Tag 15 (01.08.18): Von Berka/Werra nach Creuzburg
Tag 15 (1.08.18) : Von Berka/Werra nach Creuzburg
Km: 512 – 547
Ich stehe morgens gegen sieben Uhr auf und setze mich in der Gaststube an den schön gedeckten Tisch. Die Frau, die gestern Abend im Wesentlichen den ganzen Thekendienst und den Service alleine durchgeführt hat, ist schon wieder auf den Beinen und hat das Frühstück für die Gäste vorbereitet. Die Erlebnisse und Einstellungen der DDR-Zeit sind ihr nach wie vor greifbar und wirken sich im Denken und Handeln aus. Nach einem dreiviertel Jahr im hessischen Bad Wildungen ist sie wieder nach Berka an der Werra zurückgekommen. Ebenso wie die Besitzerin der Gaststätte gehört sie einer Generation an, die anscheinend ein doch etwas anderes Koordinatensystem als ‚wir‘ aus dem Westen in der Regel haben.
In Gerstungen auf dem Bahnhof, wo früher die Interzonenzüge anhielten, um von Seiten der DDR bei der Ein- und Ausreise kontrolliert zu werden, treffe ich Thomas. Er ist Anfang fünfzig, in Nordhausen geboren, und arbeitet als Lokomotivführer. Er kennt die Situation und die Örtlichkeiten in Gerstungen zu DDR-Zeiten auch nur vom Hörensagen sowie von Fotos. Wieder diskutieren wir die Mentalitätsfrage, Unterschiede zwischen Ost und West, wenn es z. B. um Extraschichten geht. Ehemalige DDRler sind seiner Ansicht nach eher bereit, dem Dienststellenleiter bei Krankmeldungen aus der Patsche zu helfen.
Ein Blick einige Jahrzehnte zurück. Es ist das Jahr 1964. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie ich von dem DDR-Zoll aus dem Interzonenzug geholt werde, weil man bei mir aus der BRAVO ausgeschnittene Bilder der Beatles und Rolling Stones gefunden hat. Ich wurde zwei Stunden verhört und man teilte mir mit, dass solche Fotos in der DDR nicht erwünscht seien. Tante Rosemarie wartete auf mich in Heiligenstadt. Meiner Bitte, bei ihr von der Grenzstelle anrufen zu dürfen, wurde entsprochen. Ich sagte ihr, dass wohl hier „eine harte Welle“ zur Zeit angesagt sei und ich später kommen würde. In Heiligenstadt angekommen, fragte sie mich ganz entsetzt, ob ich nicht wüsste, dass alle Gespräche abgehört würden … Das war mir eigentlich egal. So ging es dann mit dem ersten Arbeiterzug nach Eisenach morgens kurz vor sechs weiter. Die neugierigen, etwas mitleidigen Blicke der Arbeiter habe ich noch konkret vor Augen.
In Herleshausen befand sich jahrelang der Straßenübergang zwischen der DDR und der BRD. Erstmalig komme ich im Mai 1965 mit dem Bundesgrenzschutz in Berührung. War es der in der DDR zu Propagandazwecken Richtung Westen in der Nähe von Burg ausgestrahlte Soldatensender oder der Deutschlandsender? Ich weiß es nicht mehr: Es wurden auf alle Fälle die westdeutschen Friedensfreunde zum gesamtdeutschen Pfingst-Jugendtreffen in Magdeburg eingeladen. Das Wichtigste: Man musste nicht wochenlang vorher ein Visum beantragen, sondern konnte direkt zur Grenze fahren und es dort erhalten.
Der BGS staunte nicht schlecht, dass ich als 16-Jähriger mit meinem Kleinkraftrad Marke Kreidler dort angefahren kam. Zunächst wurde im Betrieb meines Vater angerufen, der telefonisch seine Zustimmung geben musste. Über Heiligenstadt (Besuch meiner Oma und Tante) und den Harz fuhr ich dann nach Magdeburg. Dazu aber später Genaueres. Auf alle Fälle wunderte ich mich vier Jahre später, dass ich zu Beginn meiner dreijährigen Bundeswehrzeit während der Grundausbildung in Lüneburg an einem Montagmorgen vom Militärischen Abschirmdienst (MAD) verhört wurde. Der MAD wollte wissen, weshalb ich nach Magdeburg gefahren sei. Seit dem Jahr 1965 hatte ich wohl eine Akte bei den Sicherheitsbehörden der Bundesrepublik. Im Gegensatz zu heute waren allerdings Verfassungsschutz und MAD wohl nicht elektronisch vernetzt, ansonsten hätte ich wohl die Prüfung zur Aufnahme als Offiziersanwärter in Köln nicht bestanden …wohl auch wegen einer 1965 von mir organisierten Diskussion zu den Notstandsgesetzen in Hann. Münden….
Gute zehn Jahre später (war es 1976 oder 1977? – ich weiß es nicht mehr) fuhr ich mit meinem Renault 4 und einigen Freunden vom Marxistischen Studentenbund Spartakus aus Darmstadt nach Weimar, um u. a. auf Einladung der SED oder der FDJ politische Gespräche zu führen und das KZ Buchenwald zu besuchen. Auf der Rückfahrt war die Begrüßung durch die Bundesgrenzschutzbeamten auch sehr aufschlußreich: „Na, wart ihr auf Geschäftsreise im Osten?“ – Anscheinend waren nicht nur die Staatssicherheit der DDR, sondern auch der Verfassungsschutz und der Bundesgrenzschutz der BRD gut informiert.
In Herleshausen komme ich mit Annita ins Gespräch, die hier geboren wurde, aber jahrzehntelang in Kassel gewohnt hat, bevor sie mit ihrem Mann das elterliche Haus wieder bezog. Sie bietet mir freundlicherweise Obst und etwas zu trinken an. Gastfreundschaft. Erneut diskutieren wir die unterschiedlichen Mentalitäten in OST und WEST, allerdings auch die zunehmende Rechtsentwicklung in Thüringen. Sie versucht Klaus Gogler, den (!) Experten in Herleshausen zur deutsch-deutschen Geschichte, zu erreichen und uns bekannt zu machen. Schließlich klappt es.
Klaus Gogler ist schon vom Äußeren eine beeindruckende Persönlichkeit. Groß gewachsen, Rauschebart, Haarzopf kommt der 67-Jährige mit seinem Mountainbike sportlich angeradelt und sprudelt all seine Informationen über die Situation während der 40-jährigen Existenz der DDR heraus. Es ist beeindruckend. Er fährt mit mir zum Flußwehr in der Werra, den ehemaligen Grenzbaracken des Straßenübergangs, von denen leider nichts mehr zu sehen ist, ebenso zum Bahnhof Herleshausen. Dort wurde er geboren, also auf DDR-Hoheitsgebiet. Sein Großvater, obwohl Bürger der BRD, war Beschäftigter der DDR-Reichsbahn – allein der Name schon ein gewisser Antagonismus. Im Bahnhofsgebäude befindet sich heute ein Museum, das sich schwerpunktmäßig mit der Geschichte der letzten Kriegsheimkehrer aus der Sowjetunion beschäftigt. Herleshausen war erste Station in der Bundesrepublik.
Obwohl wir nun schon mehrere Stunden gemeinsam verbracht haben und uns auch unsere Lebensgeschichten en passant erzählt haben, begleitet mich Klaus, der im übrigen 2011 die Tour entlang des Grünen Bandes in 30 Tagen absolviert hat, auf seinem Fahrrad nach Creuzburg. Klaus ist ein wandelndes Lexikon. Natur, Grenzgeschichte, Menschen diesseits und jenseits des Zaunes – er hat einfach alles im Kopf!
In Creuzburg versuche ich nahezu vergeblich eine Unterkunft zu finden. Schließlich landen wir in dem Gasthaus ‚Zur Torpforte‘ mit schönem Hinterhof, nahe am Felsen gebaut. Wir treffen ein Ehepaar aus Oldenburg, das vier Tage entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze gewandert ist. Erholung pur. Klaus ist ein sehr kommunikativer Mensch, nach mehreren Bier und Magenbittern wird er von seiner Frau abgeholt. – Wir versprechen uns, in Kontakt zu bleiben.