Tag 16 (02.08.18): Von Creuzburg nach Großburschla
Tag 16 (02.08.18): Von Creuzburg nach Großburschla
KM: 547 – 582
Die Nacht, als der Regen kam…
In der stickigen Ferienwohnung, die sich in den letzten Tagen der Gluthitze höllenähnlich aufgeheizt hatte – man spricht mittlerweile vom Jahrhundertsommer -, musste ich das Fenster aufmachen. Jedes Auto, das auf der Straße vorbeifuhr, war zu hören. Es war mir egal. Ich habe es genossen, als es plötzlich anfing, etwas zu regnen. Eine wahre Erholung.
Das sparsame Frühstück gerät noch spärlicher durch das Gespräch mit der Mutter der Wirtin, ehemalige DDR-Unterstufenlehrerin: „Man darf ja heute nichts mehr sagen, es gibt keine Meinungsfreiheit“. Auf die Gegenfrage, ob es denn diese zu DDR-Zeiten gegeben habe, wird mir geantwortet, dass sich im Kollektiv alle einig gewesen seien und man offen habe reden können. Wenn da mal die Abteilung Horch und Guck (Staatssicherheit) das auch so gesehen hätte. „Den Politikern kann man heute sowieso nichts mehr glauben. Und was alles im Essen heutzutage ist“. Die Ernährung in der DDR sei viel besser gewesen. Von den vielen Flüchtlingen wollen wir gar nicht sprechen. Es hört sich nach Verschwörungstheorien an, Verherrlichung der DDR-Zeiten. Und natürlich zum Schluss: bekennende AFD-Wählerin.
Kein Wunder, dass ich aus Creuzburg kommend nach der doch etwas zu kurzen letzten Nacht und dem sehr interessanten Gespräch – ich frage mich, ob ich nicht deutlicher hätte Kontra geben sollen – diesen Ort so schnell wie möglich verlassen sollte. Alle Cafés und Gaststätten hatten am frühen Morgen noch zu und ich trat meine ‚Flucht‘ nach vorne an. Nach ca. einer Stunde merke ich dann, dass ich den ehemaligen Grenzverlauf verlassen habe und mich auf dem schönen Fahrradweg entlang der Werra befinde. Auf einer überdachten Bank, wenige Meter über der malerischen Werra gelegen, mache ich dann Rast, aber nur um auf dem Laptop meinen Rückstand von einigen Tagen beim Tagebuchschreiben zu verkürzen. Ein älteres Ehepaar fährt auf dem Fahrrad mit dem etwas scheuen Enkelkind aus der Nähe von Stuttgart vorbei. Nein, die eigenen Kinder wollen nicht mehr nach Thüringen zurück. Sie haben studiert und wohnen in Großstädten.
Vorbei an ’sauberen‘, modernen (kleinen) Industriebetrieben komme ich nach Mihla. Direkt gegenüber der Kirche, die leider verschlossen ist, aber deren Innenraum durch Scheiben betrachtet werden kann, befindet sich ein Döner-Imbiss. Der Gastraum ist belegt von einer drückenden, schwülen Hitze. Ich bestelle mir eine Dönertasche und trinke Ayran. Nachher komme ich mit dem Dönerbudenbesitzer ins Gespräch. Er lebt und arbeitet in Mihla seit 18 Jahren, davon 10 Jahre selbstständig. 80 Stunden die Woche, sieben Tage die Woche, außer über die Weihnachtsfeiertage.
In die alten Bundesländer wolle er nicht. „Nein, dort kann ich meine Kinder nicht richtig großziehen. Alles nur ‚Misch-Masch‘, dort werden meine Kinder weder richtige Türken-Kurden noch Deutsche.“ Er fühlt sich hier wohl, wird sogar von der Nachbarin, die für die NPD im Stadtrat sitzt, akzeptiert. Er fühlt sich als Ausländer, die Fremden jedoch aus Ungarn, Polen und Rumänien seien für die einheimische Bevölkerung keine richtigen Ausländer.
Entlang der Werra komme ich nach Frankenroda. Dort treffe ich Willi, Jahrgang 1945, der schon seit ca. 40 Jahren im ehemaligen Sperrgebiet wohnt. In der DDR war er politisch immer aufsässig. Den Einmarsch in die CSSR 1968 hatte er kritisch gegenüber gestanden und sich geweigert im Rahmen einer Unterschriftenaktion diesen gutzuheißen. Als Folge war er zunächst aus der SED geflogen, dann wegen staatsfeindlicher Propaganda zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden. Relativ schnell jedoch konnte er nach der zweimonatigen Bewährungsprobe im Gleisbau wieder in seinem alten Beruf als Maschinenführer arbeiten.
Die Wende hat er schnell „verkraftet“, als zweiter im Ort ein West-Auto, einen Audi, angeschafft, und damit kam natürlich auch der Neid in der dörflichen Gesellschaft auf. Dass die Bewohner des Sperrbezirks eine Extra-Zulage bekommen haben sollen, war mir neu, wurde aber im Laufe meiner Reise des Öfteren bestätigt. Im Winter 1989/90 habe er sich schnell zurecht gefunden, weil er – wie viele andere auch – die Unterschiede zwischen Ost und West zu Tausch- und Kaufgeschäften genutzt hatte.
In Treffurt komme ich relativ verschwitzt gegen halb sechs an und versuche so langsam eine Unterkunft zu finden. In der Nähe eines kleinen ‚Grenzhäuschens‘, in dem man mit dem einen Bein in Thüringen und dem anderen in Hessen steht, finde ich einen Handzettel: Übernachtungsmöglichkeit in Großburschla, einer ehemaligen DDR-Enklave, die in der Nähe von Eschwege/Wanfried in die Bundesrepublik hineinreichte. Nach einigen Kilometern und mehrfachem Durchfragen finde ich die relativ neue Pension kurz vor der Grenze zu Hessen. Die Unterkunft ist zwar sauber, aber das Speisenangebot übersichtlich und der Internetzugang lässt – wie so oft – sehr zu wünschen übrig.