Tag 17 (03.08.18): Von Großburschla nach Heilbad Heiligenstadt
Tag 17 (03.08.18): Von Großburschla nach Heiligenstadt
Km: 592-630
Gut ausgeschlafen stehe ich auf und freue mich auf das Kloster Hülfensberg. Nachdem ich mit meinen Tagebucheinträgen hinterherhinke und morgens mindestens einen Tag abarbeiten muss, komme ich so gegen halb zehn los. Es sollen wieder über 30 Grad werden. Ich komme mit der Wirtin ins Gespräch: Großburschla ist zu DDR-Zeiten wegen des seltsamen Gernzverlaufs aus der DDR nur über einen eigens gebauten Damm zu erreichen gewesen. Die Kinder der Wirtsleute haben studiert und leben teilweise in der Nähe von Braunschweig. Die Wirtin macht sich Sorgen, was mal mit ihr und ihrem Ehemann später im Alter werden soll – die Kinder soweit entfernt.
Nächste Station ist Wanfried, das ein wahrlich schön restauriertes Fachwerkhaus als Rathaus besitzt. Im Hof befindet sich eine Aufladestation für E-Räder. Übrigens: In Wanfried wurde am 17. September 1945 das so genannte Wanfrieder Abkommen zwischen der sowjetischen und US-amerikanischen Besatzungsmacht abgeschlossen. Zwischen Eichenberg und Werleshausen verlief die Nord-Südstrecke der Eisenbahn wenige Kilometer über thüringisches Gebiet, das zur sojwjetischen Besatzungszone gehörte. Durch den Austausch von kleineren thüringischen und hessischen Gebieten wurde es den Amerikanern ermöglicht, ihre Truppenzüge ungestört von Bremerhaven in den Süden Deutschlands laufen zu lassen.
Von Wanfried fahre ich mit dem stärksten Gang meines E-Bikes den Berg nach Döringsdorf hoch. Ein steiler Anstieg. An der Stelle, wo früher die Grenze verlief, haben Anfang der 90er Jahre Katholiken aus dem Eichsfeld ein großes Kreuz zur Erinnerung an die Teilung Deutschlands aufgestellt. Ein Steinwurf entfernt befindet sich eine kleine Kapelle. Ich zünde wie so oft, wenn ich in einer Kirche bin, drei Kerzen an.
Bei der Weiterfahrt traue ich meinen Augen nicht. Es kommen vier jugendliche Reiterinnen auf der Straße den Berg hochgeritten und passieren das große braune historische Hinweisschild, das darüber informiert, dass hier bis zum 25. Dezember 1989 um 6 Uhr in der früh Deutschland und Europa geteilt gewesen seien. Die erste Reiterin kommuniziert mit ihrem Handy, die anderen drei trotten hinterher… Ich vermute mal, dass ihnen gar nicht bewusst ist, dass hier die Grenze verlief, geschweige denn dass Menschen und Generationen vorher getrennt waren und Leid erfahren haben.
Den sehr steilen Aufstieg zum schon seit Jahrhunderten bestehenden Kloster Hülfensberg schafft mein E-Bike gut. Oben angekommen habe ich eine herrliche Aussicht von der Kanzel. Sowohl die Kirche als auch die Kapelle haben etwas Eigenartiges, es ist wie in vielen Gotteshäusern eine starke Spiritualität zu spüren. Die Kühle tut ebenso gut.
Ich will mich bei Bruder Rudolf für den häufigen E-Mail-Verkehr bedanken. Vor wenigen Tagen habe ich eine Absage erhalten, dass ich die von mir geplanten drei Tage zur Einkehr, zur Besinnung und zum Rückblick auf die bisherige Reise nicht im Kloster verbringen kann. Man sei ausgebucht bis zum Oktober. Trotzdem kommt es zu einem kurzen Treffen mit dem Franziskanermönch, der aus Ostwestfalen stammt und seit einigen Jahren mit zwei seiner Mitbrüder die Tradition des Kolsters fortsetzt.
Er berichtet von den Ereignissen des Jahres 1989, insbesondere der Tatsache, dass der damalige nur noch allein das Kloster bewohnende Pater am frühen Morgen des Weihnachtstages 1989 eine Messe mit 1000 Gläubigen aus den umliegenden Orten abhielt, bevor sie gemeinsam zum neu errichten Grenzübergang gegangen sind und die 400 schon wartenden Menschen aus dem Westen trafen. Welch ein historischer Moment muss dies nach all den Jahren der Teilung gewesen sein!
Da ich nicht direkt auf der Straße nach Heiligenstadt fahren will, geht es mal wieder über einen Feldweg, zunächst zweimal in die Irre mit Endstation, bevor ich den richtigen, schmalen Pfad finde, dann aber zweimal das Gepäck abschnallen muss, um schließlich alles einzeln, Fahrrad und Gepäck, über einen Baumstamm zu heben.
In Geismar erhalte ich freundliche Auskunft. Eine Gaststätte, die auf hat, gibt es zwar nicht, aber einen Netto-Supermarkt: „Geh doch zu Netto“. Es ist alles unwirklich für mich. Nagelneuer Supermarkt hier im ehemaligen Sperrgebiet. Man kann herrlich abkühlen im Inneren und der mindestens zehn Jahre ältere, drahtige Radfahrer, den ich dort antreffe, fährt täglich noch einige Stunden.
Nach Volkerode und Kella, wo mein Vater 1945 angefangen hat zu unterrichten, komme ich, wie ursprünglich geplant, heute nicht mehr. Ich sehe zu, wie ich in der sengenden Hitze durchs hügelige Eichsfeld nach Heiligenstadt in das gebuchte Wellnesshotel gelange. Über Ershausen fahre ich in der Mittagshitze durch verschlafene Dörfer wie z. B. Lehna, Rüstungen und Dieterode Richtung Norden. Zum Glück erlaubt mir die nette Wirtin in Dieterode meinen Akku wieder aufzutanken. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Tettau lässt grüßen. Der Schmandkuchen, wohl eine Eichsfelder Spezialität, ist ein Gedicht. Von den Dieteröder Klippen, sie sehen wirklich so aus, hat man einen herrlichen Ausblick in das südliche Eichsfeld, bis in den Westen.
Über Kalteneber geht es hoch zum Fortshaus im Heiligenstädter Stadtwald. Ich suche den Gedenkstein für meinen auf der Jagd erschossenen Großvater, der am 11. Dezember 1960 dort in seinem Revier bei einer Treibjagd von einem Mitglied der SED-Kreisleitung, einem unerfahrenen Jäger, durch zwei Schüsse getötet worden ist. Der Todesschütze wurde im folgenden Jahr dann zu eineinhalb Jahren auf Bewährung wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Die Umstände – es war klare Sicht und die Bäume weit auseinander stehend – bleiben bis heute mysteriös. Der Gedenkstein war seinerzeit von meinem Onkel Ernst aufgestellt und ist in den letzten Jahren von ehemaligen Forstkollegen, u. a. Bernhard Fahrig aus Niederorschel, mit neuer Farbe restauriert worden.
Auf der Sitzbank erinnere ich mich an die bedrückenden Tage des Dezember 1960, an die Totenmesse im Heiligenstädter Redemptoristenkloster, die Beerdigung auf dem Friedhof unter massenhafter Anteilnahme der Bevölkerung. Ein schreckliches Ereignis, das mir bis heute in Erinnerung bleibt…
Kontrastprogramm: Ich fahre an dem ehemaligen Haus meiner Großeltern vorbei, das mittlerweile verkauft wurde, und gelange zum Best Western Hotel, dem ein Schwimmbad mit Saunalandschaft angeschlosssen ist. Mit meinem Gepäck komme ich mir irgendwie fehl am Platze vor.
Ellen, meine Frau, kommt aus dem Schwarzwald mit der Bahn angereist. Nach drei Wochen haben wir uns viel zu erzählen und verbringen einen netten Abend auf der Terrasse des Hotels.