Tag 21 (07.08.18): Heilbad Heiligenstadt
Tag 21 (07.08.18): Heilbad Heiligenstadt
KM: 652 -692
Am nächsten Morgen merke ich, dass der letzte Abend doch etwas zu lang war, zuerst Wein und dann Bier, wohl etwas zu viel bei der Hitze. Man ist halt nicht mehr der Jüngste. Um halb zehn fahre ich hoch zum Forsthaus in Heiligenstadt, ohne volle Gepäcktaschen, es ist ein langer Anstieg, aber mit dem Turbogang des Boschmotors meines E-Bikes geht es ohne Probleme den Berg hoch. Das Forsthaus hat nicht geöffnet, nur an Wochenenden. Eigentlich schade, aber doch wohl realistisch.
Um halb elf kommt Bernhard Fahrig, ein früherer leitender Forstbeamter im Forstamt Heiligenstadt. Bernhard hat im vergangenen Jahr mit Freunden den Gedenkstein für meinen auf der Jagd erschossenen Großvater im letzten Jahr restauriert, mit Bürsten die erhabenen Buchstaben wieder deutlich herausgearbeitet und dann die Buchstaben mit weißer Schrift lesbar gemacht. Die Thüringer Allgemeine hat darüber am 1. Juli 2017 berichtet.
Bernhard ist angesichts der lang anhaltenden Dürre um die Natur sehr besorgt. Er zeigt mir die Risse im Trampelpfad zum Gedenkstein. Es ist ein Bild wie im Sommer in Spanien oder Süditalien. Wo soll das mit dem Klimawandel noch hinführen? Er zeigt mir die vielen braunen Blätter, die auf dem Waldboden liegen. Ich stelle ihm die Frage, was in ein paar Jahren, Jahrzehnten unsere Kinder und besonders unsere Enkel uns fragen werden, was unser Beitrag zum Temperaturanstieg war. Wir haben – vielleicht – unsere Eltern nach ihrer Rolle im Dritten Reich gefragt. Werden unsere Enkel uns nach unseren Konsum- und Reisegewohnheiten in den letzten 30 oder 40 Jahren fragen? Ich interviewe Bernd auf der Bank sitzend. Zum Abschied bekomme ich eine Flasche Schnaps mit selbst aufgesetzter Wildkirsche geschenkt, die ich dann und wann ‚zur Feier des Tages‘ öffne und mir einen Schluck genehmige.
Es ist so heiß, dass ich erst mal wieder ins Konvikt fahre und mich eine halbe Stunde auf das Bett lege und die relative Kühle genieße. Um viertel nach eins hilft trotzdem nichts: Barbara hat freundlicherweise um zwei einen Termin für mich in der Schule in Beuren ausgemacht. Ich verschätze mich in der Entfernung und komme in der Gluthitze zehn Minuten zu spät an. Ich traue meinen Augen nicht. Drei noch sehr rüstige 80-Jährige und ein Mittsechziger, eine frühere Englisch- und Deutschlehrerin, begrüßen mich freundlich.
Welch ein Unterschied zwischen den alten DDR-Schulen und der Montessori-Grundschule, die sich jetzt in dem Gebäude befindet. Die Schulräume sind bunt bebildert eingerichtet, man fühlt sich gleich wohl, Kuschel- und Sitzecken inklusive. Man spürt den Hauch von Montessori-Pädagogik. Oben unter dem Dach befindet sich ein kleines historisches Kabinett, wie man in der ehemaligen DDR wohl sagen würde. Sehr liebevoll eingerichtet, alte Schulbänke, Zeugnisse, Klassenbücher, Trachten und sogar eine kleine DDR-Ecke mit FDJ- und Pionierhemd sind vorhanden. Und hier habe ich also meine ersten drei Jahre, von Ende 1948 bis Mitte 1952, verbracht. Es überfällt mich ein seltsames Gefühl. Ich werde nachdenklich. Vielleicht ist es auf dem Foto zu sehen?
Später sind wir bei Herrn R. und seiner Frau zuhause zum Kaffee eingeladen. Es werden verschiedene Storys über meinen Vater erzählt. Zwei Anwesende hatten bei ihm Mathematik und Sportunterricht. Sein Ansehen als Pädagoge war hoch, weil er allen Schwimmen beigebracht und Fahrradtouren unternommen hat. Was mich allerdings sehr verwundert hat, waren seine ‚handfesten‘ Argumente, von denen die Schüler berichteten. Backpfeifen schienen an der Tagesordnung zu sein und ein aufmüpfiger Schüler landete im Rahmen eines Boxkampfes wohl auch mal im Kohlekasten neben dem Ofen … Heute wohl alles unvorstellbar, aber in der damaligen Zeit war es gang und gäbe und die Schüler wagten sich dann nicht nach Hause, weil die Eltern vielleicht die rote Backe hätten sehen können und es nochmal eine gesetzt hätte. Ich bin verwundert ob dieser Berichte. Mein Vater hat mich trotz aller Probleme und Auseinandersetzungen nie geschlagen …
Das alte Pfarrhaus wird restauriert. Wehmütig schaue ich mir den verkleinerten Garten an. Hier habe ich Ostereier mit meiner Tante Meyer gesucht, eine der glücklichen Stunden meiner Kindheit ebenso wie die Besuche später bei ihr, als wir schon in Röhrig wohnten. Mein Vater auf dem Motorrad, ich als kleiner Stepke auf dem Tank sitzend, bei Wind und Wetter von Röhrig nach Beuren und zurück. Haarsträubend heute, wenn man an die Sicherheitsvorschriften denkt …
In der Dorfkirche von Beuren übt ein junges Mädchen mit der Gitarre moderne Kirchenlieder, ein Lehrer unterstützt sie dabei. Einige Momente der Einkehr, der Harmonie. Vor der Kirche fegt eine Frau in meinem Alter die Straße und beseitigt das Gras in den Ritzen. Wir sind auf dem Eichsfeld. Auch sie trauert ein wenig der DDR-Zeit, dem Zusammenhalt im Dorf nach, aber stolz berichtet sie von den Fahrradtouren, die sie mit ihrem Mann an Donau und Mosel gemacht hat.
Auf dem Rückweg nehme ich wieder den Fahrradweg über Wingerode und Bodenrode, weil die Bundesstraße 80 zu gefährlich ist. In den Dörfern auf dem Weg nach Heiligenstadt fallen mir die vielen Neubauten und die schön renovierten Fassaden der Fachwerkhäuser auf. Es scheint Wohlstand vorhanden sein, was man auch an den Autos auf der Straße sieht.
Nach einem kurzen Boxenstopp in einer Dönerbude geht es noch schnell in die evangelische Martinskirche, wo M`s früherer Schulkamerad ein kurzes, improvisiertes Orgelkonzert für einige Gäste des Marcel-Callo-Hauses gibt. Es zerreißt mir fast die Brust, so eine musikalische Gewalt strömt auf mich ein. Ein Auf und Ab an lauten und leisen Tönen, die mir ins Mark gehen… Ich denke, irgendwie ist es symbolisch für den Verlauf meines bisherigen Lebens, zumindest der ersten Jahre im Eichsfeld.