Tag 24 (10.08.18): Von Sickenberg nach Bremke

Bio-Bauernhof in Sickenberg

Schafzucht

Bio-Bauernhof mit Garten

auf dem Kolonnenweg bei Schifflersgrund bergab zur Werra

Jublläum im Grenzmuseum – eine neue didaktische Konzeption wird erarbeitet

Zu Gast bei vier rüstigen Heiligenstädtern – Hallesche Macke

Im schönen Werratal bei Lindewerra

In der Stockmacherwerkstatt in Lindewerra

Blick von der Burg Hanstein in den „Westen“

Blick auf die Burg Hanstein

Blick von der Teufelskanzel bei Lindewerra

Tag 24 (10.08.18):  Von Sickenberg nach  Bremke

KM: 741 – 783

In dem alten Bauernhimmelbett habe ich herrlich geschlafen, die abgekühlte Luft hat das Ihrige getan. Die Besitzerin, Frau Bauer, serviert das Frühstück im Garten in der zum Glück noch etwas kühlen Morgensonne, umgeben von dem Bauerngarten, den ich schon am Vorabend bewundert habe. Wenn nicht ab und an Autos vorbei fahren würden, könnte man meinen, man sei in den Fünfziger Jahren.

Ich komme beim Frühstück mit C. ins Gespräch. Ohne große Emotionen erzählt er mir, dass er im Jahre 1988 als Jugendlicher eine Republikflucht in Ungarn inszeniert habe, um möglichst schnell freigekauft zu werden und ausreisen zu können. Auf mein „Warum?“ gibt er eine kühle, emotionslose Antwort: „Ich wollte frei sein, selbst über mein Leben bestimmen und mich entwickeln können.“ Nicht umsonst arbeitet er jetzt als Selbstständiger im IT-Bereich und hat diese Entscheidung zur Republikflucht nie bereut, auch wenn die Mauer ein Jahr später geöffnet wurde.

Vor der Abreise komme ich noch kurz mit der Besitzerin des Bauernhofes ins Gespräch. Kurz nach der Wende hat sie dieses Gehöft erworben und nach und nach restauriert. Wir sprechen über die unterschiedlichen Mentalitäten der Menschen in Ost und West bzw. über die Veränderungen nach 1989. Viele Reisende am Grünen Band kehren bei ihr ein. Sie berichtet u. a. von einem jungen Fotografen, der alle 15 Minuten auf seiner Wanderung ein Foto gemacht habe. Dieser habe davon gesprochen, dass das Grüne Band, die ehemalige deutsch-deutsche Grenze, nach wie vor eine „Narbe“ sei, die Deutschland durchzieht. Dieses Bild, diese Metapher finde ich sehr interessant, da womöglich noch viele Menschen in Deutschland, wohl mehr im Osten als im Westen, ihre z. T. verdeckten Narben aus der DDR-Zeit oder Nach-Wende-Zeit mit sich herumtragen. Gehöre ich auch dazu?

In der Gedenkstätte Schifflersgrund, die ich erneut besuche, habe ich spontan die Möglichkeit, mit dem gerade ernannten jungen Leiter der Einrichtung über das pädagogische Konzept zu diskutieren, insbesondere die Frage, wie man Schülerinnen und Schülern das Thema der Deutschen Teilung nahe bringen kann. Er ist ein profunder Kenner der Entwicklung des Eichsfelds während der DDR-Zeit und ein Beispiel für die Ausbildung vieler junger Menschen: geboren in Thüringen, Studium in Hessen, berufliche Rückkehr nach Thüringen. Es macht mir Spaß, mit ihm historische und didaktische Fragestellungen zu diskutieren. Ich merke, dass ich einigen Nachholbedarf in Fragen der Gedenkstättenpädagogik habe.

Bevor ich den Kolonnenweg hinunter an die Werra fahre, bitte ich noch eine Frau, ein Foto von mir mit dem Fahrrad auf dem Kolonnenweg zu machen. Sie ruft ihren Mann herbei, der diese Aufgabe freudig übernimmt und mir en passant erzählt, dass er hier 1988/90 als Soldat der NVA-Truppen seinen Wehrdienst geleistet habe. Alles sei easy gewesen. Leider kann ich nicht länger mit ihm sprechen. Die betagte Schwiegermutter wartet und drängt ihn weiter zu fahren …

Zwischen Wahlhausen und Lindewerra sehe ich vier ‚ältere Semester‘, die auch mit dem Fahrrad unterwegs sind und in einer kleinen Schutzhütte lautstark knobeln. Anhalten und mit meiner großen Wasserflasche nichts wie hin, gefragt, ob ich mich dazu setzen könne. Der Knobelbecher kracht auf den Holztisch. Hallesche Macke heißt das Spiel, das ich nicht kenne. Als ich merke, dass einer der Radler Henner heißt, frage ich nach, wer es ist und wir kommen ins Gespräch. „Wo kommt ihr her?“ – „Aus Heiligenstadt“. Ich sage: „Das darf doch nicht wahr sein!“ – „Doch. Und wo kommst du her?“ – „Ja, geboren bin ich in Heiligenstadt, aber mein Vater ist mit mir 1956 rübergemacht.“ „Ja, ich habe deinen Großvater gekannt. Försterhaus, oben am Holzweg.“ –  Es ist schon erstaunlich, dass das Schicksal meines Großvaters  auch nahezu nach 60 Jahren noch in den Köpfen der älteren Generation haften geblieben ist –  der Jüngste der Radler ist 76 Jahre alt.

Ich frage mich, wieso ich gerade diese Sportskameraden, die einer Gruppe von rüstigen Rentnern angehören und schon vor der Wende, unabhängig von der politischen Gesinnung – Katholiken, Kommunisten und Parteilose – gemeinsam Sport betrieben haben, hier zu diesem Zeitpunkt antreffe. Zieht eigentlich irgendjemand oder irgendetwas „da oben“ die Fäden? Ist es vorherbestimmt, wen wir in unserem Leben zu einem bestimmten Zeitpunkt treffen? Wir verabreden uns in Lindewerra in der Gaststätte und ich lasse sie einfach mal vorfahren.

Lindewerra 2018 strömt so viel Normalität aus. Eine Idylle, die mir fremd ist und die ich mit diesem Ort gar nicht verbinde. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie ich manchmal sonntags mit meinem Vater auf dem Motorrad nach Lindewerra gefahren bin. Die Brücke war damals gesprengt, nur zum Rüberschauen über den Fluß und ein vorsichtiges und schnelles Zuwinken, gedacht für eine Frau, die in ihrem Obstgarten so tat, als habe sie da etwas zu tun. Mein Vater bat sie, schöne Grüße in Heiligenstadt bei meiner Großmutter auszurichten. Und schon war die Frau wieder verschwunden. Die Bewohner/innen der 500 m-Sperrzone mussten besonders aufpassen, dass sie nicht als politisch unzuverlässig galten. Es war etwas Beklemmendes, Ohnmächtiges, Sehnsuchtvolles, Nicht-zu-Änderndes, das ich in Erinnerung hatte.

Als ich mit meinen Fotoaufnahmen fertig bin, kehre ich in die nächste Gaststätte ein, wo die vier schon wieder am Knobeln sind. Ich darf mich dazu setzen und bei der nächsten Runde mitspielen. Das sehe ich als besondere Ehre an. Hallesche Macke. Unisono haben alle thüringisches Rostbrätl mit Bratkartoffeln bestellt, ich schließe mich aus Solidarität an. Ebenso gebe ich eine Runde Bier aus, im selben Moment erscheint mir das aber etwas grenzwertig: Ich will ja nicht als reicher Wessi gelten. Irgendwie hat man mit mir wohl Mitleid: „Du kannst ja nichts dafür, dass du kein richtiger Ossi mehr bist, warst ja zu klein und war ja die Entscheidung deines Vaters mit dir abzuhauen„. Es ist immer eine Gratwanderung. Ich habe zwei Pluspunkte: Ich bin geborener Heiligenstädter und nicht ein nach dem Krieg Zugezogener wie einer der vier Radler.Außerdem habe ich einen breitgefächerten Lebenslauf, inklusive Fernfahrer- und Lagerarbeitererfahrung. So geht es mir im ganzen Eichsfeld. Geboren in Heiligenstadt ist ein kleiner ‚Adelstitel‘ und das Schicksal meines Großvaters erleichtert mir oft, mit den Menschen in Kontakt zu kommen und offene Gespräche führen zu können.

Lindewerra war noch zu Zeiten der DDR eine Hochburg der Stockmacher. Im Hinterrraum der Gaststätte befindet sich eine kleine Werkstatt, wo noch produziert wird. Es ist Freitagnachmittag und der Stockmacher erklärt mir freundlich, wie die Arbeitsschritte ablaufen. Im Augenblick werde aber nur in Lohnarbeit Holzknaufe in schwarze Farbe getaucht und so lackiert. Es riecht schon merklich nach Farbe in der Werkstatt

Auf den letzten Metern des Anstiegs zur  Burgruine Hanstein treffe ich den Wanderer, mit dem ich morgens in Sickenberg noch gefrühstückt habe. Er rät mir unbedingt mit dem Fahrrad zur Teufelskanzel durch den Wald zu fahren. Von Hann. Münden kommend, wollte ich in meiner Jugend immer auf den Hanstein, was jedoch ausgeschlossen war, weil diese gewaltige Burgruine, im übrigen der Stammsitz des Rennfahrers Huschke von Hanstein, im Sperrgebiet lag. Am vergangenen Wochenende fand gerade ein Mittelalterfest dort statt. Über Stock und Stein fahre ich entlang den Klippen zur Teufelskanzel, genieße die Waffel mit Eis und den gut schmeckenden Milchkaffee. Natürlich mache ich wie immer an schönen Aussichtspunkten ein paar Fotos, diesmal auf den Klippen der Teufelskanzel mit herrlichem Blick auf das friedliche Werratal.

Es ist mittlerweile sech Uhr. Ich merke immer noch die zwei Bier, die ich mit der Rad-Veteranen-Gruppe aus Heiligenstadt getrunken habe. Sie machen mich etwas unvorsichtig und lassen mich unbesorgt sein. Trotzdem – ich merke ich so langsam, dass es Zeit wird eine Unterkunft zu besorgen. Damit fängt das Drama an. In Bornhagen in einer Privatpension die Frau nicht angetroffen. Im Klausenhof nur der weiblichen Malgruppe aus dem Marcel-Callo-Haus in Heiligenstadt begegnet. Der Wirt jedoch schaut mich kritisch an und hat kein Zimmer mehr frei. Geht er etwa davon aus, dass ich ein Journalist bin und etwas über den AFD-Politiker Björn Höcke herauskriegen möchte, der einen Steinwurf entfernt mit seiner Familie im ehemaligen Pfarrhaus wohnt?

Mit dem Fahrrad weiter. Hohengandern nichts. „Vielleicht in der Pension Eic?„, rät mir ein junges Ehepaar mit Kind. Dort angekommen, sehe ich ein Schild: „Pension geöffnet erst ab 20.00 Uhr. Swinger-Club: 20.00 – 04.00 Uhr„. Na ja, öfter mal was Neues. Ich fahre weiter nach Arenshausen und frage mich durch. Das Handy hat mal wieder keinen Empfang. Wie war das mit dem Internet an jeder Milchkanne? Ich soll es im Westen versuchen, in der Nähe von Göttingen. Bergauf! In Rustenfelde nichts. Mittlerweile fahre ich mit dem schwachen Eco-Gang die Berge hoch. Der Akku ist fast leer. In Rohrberg komme ich fast auf der letzten Rille an. Zwei Frauen, Mutter und Tochter, versuchen gerade aus dem Schutt eines Abrisshauses ein schönes, altes Holzfenster ‚zu retten‘.

Nein, hier in Rohrberg gibt es nichts. Kommen Sie aber mal mit, wir rufen für Sie an und fragen nach.“ Ich schiebe mein Rad hinterher und werde von den Nachbarn kritisch beäugt. Und die Tochter mittleren Alters schafft es nach einigen Telefonaten schließlich: Im niedersächsischen Bremke, ca. 6 Kilometer entfernt, gibt es in einem Gasthaus noch ein Zimmer für mich. Die Kooperation zwischen Ost und West, zwischen Thüringen und Niedersachsen, scheint nach 30 Jahren doch gut zu funktionieren. Ich könnte den beiden um den Hals fallen – tue es aber nicht – und verabschiede mich mit mehrfachem Dank. „ Wenn wir nichts für Sie gefunden hätten, hätten Sie auch bei uns im Gästezimmer bleiben können. Ich werde gefragt, wo ich herkomme und wohin ich will. Krönender Höhepunkt: Die ältere Dame kennt natürlich das Schicksal meines Großvaters und mit meiner Tante Rosemarie hat sie auch mal zusammen geabeitet. Was soll ich davon halten, dass gerade diese beiden Menschen mir aus der Patsche geholfen haben? – Der Akku ist auch wieder etwas aufgeladen.

Der Rest des Tages ist schnell erzählt. Einmal noch berghoch. Über die Grenze und dann nur noch bergrunter und geradeaus. Gasthof ‚Mutter Jütte‘ in Bremke. Sauberes Einzelzimmer im Stile der 80er und 90er Jahre. Und ein wundervolll schmackhaftes, zartes Wildgulasch mit Bratkartoffeln. Ich bin sooo dankbar, dass mir nette, liebe Menschen geholfen haben!