Tag 19 (05.08.18): Heilbad Heiligenstadt
Tag 19 (05.08.18): Heilbad Heiligenstadt
Km: 630 – 652
Nach dem Frühstück fährt Ellen wieder in den Schwarzwald zurück, nicht ohne dass wir auf dem Bahnhofsvorplatz noch ein Erinnerungsfoto gemacht haben. Ellen fotografiert mich sitzend auf genau derselben Bank, auf der es im Sommer 1958, also zwei Jahre nach der DDR-Flucht meines Vaters mit mir, das letzte gemeinsame Familienfoto gegeben hat. Die vier Kinder in der Mitte, drei davon einheitlich gekleidet, sowie Vater und Mutter jeweils an den Außenrändern. Dies sollte der letzte Versuch der Familienzusammenführung sein … Die Trennung von meiner Mutter war bitter, aber letzten Endes bedeutete sie doch einen gewissen inneren Frieden, der angesichts der permanenten Eheauseinandersetzungen in den ersten Jahren meiner Kindheit nicht vorhanden war …
Nachdem ich Ellen im Zug nach Kassel hinterher gewunken hatte, habe ich erstmal versucht, eine preiswertere Unterkunft in Heiligenstadt und Umgebung zu finden. Mehrere telefonische Anfragen bei Hotels und Gaststätten waren erfolglos, weshalb ich zunächst etwas enttäuscht in die Stadt fuhr und schließlich einem Schild mit dem Hinweis auf eine Übernachtungsmöglichkeit folgte. MCH war dort zu lesen, als Abkürzung für Marcel-Callo-Haus.
Ich staunte nicht schlecht, als ich Unter den Linden, eigentlich müsste es Lindenallee heißen, vor dem ehemaligen bischöflichen Konvikt stehe, einer Ausbildungseinrichtung für den Priesternachwuchs. Mittlerweile wird es als Familien- und Jugendbegegnungsstätte genutzt. Nachmittags kurz vor zwei ist die Tür verschlossen. Ich zögere, entschließe mich dann aber doch zu klingeln. Mehr als eine Absage kann es auch nicht geben, wenn überhaupt jemand da ist! Doch die Tür öffnet sich und eine etwas irritierte, zunächst unschlüssige Frau hört sich meine Geschichte an: in Heiligenstadt geboren und jetzt auf der Durchreise… Irgendwie muss ich wohl einen hilfsbedürftigen, aber doch noch halbwegs seriösen Eindruck gemacht haben. Ich darf jedenfalls mein Gepäck dort lassen und soll zwischen fünf und sechs wiederkommen. Ein Zimmer sei vorhanden.
Ohne Gepäck geht es steil zum Iberg-Gasthaus hoch. Ich habe die Gelegenheit, mit Herrn M. und seinem Vater zu sprechen, der mich noch von früher kennt und der mit seinem Sohn zusammen die Gastwirtschaft in der vierten Generation führt. Diese früher sehr beliebte Ausflugsgaststätte über der Stadt bietet einen herrlichen Ausblick auf Heiligenstadt. Wir sprechen über das Schicksal meines erschossenen Großvaters, auch über meinen Vater und meine Tante Rosemarie, die auch oft zu Gast war. Schließlich treffe ich noch einen über 80-jährigen Heiligenstädter, der zu DDR-Zeiten seinen Angaben zufolge immer Kontra gegeben, ansonsten aber seine Geschäfte gemacht hat.
Abends sitze ich nach dem gemeinsamen Abendessen mit der aus Jena angereisten katholischen Kinder- und Jugendgruppe – beim Beten und anschließendem Kreuzzeichen werde ich ein wenig argwöhnisch beäugt! – unter der herrlichen Linde im Innenhof des Konvikts und versuche meinen Rückstand im Tagebuchschreiben aufzuholen. Ich komme mit M., einem pädagogischen Mitarbeiter des Hauses, der erst seit kurzem hier im katholischen Eichsfeld ist, ins Gespräch. Ursprünglich kommt er vom Niederrhein, hat aber lange Zeit in Zwickau gelebt. Man merkt ihm an, dass er Theologie studiert hat und wir sind sehr schnell in ein sehr persönliches Gespräch über Gott und die Welt, das Transzendentale, aber auch über verschiedene Stationen in unserem Leben vertieft. Es entwickelt sich ein sehr persönliches Gespräch, das in den nächsten Tagen noch nachwirkt. Meine lebensgeschichtliche Reise, der Versuch nach sieben Jahrzehnten eine vorläufige Bilanz zu ziehen, ist dabei der Ausgangs- und Anknüpfungspunkt.