, das ist aber auch noch das einzige, was steif wird.“ – Mitten aus dem prallen Leben!

Oben auf dem Damm werden wir von vier jungen Männern erwartet. Sie machen sich etwas lustig über unsere E-Bikes. Als sie die bisherigen Stationen der Reise hören, ändert sich ihre Einstellung etwas. Sie sind so zwischen 30 und 40 Jahre alt, sind zu Fuß unterwegs und haben die Nacht im Zelt auf einer Elbwiese verbracht. In den Westen sind sie dabei nicht abgehauen, ist ja heute auch nicht mehr notwendig. Irgendwie erinnere ich mich an meine eigenen Touren, als ich noch jünger war: die Nacht im Weinberg auf der Insel Elba, total zerstochen von Mücken, oder später, als ich schon in Herford lebte, die Nacht auf einer Ruine in der Nähe von Rinteln während der Rucksackwanderung im Weserbergland von Porta Westfalica nach Hameln. Lang ist es her und kommt auch nicht wieder zurück …

Es ist klar: Dors wird (leider) heute wieder nach Ostwestfalen zurückfahren. Ich muss sehen, dass ich die gestern nicht gefahrenen Kilometer nachhole. Es ist immer noch windig. Wir bewundern die Fahrradfahrer, die mit Gepäck und ohne Akku-Unterstützung elbabwärts fahren. Ab und zu, wenn wir auf dem Deich fahren müssen, haben wir einen herrlichen Blick auf die Elbe und die angrenzenden, mittlerweile wieder saftig grünen Wiesen. Ein bayrisches Musketier kommt uns mit seinem Mountain-Bike und wenig Gepäck entgegen. Breite Reifen und volles Rohr voraus. Mit Rückenwind zum Glück. Er macht so ca. 100 km am Tag, so lange es flach ist, vermute ich.

Bei Bleckede ist die Fähre auch nicht in Betrieb. Wir fahren weiter nach Boizenburg, das keinen besonderen Charme verbreitet. Dors will nach Lauenburg und dann von dort mit der Bahn zurück fahren. Oberhalb der Werft geht es bergauf aus der Stadt heraus. An der Straße bzw. dem Fahrradweg sind von Schüler/innen zu unterschiedlichen Themen bemalte Stellwände zu sehen. Sie rufen zu Vielfalt, Toleranz und Frieden auf. Ich freue mich. Auf der Höhe angekommen, machen wir Pause und sehen eine Gedenktafel und einen Gedenkstein für in den letzten Jahren umgekommene KZ-Häftlinge, die in der Werft arbeiten mussten und in einem Außenlager des KZ-Neuengamme untergebracht waren.

In Richtung Lauenburg kommen wir nach wenigen Minuten zum ehemaligen Grenzübergang an der Fernstraße 4, der Interzonen-Straßenverbindung zwischen Hamburg und West-Berlin, genauer gesagt an der ersten Kontrolle ca. 5 Km vor dem eigentlichen Übergang. Ein kleiner Grenzturm mit ein paar Info-Tafeln, die sich im Erdgeschoss befinden. Audios bieten einen anschaulichen Eindruck von der Situation an der Grenze. Eine Aufladestation für E-Autos ist in der Nähe, nicht aber für E-Bikes. Wir gehen ins Checkpoint Harry  und fragen nach einer Auflademöglichkeit für unsere Akkus. Kein Problem. Ebenso ein deftiges Mittagessen mit Burgunderbraten, Rotkohl und Salzkartoffeln. Wir schlagen uns im Osten nochmal richtig voll, bevor Dors sich im Westen wieder auf vornehmlich vegetarische Kost umstellt. An den Nachbartischen sitzen wirklich gut genährte Menschen. Ich denke nur an Kotelett mit Sättigungsbeilage in Preisstufe 2 für 2,65 MDN (Mark der Deutschen Notenbank) und das Bier für 43 Pfennige … Welch ein Kontrast zu dem gestrigen Hitzacker-Publikum! Als wir unsere aufgeladenen Akkus wieder aus der Gaststube holen, fallen uns die vielen DDR-Exponate auf, Uniformteile, Fotos, und es ist das erste Mal, dass ich eine Original DDR-Verfassung neben anderen Schriften ausliegen sehe.

Mit einem weinenden Auge nehme ich Abschied von Dors und gehe dann über die Straße in die ehemalige Küchenbaracke des KZ-Außenlagers. Die Museumsaufsicht erzählt mir stolz, wie sie sich im Laufe der Jahre in die Geschichte des Lagers eingearbeitet hat. Bis auf ihren Urlaub ist sie immer am Wochenende hier. Nach der Wende ist in Boizenburg alles platt gemacht worden, kaum noch Fabriken, auf der Hauptstraße ist heute auch nichts mehr los, aber ihren Sohn in Kiel, einen studierten Astro-Physiker, hat sie neulich besucht. Es scheint mir, dass es ihr wie so vielen ehemaligen DDR-Bürgern meiner Generation geht: eine Mischung aus Bedauern über die Verluste nach der Wende und gleichzeitig ein Frohsein über Reisemöglichkeiten und andere ökonomischen und politischen Annehmlichkeiten.

Es ist halb vier und ich werde heute noch bis Zarrentin am Schaalsee fahren, also zwei von Stefan Esser vorgeschlagene Etappen zu einer verbinden. Schließlich habe ich mich ja mit meiner Tochter Elena morgen Abend in Hamburg zum Fußballspiel HSV – Arminia Bielefeld verabredet und mir vorgenommen vorher, Montag, bis Ratzeburg zu kommen. Ich fahre über Nostorf, Schwanheide und Langelehsten Richtung Zarrentin. Ich komme nach Leisterförde, das zum Amt Boizenburg-Land gehört, an einem kleinen Grenzmuseum vorbei, das sehr gut die DDR-Genzanlagen veranschaulicht. Schüler/innen aus Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern haben bei der Errichtung mitgeholfen. An der Eingangstür gibt es einen politisch-pädagogischen Hinweis: Die friedliche Revolution von 1989 habe gezeigt, dass es auch heute darauf ankommt, sich gegen „Regierung und Staatsmedien“ einzusetzen. Ist der Verfasser der Meinung, dass die durch die SED gelenkten DDR-Medien mit den heutigen öffentlich-rechtlichen gleichzusetzen sind? – Spricht hier etwa die AFD?

Als ich die Autobahn A 24 überquere, sehe ich einen Trucker in kurzer Hose und Unterhemd, wie er sich gerade etwas zu essen bruzzelt. Ich erinnere mich an meine Zeit bei der Spedition Koch (Neuss) und meine Zeit als Fernfahrer im Frankreichverkehr. Es war im Dezember 1977. Ich halte auf meiner Rückfahrt von Paris auf der Autobahnraststätte Metz oben auf dem Berg an und kaufe noch ein paar Flaschen Wein in der Tankstelle ein. Als ich nach zehn Minuten zurückkomme, traue ich meinen Augen nicht mehr. Der gesamte Sattelschlepper inklusive vollgeladenem Auflieger stand nicht mehr an seinem Platz. Er war ca. 10 m von alleine auf dem Parkplatz in Richtung Autobahnfahrstreifen zurückgerollt. Ich hatte vergessen, die Handbremse anzuziehen, vielleicht weil mir das Gelände als eben erschien. Zum großen Glück wurde ein Reifen des Sattelschleppers von der Kante einer kleinen Grüninsel gestoppt. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn der herrenlose, vollgeladene Laster weiter auf die Autobahn gerollt wäre! Ich wäre meines Lebens nicht mehr froh geworden. Ein weiteres Mal nach dem Erlebnis mit dem Bären im Zirkus, bei dem ich einen Schutzengel hatte oder wie man es sonst nennen will.

In Zarrentin bin ich zunächst vom Schaalsee in der Abendsonne beeindruckt. Einige Hotels sind schon ausgebucht bzw. zu teuer. Mit Glück finde ich noch eine Unterkunft in einer Gaststätte/Pension, die auch noch den Charme der früheren DDR verströmt. Ein kleiner Einkaufsladen, ein junges, tätowiertes Paar kauft sich gerade große Gummibärchen oder so was Ähnliches, ein Mann noch schnell ein paar Bier für den Abend und im Gastzimmer an der Theke sitzen ein paar Experten, die erstmal blauen Dunst in die Luft pusten. Egal. Ich bin froh, ein sauberes Zimmer zu einem vernünftigen Preis im Anbau bekommen zu haben. Die Speise- und Getränkekarte hat es später in sich: 0,2 l Bier für 1,20 Euro, der Schnaps für 80 Cent. Ich traue meinen Augen nicht und fühle mich in  alte DDR-Zeiten versetzt. Ich bestelle mir ein Bauernfrühstück, der mit einem Riesensalatteller serviert wird, und habe zu kämpfen. Dem Ehepaar aus Oldenburg geht es genauso.

Als ich nach dem Essen noch einen Verdauungsspaziergang am Schaalsee mache und den aufgehenden Mond beobachte, der sich im Wasser spiegelt, merke ich, wie ich irgendwie auf Eiern gehe. Diese Doppeletappe mit ordentlich Gegenwind am Anfang hat es in sich gehabt. 80 KM  sind trotz E-Bike eine Herausforderung. Wieder ein Tag, über den ich froh bin, dass ich ihn erleben durfte.