Tag 22 (08.06.18): Heilbad Heiligenstadt – Röhrig

Schwimmbad in Uder: Bockwurst für einen Sprung vom Ein-Meter-Brett

                                                                                           Röhrig

Schulhaus in Röhrig

                                                                            Einschulung in Röhrig 1955

Nach 63 Jahren: Foto mit meiner Schulkameradin H. und ihrem Mann G.

Total ausgetrockneter Waldweg von Röhrig nach Uder: Vorsicht Schotter

Drei Generationen: mit meiner Großnichte und ihrem Kind

Meine Großnichte und ihr Kind. Die Biene-Maja-Klingel scheint interessant zu sein

Tag 22 (08.08.18) : Heilbad Heiligenstadt – Röhrig

KM: 692 – 719

Am nächsten Morgen fühle ich mich ausgeschlafener, erholter. Um halb elf bin ich mit ehemaligen Schulkameraden in Röhrig (Quitschen Röhrchen), das mittlerweile zur Verwaltungsgemeinschaft Uder gehört, verabredet. Auf dem Weg dorthin besuche ich das Freibad in Uder, in dem ich als Sechsjähriger Schwimmen und Springen vom Ein-Meter-Sprungbrett gelernt habe. Ich wollte partout nicht, aber mein Vater hat mich mit einer Bockwurst gelockt: „Wenn du runter springst, bekommst du eine Bockwurst.“ Schließlich, nach langem Überlegen und voller Angst bin ich dann in die Arme meines Vaters gesprungen. Die Bockwurst, die damals viel für mich bedeutete, hatte ich mir teuer verdient. Später war Wasser nie mehr mein Element. Wohl ein Ergebnis dieser Bockwurst-Herausforderung.

Der langsame Anstieg nach Röhrig erinnert mich an das Fahren mit dem Roller den Berg runter, das Schubsen meines Bruders Hannes und den dadurch verursachten Sturz. Ich habe geheult. Später erzählte er mir, dass ich ihn dafür irgendwann mal mit dem Küchenmesser auf dem Tisch festgenagelt hätte. Ungläubig schaute ich mir seine Narbe an. Sollten diese kindlichen und frühkindlichen Spannungen zwischen dem Erstgeborenen und dem Zweitgeborenen, der lange Zeit als ‚Erstgeborener‘ und Einzelkind von der Oma mütterlicherseits verwöhnt und bevorzugt wurde, einer der Gründe für die familiären Spannungen sein?

Ich fahre den Berg hoch nach Röhrig, malerisch am Waldrand gelegen, mein Herz schlägt schneller. Ich spüre, dass sich hier in diesem kleinen Eichsfelder Bauerndorf der Fünfziger Jahre ein Teil meiner Wurzeln befindet. Ist es diese Mischung aus katholischer Eichsfelder Dickköpfigkeit und Geradlinigkeit sowie dem protestantischen Arbeitsethos meiner Mutter, dem evangelischen Flüchtlingsmädchen aus der Nähe von Lodz, die mich haben werden lassen, was ich in nahezu sieben Jahrzehnten geworden bin?

Im Dorfzentrum befindet sich das frühere Schulgebäude, wo ich bis zum 29. Juni 1956, dem katholischen Feiertag Peter und Paul, mit meinen Eltern und meinen drei Brüdern gelebt habe. Ich erinnere mich an traumatische Situationen, als nachts meine Mutter wutentbrannt das Geschirr durch das geschlossene Fenster geworfen hat, weil mein Vater mal wieder spät und im feuchtfröhlichen Zustand nach Hause gekommen war. Ich habe auch wieder meine Einschulung im Herbst 1955 vor Augen und die Peinlichkeit, dass es mir nicht gelang für das Einschulungsfoto meine zu lange Unterhose hochzuziehen. Sie ‚lugte‘ unter der Lederhose raus, was mir sichtlich unangenehm war.

Ich erinnere mich schemenhaft an den Tag der Flucht mit meinem Vater nach West-Berlin. Ein guter Freund von ihm aus Heiligenstadt hatte ein Taxiunternehmen. „Vati, wo fahren wir hin?“ „Wir fahren nach Berlin. Wir gehen jetzt in den Westen“, antwortete mein Vater. Herr K. holte meinen Vater und mich in Röhrig ab und brachte uns über Feldwege nach Ost-Berlin. Die Kontrollen der Volkspolizei vor der Einfahrt in das Ostberliner Stadtgebiet mussten umgangen werden. Als Lohn für diese, für alle nicht ungefährliche Fahrt, erhielt er von meinem Vater den Fernsehapparat, an dem wenige Monate vorher noch die ganze Dorfjugend die olympischen Winterspiele in Cortina d`Ampezzo mitverfolgt hatte.

In Ost-Berlin habe ich auch noch eine Straßensituation vor Augen. Als Polizisten uns entgegenkommen, sagt mein Vater mir, wir sollten jetzt sicherheitshalber auf den gegenüberliegenden Bürgersteig gehen. Die wenigen Tage in dem Notaufnahmelager Berlin-Marienfelde, durch das bis zum Bau der Mauer im August 1961 Hunderttausende auf ihrem Weg von der DDR in die Bundesrepublik gekommen sind, sind mir nicht im Gedächtnis haften geblieben. Ich weiß nur noch, dass wir mit einem amerikanischen Flugzeug in Wiesbaden-Erbenheim gelandet sind und mein Vater seine Uhr an eine Stewardess verkauft hat, um die Fahrkarten nach Wiesbaden, unserer ersten Anlaufstation im Westen, bezahlen zu können.

Vor der ehemaligen Schule in Röhrig denke ich auch an meinen damaligen besten Freund Heinz K., mit dem ich viel Zeit verbracht habe und mit dem ich mich später nach der Flucht aus der DDR immer noch an und ab getroffen habe. In seiner Jugend ist er ein sehr guter Fahrradfahrer geworden und war wohl auf Bezirksebene erfolgreich – ein Beispiel für die erfolgreiche Talentförderung des staatlichen Sportsystems in der DDR. Später hieß es, er sei mit Mitte Fünfzig verstorben.

Nach einem kurzen Besuch in der Kirche, wo sich drei Familien für den bevorstehenden Kuchenbasar im Nachbarort angemeldet haben – eigentlich etwas wenig für einen Ort mit ca. 200 Einwohnern – gehe ich zum Haus von H. und G. Sehr freundlich werde ich von G., der zwei Jahre älter ist als ich, begrüßt. Wir gehen in die gute Stube und H. und ich stellen fest, dass wir zur selben Zeit im Herbst 1955 eingeschult worden sind – welch eine Überraschung und Freude! Beide können sich noch an meine Eltern als Lehrer/innen erinnern, mehr aber wohl an meinen Vater, der vor allem wohl bei den jüngeren Leuten im Dorf beliebt war, u. a. weil er den ersten Fernseher besaß und Torwart der Fußballmannschaft war. Daran, dass im Januar 1956 bei den Olympischen Winterspielen in Cortina D`Ampezzo bei uns zuhause das ganze Wohnzimmer voll war, was meiner Mutter mit den vier Kindern natürlich nicht so passte, kann ich mich auch noch vage erinnern.

Wir sprechen über unsere unterschiedlichen Werdegänge, das Aufwachsen und Erwachsenwerden in der DDR und der Bundesrepublik, die Probleme mit den Kindern, die nicht zur Jugendweihe gehen wollten und deshalb nicht den gewünschten Beruf erlernen durften bzw. über den Zwang, in die Partei einzutreten, um den gewünschten Beruf erlernen und ausüben zu können, den Spagat im katholischen Eichsfeld seinen Glauben leben und gleichzeitig sich beruflich verwirklichen zu können.

Wir kommen auch auf die Veränderungen nach der Wende zu sprechen, die Schließung der großen Textil- und Papierfabriken in Heiligenstadt und Leinefelde, die im Zuge des ‚Eichsfeldplans‘ der SED in den Sechziger und Siebziger Jahren errichtet wurden und oft Konsumgüter für die BRD produzierten. Die persönlichen Verwerfungen, die durch Entlassungen, Umstrukturierungen und die Übernahme eines anderen Gesellschafts- und Wirtschaftssystem entstanden, sind natürlich auch ein Thema. Es entwickelt sich ein sehr persönliches, vertrauliches Gespräch, auch über positive und negative Erfahrungen und Sorgen so, als ob man sich schon immer gut verstanden hätte und wir in den vergangenen sechs Jahrzehnten immer in Kontakt geblieben wären. Meine frühere Klassenkameradin bietet mir selbst gemachten (Himbeer?)-Saft zu Trinken an. Ich trinke Glas für Glas. Es ist mir fast schon etwas peinlich. Angesichts der Hitze der letzten Tage haben sie – so denke ich – aber Verständnis dafür. Ich bin ja schließlich mit dem Farrad unterwegs.

Der Besuch dauert länger als geplant. Hildegard und Gerhard laden mich zum Mittagessen ein. Bevor ich die köstlich schmeckenden neuen Kartoffeln und das Gemüse aus dem eigenen Garten genießen kann, wird gebetet. Es ist für mich, der sich schon mehrere Jahrzehnte von der katholischen Amtskirche entfernt hat, ohne ganz die Beziehung aufgegeben zu haben, eine überraschende Situation. Auch ich beende das Gebet mit dem Kreuzzeichen, was ich im Marcel-Callo-Haus in Heiligenstadt beim Abendtischgebet mit der Jugendgruppe aus Jena noch verweigert hatte.

Wir kommen dann auf die anderen Klassenkameraden zu sprechen. Zu meiner großen Überraschung und Freude erzählt mir Hildegard, dass mein alter Kumpel und Freund Heinz K. noch am Leben sei und im nahen Worbis wohne. Ich kann es nicht fassen. Wahrscheinlich der schönste Moment auf meiner bisherigen Reise in die eigene Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Bei dem Angebot ihn anzurufen und mit ihm zu sprechen, zögere ich noch ein wenig. Heinz weiß sofort Bescheid, als Hildegard ihm sagt, hier sei sein alter Kumpel aus Röhrig, der ihn sprechen wolle. Ich kämpfe mit meinen Gefühlen, genau wie beim Schreiben dieser Zeilen: Es ist nicht zu fassen. Nach nahezu sechs Jahrzehnten sprechen wir einmal wieder miteinander und verabreden uns für meinem nächsten Besuch im Eichsfeld.

Nach dem Mittagessen fahren wir gemeinsam zur Schule und machen Fotos. Es war eine gute Idee, dass ich nicht nur ein großes Stativ für Aufnahmen mit Selbstauslöser mitgenommen hatte, sondern auch ein so genanntes ‚Gorillapad‘, das mir diente, wenn ich vom stehenden oder fahrenden Fahrrad aus Fotos oder Videos machen wollte. Vor der Schule, auf derselben Stufe wie vor 63 Jahren, stehen wir also nun und versuchen in die Kamera zu lächeln. Wenn ich wieder zuhause in Herford bin, werde ich das Bild aus dem Jahre 1955 herauskramen und vergleichen.

Schließlich fahren G. mit Auto und ich natürlich mit dem E-Bike steil den Berg hoch zum Sportplatz: Das Gras ist braun, verbrannt und schon seit Jahren kein Fußballspiel mehr. Für eine Mannschaft gibt es nicht mehr genug Interessenten. Eine ähnliche Entwicklung wie in den Orten jenseits der Grenze. Auf dem Sportplatz habe ich noch genau vor Augen, wie mein zweitgeborener Bruder und ich im Bollerwagen hinter dem Tor, das mein Vater beim Fußballspiel hütete, saßen … und uns über den für uns als Kinder nicht mehr auszuhaltenden Streit der Eltern unterhielten.

Durch den sehr trockenen Wald, einem schlecht zu fahrenden Schotterweg folgend, gelange ich nach Uder, wo ich meine Großnichte Iris besuche. Ihr kürzlich errichtetes Haus befindet sich in einem Neubaugebiet, dem man ansieht, dass der wirtschaftliche Wohlstand das Eichsfeld drei Jahrzehnte nach der Wende mehr als erreicht hat. Iris zeigt mir alte Fotos, schenkt mir das Hochzeitsbild ihrer Großeltern väterlicherseits und wir tauschen Anekdoten aus, teilweise unbekannt und zum Schmunzeln geeignet, aus der wechselvollen Familiengeschichte der Familie Pingel,  besonders der Väter und Großväter …

Auf dem Nachhauseweg versuche ich in der Alten Burg, einer Gaststätte zwischen Heiligenstadt und Uder, einzukehren. Hier hat mein Vater, als wir mit dem Motorrad in der Fünfziger Jahren unterwegs waren, wie gesagt: er auf dem Sitz und ich vor ihm auf dem Tank, öfters Rast gemacht. Am Nachmittag um fünf hängt ein Schild an der Eingangstür: ‚heute nur mittags geöffnet‚.  Ich vermute, mittags steht geschrieben, dass nur abends geöffnet sei. In der Stadt fahre ich erstmal zu REWE und hole mir in der  Fleischabteilung ein Viertel Thüringer Mett,  dazu ein paar Brötchen …und schlinge es mit Heißhunger runter.

Abends falle ich müde ins Bett. Der Tag war sehr schön und erlebnisreich, aber emotional auch sehr anstrengend.